Vergangenheit und Gegenwart:
Völkermord an Armeniern
Von Haydar Isik
Da ich Alevit bin und wir in unserem Gebiet keine Moschee
hatten, habe ich in meiner Kindheit mit Bewunderung die Ruinen der
armenischen Kirchen betrachtet. Obwohl die Wände der Kirchen eingefallen
waren, blieben die Kuppeln auf den Säulen, auf denen die wunderbaren Bilder
noch zu sehen waren. Meine Geburtsstadt hieß in kurdischer Sprache
"Kizilkilise", Rote Kirche. Aber wie alle kurdischen Namen wurde auch
Kizilkilise in türkisch Nazimiye umbenannt.
Meine Kindheit wurde von zwei Ereignissen geprägt. Zum einen
war dies das Dersim Massaker, das noch sehr frisch und sehr leidvoll war, da
es 1937/38 stattfand und in dem 70.000 Kurden von der türkischen Armee
umgebracht wurden. Das zweite war der Armenier-Genozid, der von der
türkischen Armee in den Jahren 1915-16 durchgeführt wurde und wo sowohl ein
und halb Millionen Armenier als auch eine halbe Million Assyrer ausgerottet
worden waren.
In den Wintermonaten habe ich von den Menschen in meinem
Geburtsort oft von diesen zwei Ereignissen gehört. Man weinte um das
leidvolle Schicksal der armenischen Nachbarn. Um in Anatolien ein Volk, eine
Nation, einen Staat, einen sunnitischen Glauben zu ermöglichen, wollte das
türkische Regime eindeutig erst die Armenier und Assyrer aus der Welt
schaffen, dann die Kurden.
General Kazim Karabekir, der gegen die Armenischen und
Assyrischen Völker in den Krieg zog, sagte: "Bu yandan zo zo lari, dönünce
de lo lo larin isini bitirecegiz." Das heißt, wir werden beim Einmarsch nach
Osten die Armenier, auf dem Rückweg die Kurden ausrotten.
Somit möchte ich ganz klar sagen, dass es immer eine
strategische Staatsideologie der Türkei gewesen war, erst die christlichen
Völker, Armenier, Assyrer, und Griechen aus der Türkei zu schaffen und die
Türkei zu einem islamistischen Staat zu machen, dann das zurückbleibende
nicht türkische Volk, die Kurden mit ihrem Genozid und Ethnozid aus dem Weg
zu schaffen.
Um diese Politik durchzuführen, haben die türkischen
Machthaber immer die Völker gegeneinander ausgespielt, tiefen Hass und große
Gräben zwischen den Völkern verursacht, die Feindseligkeit geschürt. Damit
waren die kurdischen Feudalherren für diese türkische Politik ein sehr
willkommenes Werkzeug gewesen und sind es heute noch.
Deshalb hat das türkische Regime in Nordkurdistan manche
sunnitischen Stämme, die unmittelbar bei Armeniern und Assyrern in
Mesopotamien wohnten, für ihre Sache genutzt. Diese Aschirets (Stämme) waren
nur in dem Gebiet Van, Urfa, Agri; Mus und Bingöl gewesen und sie hießen
Hasenen , Cibran, Zirkan, Sipkan, Zilan, Milan usw. Diese Aschirets stellen
nur eine Minderheit der Kurden, das Regime hat weder die Zusammenarbeit mit
alevitischen Kurden noch ezidischen und noch vielen anderen sunnitischen
Kurden erhalten können.
Diese Aschirets wurden gegen Christen scharf gemacht und sie
haben im Namen des türkischen Staates und Islam getötet. Wir, die heutigen
Kurden sehen dieses Massaker an Armeniern als ein Schande für das kurdische
Volk. Ich schäme mich, dass die Kurden ihre Nachbarn in dieser Weise
barbarisch umgebracht haben.
Im Schatten des I. Weltkrieges haben die Türken unter den
Paschas Enver, Talat und Cemal mit Billigung und Wissen Deutschlands das
Christenpogrom in Anatolien und Mesopotamien vor den Augen der Welt
organisiert. Es war der erste Völkermord in der Menschheitsgeschichte, der
genau geplant und durchgeführt worden war.
Aber man muß auch die Kehrseite der Medaille betrachten.
