Unschuld
vom Lande:
Österreich als Opfer und Friedensmacht
Von Stephan Grigat
Dem
Diktum Max Horkheimers, wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch
vom Faschismus schweigen, ist wohl niemand so konsequent gefolgt wie die
Österreicher. Sie haben lange Zeit weder von dem einen noch von dem anderen
gesprochen. Während eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
allein schon der Eigenstilisierung zum Opfer wegen nicht ganz zu umgehen war
und deshalb gerade in der jüngsten Vergangenheit zwar keineswegs ernsthaft,
dafür aber um so redseliger betrieben wurde, ist über die Zeit des
Austrofaschismus ein Mantel des Schweigens gebreitet worden, der alljährlich
nur am 12. Februar durchbrochen wird.
An diesem Datum wird der Kämpfe gedacht, in denen Bundesheer und Heimwehren
1934 mit militärischen Mitteln der organisierten Arbeiterbewegung ein Ende
setzten. Doch dienen diese Gedenkveranstaltungen, wie beim fünfzigsten
Jahrestag 2004 abermals deutlich wurde, keineswegs der Vergegenwärtigung
einer wichtigen Etappe im Konstituierungsprozess des Faschismus. Vielmehr
wird mit dem Hinweis auf die ‚politischen Wirren’ der 30er Jahre die
‚nationale Einheit’ Österreichs beschworen.
Zweifellos handelt es sich bei Österreich um ein postnazistisches Land. Doch
die postnazistische Normalität der Gesellschaft ist nicht die gleiche wie in
der BRD. Österreich ist jenes Land, in dem es die Bevölkerung in
Komplizenschaft mit der Regierung geschafft hat, die ehemalige Gemeinschaft
raubender und mordender Volksgenossen nach 1945 gleichzeitig hinter sich zu
lassen und in die postfaschistische Demokratie hinüberzuretten, indem man
sich erfolgreich als Opfergemeinschaft gerierte. Die Österreicher waren die
ersten Täter, die zu Opfern mutierten. Die Transformation der
NS-Gefolgschaft in ein Opferkollektiv, wie man sie in Deutschland in
verstärktem Ausmaß seit der Wiedervereinigung beobachten kann, ist in
Österreich seit 1945 Realität. Und zwar mit einer sehr viel konsequenteren
Begründung: Die Österreicher waren in ihrer Selbstsicht nicht nur Opfer der
alliierten Kriegshandlungen, sondern schlicht und einfach Opfer der Nazis.
Max Horkheimer notierte Mitte der 60er Jahre: "Das Schuldbekenntnis der
Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses
Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode
hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache." In Österreich gab
es dieses von Horkheimer treffend eingeschätzte Schuldbekenntnis bis in die
90er Jahre überhaupt nicht. Das durch den gemeinsam begangenen Massenmord an
den Juden und durch den Vernichtungskrieg im Osten zementierte Wir-Gefühl
aus der NS-Volksgemeinschaft musste in Österreich durch die Uminterpretation
der Tätergemeinschaft in ein Opferkollektiv in die postnazistische
Demokratie integriert und hinübergerettet werden.
Im
Gegenzug zur Erklärung der "immerwährenden Neutralität", die vor allem von
der Sowjetunion eingefordert wurde, ließen sich die Sieger des Zweiten
Weltkriegs darauf ein, die Lüge, die Österreicher seien nicht Täter, sondern
die ersten Opfer des nationalsozialistischen Expansionsstrebens gewesen, den
Rang einer geschichtlichen Tatsache zuzuweisen. Dieses Zugeständnis
mildernder Umstände haben die Österreicher den Alliierten jedoch nicht
gedankt. Noch vor der Entlassung in die neutrale Selbständigkeit versuchte
die österreichische Führung den schwachen Österreich-Nationalismus mittels
Agitation gegen die bis 1955 im Land befindlichen alliierten Truppen zu
kultivieren. Entsprechend dieser Entstehungsgeschichte des staatstragenden
Nationalismus der Zweiten Republik wird heute die Zeit der Besatzung in
Österreich gerne auf 17 Jahre hochgerechnet. Die eigentliche Befreiung habe
also nicht 1945, sondern erst 1955 stattgefunden. Bei den aktuellen
Jubiläumsfeierlichkeiten ist von 1945 als Jahr der Befreiung vom
Nationalsozialismus ohnehin kaum die Rede, sondern nur von der
Republiksgründung im April desselben Jahres – zu einer Zeit, als noch
jüdische Zwangsarbeiter durch österreichische Dörfer getrieben und ermordet
wurden, was selbstverständlich keine Erwähnung findet.
Mit der Verklärung Österreichs zum ersten Opfer des Nationalsozialismus ging
eine Ausbürgerung des Antisemitismus einher. Der offiziellen Lesart zufolge
war alles Übel mit den deutschen Truppen über Österreich hereingebrochen.
Das eindrucksvollste Dokument dieser Haltung ist die österreichische
Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, auf die sich die
Bundesregierung auch heute in ihrer offiziellen Broschüre zum Jubiläumsjahr
2005 positiv bezieht. Zur Legitimation des neuen Österreich wurde angeführt,
"daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft (einer)
völligen (...) Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk in
einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein
Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen
instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer
Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat."
Der erste Nachkriegsbürgermeister der
Antisemitenhochburg Wien, der Sozialist Theodor Körner, schrieb 1947: "Aus
Briefen und Zeitungsproben der letzten Zeit entnehmen wir, daß in einigen
Staaten in gewissen Kreisen die Meinung besteht, daß Österreich (...) noch
immer dem Antisemitismus verfallen sei. (...) Ein für allemal sei
festgestellt, daß es, außer den von den Nazis in der Zeit ihrer Herrschaft
über Österreich organisierten Ausschreitungen, in Wien Judenpogrome
überhaupt niemals gegeben hat. (...) denn der Wiener ist Weltbürger und
daher von vornherein kein Antisemit."
