England:
Kriegserklärung an die Gypsys
Die britische
Boulevardpresse führt eine Kampagne gegen Gypsys und schafft ein mögliches
Thema für die Wahlen im Mai.
Von Matthias Becker, London
Jungle World 12 v.
23.03.2005
Anfang März begann die größte englische
Boulevardzeitung The Sun eine Kampagne gegen die in Großbritannien lebenden
Roma. Unter dem Motto "Stoppt die Invasion der Gypsys!" begann sie
Unterschriften zu sammeln, die ihre Leser an den stellvertretenden
Innenminister, John Prescott, schicken sollten. In dem Vordruck heißt es:
"Ich verlange, dass Menschenrechtsvereinbarungen abgeschafft werden, die den
Gypsys Straffreiheit und Privilegien einräumen, die hart arbeitende Menschen
in diesem Land nicht genießen."
Um dem Vorwurf des Rassismus vorzubeugen,
setzt die Sun auf eine bewährte Strategie. In beinahe jedem Artikel werden
einzelne Roma als positive Beispiele angeführt, die sich als scharfe
Kritiker anderer Nichtsesshafter hervortun. Andererseits gibt die Redaktion
ihrer Kampagne eine extrem aggressive Färbung. "Stamp on the Camps!" (etwa:
"Zerstampft die Lager!") lautete die Überschrift ihres ersten Artikels zum
Thema. Mehrere Vertreter von Gypsy-Organisationen erstatteten vor einer
Woche Strafanzeige wegen "Aufstachelung zum Rassenhass" gegen die Redaktion,
die ihre Kampagne selbst als einen "Krieg" bezeichnet.
Immer häufiger berichtet die Zeitung über
angebliche Skandale auf den Lagerplätzen, während sie den etablierten
Politikern Untätigkeit vorwirft. Ihre jüngste Aufsehen erregende Aktion war,
die Toleranz des stellvertretenden Innenministers John Prescott zu testen,
indem sie ein Gypsy-Lager inklusive Wohnwagen, Grills und Abfallhaufen in
dessen Straße aufbauen ließ. Mit der populistischen Aktion sollte der
Politiker der Doppelmoral überführt werden.
Nach Angaben der Zeitung haben bisher über 10
000 Leser an der Unterschriftensammlung teilgenommen. Besonderes Hassobjekt
der Sun und ihrer Leser sind die Europäischen Menschenrechtsvereinbarungen,
die die Räumungen von Gypsy-Siedlungen verhinderten. Eine Familie hat
kürzlich gegen ihre Räumung geklagt und sich dabei auf die Europäische
Menschenrechtskonvention berufen.
Hintergrund der Kampagne ist eine
Pressemitteilung der Regierung vom Februar, in der sie von den Gemeinden
"konkrete Aktionen bezüglich der Lagerplätze" forderte, um die
Diskriminierung der Gypsys zu beenden. In einer wohl dosierten Mischung aus
Integration und Repression sollen einerseits mehr Plätze zum Kauf für Gypsys
ausgeschrieben, andererseits illegale Besetzungen effektiver bekämpft
werden.
Besetzungen sind für die umherziehenden
Gypsys oft die einzige Möglichkeit, einen Platz zum Verweilen zu bekommen.
Die Behörden sprechen nach einer Besetzung meist eine Duldung aus, während
sie Anträge von fahrenden Leuten auf Lagerplätze zumeist ablehnen. Im
Februar ordnete Prescott an, dass der Ort Brescott in Essex Land für Gypsys
zur Verfügung stellen müsse, gegen Bezahlung wohlgemerkt. Die konservative
Partei sprach daraufhin von einer "diktatorischen Maßnahme" und will sich
als Schutzpatron der Landbevölkerung profilieren. Von den Gypsys selbst
meldet sich in der Debatte niemand zu Wort, unterdessen streiten die
Vertreter von Menschenrechtsorganisationen mit Konservativen.
Andere Boulevardblätter haben das Thema
mittlerweile aufgegriffen. John Wilson von der Wohlfahrtsorganisation Novas,
die sich vor allem um Obdachlose kümmert, nennt die Kampagne "völlig
fehlgeleitet". "Immer noch sind die Gypsys eine unterprivilegierte Gruppe.
Das Land, das die Gemeinden ihnen zuweisen, liegt oft direkt neben
Müllhalden."
Die Konservativen, die verzweifelt nach einem
zugkräftigen Thema für die im Mai anstehenden Parlamentswahlen suchen,
kritisieren die Regierungsinitiative. Ihr Vorsitzender, Michael Howard,
forderte auf der letzten Parteikonferenz in Brighton im März, scharf gegen
die illegalen Ansiedlungen vorzugehen. Er verlangte außerdem, Obergrenzen
für die Einwanderung festzulegen. Andrew Ryder von der Gypsy and Traveller
Law Reform Coalition kritisiert sowohl Labour als auch die Boulevardpresse.
"Jahrzehntelang wurden wir diskriminiert. Wir haben es satt, herumgeschubst
zu werden."
Etwa 250 000 Menschen leben heute als
Fahrende in Großbritannien. Einige davon sind Gypsys, also ursprünglich aus
Europa eingewanderte Roma, andere sind Traveller, eine aus irischen und
britischen Unterschichten entstandene nomadische Gruppe. Seit den sechziger
Jahren führen auch verschiedene Subkulturen ein Leben im Wagen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben britische
Regierungen immer wieder versucht, die fahrenden Gruppen sesshaft zu machen.
Als in den neunziger Jahren die so genannten new age travellers für Hysterie
sorgten, erließ die konservative Regierung das Criminal Justice Gesetz, mit
dem auch das kurzfristige Verweilen auf fremdem Landbesitz unter schwere
Strafen gestellt werden kann. Unter anderem deshalb fehlen heute nach
offiziellen Schätzungen Plätze für etwa 4 500 Gypsys. Die ländlichen
Gemeinden in England wehren sich oft mit allen Mitteln gegen die Ansiedlung
von Gypsys. Andererseits wächst der ökonomische Zwang, sich niederzulassen,
weil traditionelle Verdienstmöglichkeiten, etwa als Erntearbeiter in der
Landwirtschaft, seltener werden.
Aller Voraussicht nach wird der Wahlkampf
einerseits von dem Thema Immigration, andererseits von
Steuersenkungsprogrammen bestimmt werden. Die Konservativen suchen noch nach
einem Thema, um die Regierung unter Druck zu setzen. Weil aber New Labour
die Wirtschafts-, Sicherheits- und Außenpolitik besetzen konnte, bleibt nur
die populäre Forderung nach Steuersenkungen. Und das Thema der Gypsys.
Mit Spannung wird auch das Abschneiden der
rechtsextremen British National Party erwartet, die zwar bei den
Europawahlen im vergangenen Jahr nur lokale Erfolge erzielen konnte, deren
Forderung nach "Rückführung" von Einwanderern aber die Stimmung großer Teile
der Bevölkerung treffen könnte.
Links von Labour herrscht Ratlosigkeit.
Anscheinend hat sich ein Großteil der Briten mit der andauernden Besetzung
des Irak abgefunden, obwohl die Truppenstärke der Briten nach einem
möglichen Abzug der Italiener noch erhöht werden dürfte. Die
Friedensbewegung organisiert zwar immer noch Demonstrationen, um "die
Truppen nach Hause zu holen", kann aber längst nicht mehr an ihre
Mobilisierungserfolge im vergangenen Jahr anschließen. Für die Situation der
Gypsys scheint sich in der Linken niemand zu interessieren.
hagalil.com
04-04-2005 |