Diese Lumpenbrigaden, die die Türkei aus 36 kurdischen Stämmen rekrutiert
hatte, sollten nach dem Massaker an den christlichen Völkern auch gegen
alevitische und ezidische (nicht moslemische) Kurden eingesetzt werden. Die
Regimenter wurden ausschließlich aus den sunnitischen Stämmen in
Nordkurdistan gebildet.
Dies bedeutet, dass das jungtürkische Regime (Ittihat
Terakki) damit auf eine Spaltung innerhalb der Kurden hinarbeitete, um sie
nach dem Prinzip "Teile und Herrsche" Politik, besser gegeneinander
ausspielen zu können. Dadurch wurde zwischen sunnitischen und alevitischen
Kurden eine bis heute anhaltende, unüberwindbare Feindschaft verursacht.
Die Hamidiye regimenter wurden wie die Dorfschützer von heute
gegen die Kurden instrumentalisiert. Durch die Bildung solcher Regimenter
wurde auch die Entstehung des kurdischen Unabhängigkeitsbewußtseins
verhindert. Dieses Faktum egal ob gegen Armenier oder Assyrer oder aber
gegen Kurden selbst gerichtet, bleibt ein Schandfleck der kurdischen
Geschichte.
Jenen Bandit, kurdischer Abstammung, der gestern Armenische
Dörfer überfiel und Menschen tötete, hält heute nichts zurück, um
seinesgleichen zu töten. Ohne Zweifel wird man sich fragen, ob jemand, weil
andere es wollen, Menschen töten kann?
Ja, die Geschichte der Menschheit ist voll von solchen
Geschehnissen. Erst vor etwa 50 Jahren ließ der deutsche Faschismus das
jüdische Volk auf industrielle Art vernichten. Dieser Anschauung nach waren
die Opfer daran schuldig! Darin beruft Hitler sich auf die Kemalisten, jenen
Meister des Genozides an den Armeniern und Assyrern, und sagte etwa: Die
Kemalisten haben die Armenier massakriert, die Welt hat zugesehen. Wenn ich
die Juden massakriere, wer wird dagegen etwas sagen?
Auf dieser Grundlage vollzog er den zweigrößten Genozid des
zwanzigsten Jahrhunderts.
Der türkische Staat bringt heute die Kurden dazu ihre
Landsleute zu bekämpfen. Wie früher die Hamidiye Brigaden so wurden heute zu
Tage Korucu-Dorfschützer Banden gegründet, deren Zahl auf über 100.000
hinausläuft. Sie kämpfen gegen die kurdische Befreiungsbewegung, die
Guerilla, die ebenfalls Kurden sind, und für Freiheit und Wohlergehen
kämpfen und zu allen erdenklichen Opfern bereit sind und dafür in den Bergen
ihr Leben lassen.
Die Mentalität, welche gestern Armenier und Assyrer
massakrierte, läßt heute Kurden massakrieren.
Die Kurden in Dersim haben trotz Druck der Türken die
Armenier, die in ihrem Gebiet lebten, nicht ausgeliefert sondern beschützt.
Dieser Schutz der Armenier kam den Kurden von Dersim später teuer zu stehen,
da die Unterwerfung von Dersim im Jahre 1937/38 eine Strafexpedition des
türkischen Staates war.
Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat. Dort leben Türken,
Kurden, Armenier, Assyrer und andere Minderheiten. Obwohl die Türkei fast
alle internatonalen Abkommen sowie
- die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
- die Europäische Konvention zur Erhaltung der Menschenrechte
- die KSZE Schlußakte, in der Gleichheit der Rechte der Völker und ihr
Selbstbestimmungsrecht und für jeden das Recht auf Ausbildung in der eigenen
Muttersprache anerkannt wird,
unterschrieben hatte, verletzt sie tagtäglich die Menschenrechte. Und sie
will mit diesem Zeugnis in die EU kommen.
Das Armenische Volk wurde durch die Politik der Türkei in
Anatolien ausgerottet. Wir, die Kurden möchten mit unseren Nachbarn,
Armeniern, Assyrern und Türken friedlich zusammenleben. Wir wünschen ein
Land, in dem der Laut der Kirchenglocke und der Ruf des Muezzin
nebeneinander sind.
Wir sind nicht mehr die Kurden, die das Werkzeug der Türkei
sind und ihre christlichen Nachbarn ausrotten. Wir schämen uns und möchten
deshalb alles gut machen.
www.haydar-isik.com
hagalil.com 14-04-2005 |