Während die antisemitische Tradition nach außen hin nicht thematisiert
wurde, wurde im Inneren nahtlos an eben diese Tradition angeschlossen. Mit
Leopold Kunschak wurde die Unabhängigkeitserklärung von einem der
schlimmsten christlich-sozialen antisemitischen Hetzer der
Zwischenkriegszeit unterzeichnet. Kunschak, der sich noch im Dezember 1945
auf einer Massenkundgebung rühmte, er sei schon immer Antisemit gewesen,
wurde zum ersten Präsidenten des Nationalrats gewählt und wird heute als
einer der Gründerväter der zweiten Republik verehrt.
Das beinahe fröhlich zur Schau gestellte Selbstmitleid lässt in Österreich
für die wahren Opfer der mordenden Volksgemeinschaft keinen Platz. Wird das
kollektiv begangene Verbrechen dennoch einmal öffentlich thematisiert, wie
im Zuge der Verhandlungen über Entschädigungszahlungen oder die Rückgabe so
genannten arisierten Eigentums, so setzt reflexartig jene "Reaktionsform des
nach außen Schlagens, sich ins Recht Setzens" ein, die von Adorno bereits in
den 50er Jahren als wesentlicher Bestandteil der Schuldabwehr analysiert
wurde. Es wird das gesamte Repertoire jenes spezifisch
österreichisch-deutschen sekundären Antisemitismus aktiviert, das in der BRD
beispielsweise aus der Diskussion über das Holocaust-Mahnmal oder der
Walser-Debatte bekannt ist.
Die zaghaften und halbherzigen Versuche zu Beginn der 90er Jahre, mittels
einer von Regierungsseite verlautbarten partiellen Kritik an der Opferthese
die staatlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu verbessern,
sind mit der ÖVP/FPÖ-Koalition nicht nur beendet, sondern wieder zunichte
gemacht worden. Kanzler Wolfgang Schüssel wiederholte bei einem
Israel-Besuch im Jahr 2000 die Einschätzung, nicht nur der souveräne
österreichische Staat, sondern auch die Österreicher seien "in der Tat die
ersten Opfer" des Naziregimes gewesen.
Auch wenn im offiziellen Programmheft zu den Feierlichkeiten auf "den
veränderten Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit" verwiesen wird,
scheint Österreich auch im Jahr 2005 den Anschluss an die modernisierte
Variante der Vergangenheitspolitik des großen deutschen Bruders noch nicht
vollständig hinzubekommen. Nach wie vor tendiert man zur Verleugnung und hat
noch nicht ganz begriffen, wie Erfolg versprechend ein offensives Bekenntnis
zu den eigenen Verbrechen sein kann, wenn man sie nur in den richtigen
Kontext stellt. Mit Sätzen wie dem folgenden aus der offiziellen
Jubiläumsbroschüre zeigt man sich diesbezüglich allerdings auch in
Österreich lernfähig: "Der Zweite Weltkrieg hatte über 25 Millionen Soldaten
den Tod gebracht, weitere 20 bis 30 Millionen Menschen haben als Opfer im
Holocaust, bei Luftangriffen, im Widerstand, bei Vergeltungsmaßnahmen und
auf der Flucht ihr Leben verloren." Derartiges sollte nicht als der
immergleiche Geschichtsrevisionismus von vorgestern missverstanden werden.
Solche Aussagen sind vielmehr im Zusammenhang mit Schüssels Versuchen zu
sehen, auch auf anderen Gebieten einen Gleichklang mit Schröder-Deutschland
hinzubekommen. Als angebliches erstes Opfer der Nazi-Aggression positioniert
sich Österreich im Jubiläumsjahr als Friedensmacht. Hatte sich schon vor und
während des Irakkriegs 2003 eine regelrechte Friedensvolksgemeinschaft in
der Alpenrepublik herausgebildet, so gedenkt man 2005 auch gleich noch 45
Jahre österreichischem Peace keeping. Als könnte man mittels des Abfeierns
eines abstrakten Pazifismus vergessen machen, dass die Gründung der Zweiten
Republik erst dadurch möglich wurde, dass die alliierte Militärmaschinerie
die Österreicher vom weiteren Vernichtungskrieg gegen die halbe Welt
abgehalten hat, wird auch die Vergabe des Friedensnobelpreises an Bertha von
Suttner vor 100 Jahren in das Gedenken miteinbezogen. Und der Kanzler,
dessen Partei zur bellizistischen Avantgarde bei der Vorbereitung des
Jugoslawienkriegs gehört hatte, bescheinigt in seiner Rede zum Auftakt des
Jubiläumsjahres dem "österreichischen Wesen", dass es "nach Harmonie, nach
Menschlichkeit und Augenmaß" dränge.
Zum endgültigen Anschluss an den kriegslüsternen Pazifismus und an den
modernisierten deutschen Opferdiskurs der Marke Schröder/Fischer, der ein
Leugnen der eigenen Verbrechen nicht mehr nötig hat und statt dessen die
Vorbereitung neuer Untaten mit den Mitteln der Gedenkkultur betreibt, wird
es aber auch in Österreich einer rot-grünen Koalition bedürfen.
Langfassung eines Beitrags, der redaktionell bearbeitet in der Nr. 11/2005
der "Jungle World"
erschienen ist.
Stephan Grigat ist Herausgeber des im ca ira-Verlag erschienenen Bandes "Transformation
des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen
Faschismus".
hagalil.com
18-03-2005 |