Über christliche Mönche ist
das antisemitische Stereotyp vom jüdischen Ritualmord Mitte des 19.
Jahrhunderts in die arabische Welt gekommen, wo es bisweilen heute noch
reproduziert wird. Vor diesem Hintergrund schrieb der liberale irakische
Kolumnist Khalid Al-Qishtaini einen Kommentar in der arabischen
Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat über seine Kindheitserinnerung an die
Begegnung mit einem älteren irakischen Juden aus der Nachbarschaft.
Als Kind wurden Al-Qishtaini
Geschichten erzählt, nach denen Juden nicht-jüdische Kinder umbringen
würden, um ihr Blut für religiöse Rituale zu verwenden. Im Folgenden
dokumentieren wir seinen Artikel, der am 14. 4. 2005 unter dem Titel
"Der alte Jude und ich" erschien:
"Während der Antisemitismus in
Europa grassierte, war er in der islamischen Welt so gut wie unbekannt –
bis zum Erscheinen des Zionismus natürlich. Er konzentrierte sich also
im Westen, bis ein Stück von ihm auch in unsere Welt vordrang. Einer der
Erscheinungsformen des Antisemitismus war der Glaube daran, dass Juden
an ihren Feiertagen [nicht-jüdische] Kinder entführten und ermordeten,
um deren Blut für ihre Rituale zu verwenden. Die Araber kannten diese
[europäischen Vorstellungen] nicht, bis im 19. Jahrhundert in Damaskus
ein muslimischer Junge verschwand. Es kursierte das Gerücht, Juden
hätten ihn zum Zweck [des Ritualmordes] entführt. Daraufhin überfielen
die Leute abscheulicherweise das jüdische Viertel – bis sich
herausstellte, dass ein europäischer Missionar das Gerücht in die Welt
gesetzt hatte. Trotzdem hörten wir als Kinder immer wieder von dem
Gerücht, so dass es sich bei uns festsetzte.
Als Junge liebte ich es, durch
die christlichen und jüdischen Quartiere in der Al-Rashid-Straße zu
laufen. [Eines Tages] fand ich mich plötzlich auf dem Hanoun-Markt
mitten im jüdischen Viertel wieder. Da ging eine Tür auf und ein älterer
weißhaariger Mann mit einem langen weißen Bart kam heraus .... Wenn ich
einen Film über Zechariah, Luqman [ein für seine Weisheit bekannter
Verwandter von Hiob] oder Noah drehen würde, hätte ich keinen besseren
Darsteller für diese Rolle finden können.
Er hob seine Hand, winkte mir
zu und forderte mich auf, zu ihm zu kommen. Ich war voller Angst, konnte
aber dem Zauber nicht widerstehen, der von seinen Fingern ausging. Sie
zogen mich zu ihm wie ein Magnet. Er öffnete die Tür und forderte mich
auf, einzutreten. Ich konnte nichts anderes tun als ihm zu gehorchen und
an seiner Hand führte er mich hinein. Ich fragte mich, ob mein Ende nun
gekommen war und wünschte mir, den Raum nie betreten zu haben! Warum war
ich nicht geflüchtet und zurück zu meiner Familie gelaufen?
Er fragte nach meinem Namen und
ich antwortete [Khaled]. Da sagte er: 'Oh Wunder über Wunder. Du heißt
Khaled - wie der [muslimische Kommandeur] Khaled bin Al-Walid. Und wo
wohnst Du? Wie alt bist Du?' Ich sagte mir: 'Das fragt er mich, um
sicher zu gehen, dass mein Blut auch für seine Zwecke geeignet ist.' Er
legte mir die Hand auf den Kopf und fragte: 'Khaled, mein Sohn, weißt Du
wie man Feuer macht?' Eine neue Panikwelle erfasste mich: 'Will er mich
etwa über dem Feuer rösten?' Er sagte: 'Zeig mir wie Du ein Feuer im
Ofen anzündest.' Ich nahm ein Zündholz und mit zittrigen Händen
entfachte ich die Flammen.
Da küsste mich der Mann, der
einer dieser Leute der Tora, des Talmud und der Mishna war, auf den Kopf
and führte mich in einen Raum, in dem ein alter Geschirrschrank stand.
Er öffnete eine Schublade, nahm Schokolade heraus und steckte sie mir in
die Tasche. Ich war vollkommen verblüfft. Er aber führte mich zur Tür,
öffnete sie und verabschiedete sich, indem er mir seinen Segen gab und
mir ein langes Leben wünschte. 'Und grüße Deinen Vater von mir', fügte
er hinzu.
Ich eilte nach Hause wie
jemand, der aus einem seltsamen Traum erwacht ist. Ich erzählte meinem
Vater und meinen Brüdern die Geschichte. Sie aber lachten mich aus und
riefen: 'Es ist doch Sabbat. Und da ist es den Juden verboten, Feuer zu
machen. Der arme alte Mann hatte Durst und wollte eine Tasse Tee
trinken.'
Wir teilten uns die Schokolade
und ich verbrachte den Rest der Woche damit, die Tage bis zum nächsten
Sabbat zu zählen - und dann wieder bis zum nächsten und dem
übernächsten. Jeden Sabbat ging ich die Gasse in der Hoffnung entlang,
den alten weißhaarigen Mann zu treffen. Ich würde ihm seinen Ofen
anheizen und er würde mir meine Taschen mit Schokolade füllen. Aber die
Tür öffnete sich nicht und das alte aus biblischen Zeiten zu stammen
scheinende Gesicht erschien nie wieder. Neulich dachte ich schon, ob ich
nicht an die Tür klopfen und fragen sollte: 'Mein Onkel, Abu Sassun,
brauchst Du nicht jemanden, der Deinen Ofen anzündet?'"
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