Auschwitz-Lüge, Gestapo-Methoden, Mischehe, Endlösung,
Ulbrichts KZ, gaskammervoll, Sippenhaft, Volksgerichtshof-Ton: Die deutsche
Sprache der Gegenwart ist noch voller Bezüge zum "Dritten Reich".
Düsseldorfer Germanisten untersuchen, wie es dazu kam. Ziel des
DFG-Projektes: ein Wörterbuch der deutschen "Vergangenheitsbewältigung".
Hans-Magnus Enzensberger kritisierte einmal, dass Arbeiter in
den Frankfurter Vorortzügen den Ausdruck "bis zur Vergasung" ganz naiv im
Sinne von "bis zum Umkippen" benutzten. Heinrich Böll beklagte, dass es in
der Öffentlichkeit keinen Aufschrei gäbe, wenn jemand das Wort "ausmerzen"
benutzt. Victor Klemperer, Autor posthum 1995 veröffentlichter Tagebücher,
in denen er sein Alltagsleben als rassisch verfolgter Philologe während des
Dritten Reiches und dessen Sprache ("Lingua Tertii Imperii") schildert, war
konsequent: Man sollte belastete Wörter vergraben wie schmutziges Geschirr
und nach einiger Zeit wieder hervorholen. Für Wörter, die
menschenverachtende Konzepte transportieren, müsse es jedenfalls eine Epoche
der Sensibilität geben. Schon der Publizist Hans Habe hatte unmittelbar nach
dem Krieg als US-Presseoffizier die Position vertreten, dass die Sprache
"mit schuldig" sei. Also müsse man auch sie konsequenterweise
entnazifizieren.
Aber ist das jemals geschehen? Bis heute führen
Schlüsselwörter, Begriffe, Bezeichnungen aus der Zeit des Dritten Reiches
ein seltsames Eigenleben. Hat sich ihre Bedeutung geändert, sind sie
instrumentalisiert worden? Von wem?
Am Lehrstuhl für deutsche Philologie und Linguistik geht eine
Wissenschaftlergruppe diesen Fragen nach. Im Rahmen eines DFG-Projektes über
zwei Jahre erstellen Dr. Thorsten Eitz, Katrin Berentzen und Reinhild
Frenking ein Wörterbuch der deutschen "Vergangenheitsbewältigung", in dem
sich so genannte "belastete" bzw. NS-spezifische Vokabeln und deren
Verwendung und Thematisierung, aber auch die öffentliche Diskussion über sie
von 1945 bis in die Gegenwart, in Artikelform zum Nachschlagen finden.
Geleitet wird die Arbeit an dem Lexikon von em. Prof. Dr. Georg Stötzel, der
bereits 2002 ein von der Kritik viel beachtetes und gelobtes
"Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" herausgab.
Stötzel: "Wir versuchen, eine Tradition von Wortuntersuchungen
aufzubauen, die es bisher nur zum Nazi-Wortschatz gab. In gewisser Weise
schließen wir an das Handbuch von 1998 zum Vokabular des Nationalsozialismus
von Cornelia Schmitz-Berning an, die übrigens lange Jahre Lehrbeauftragte
bei uns war. Seltsamerweise gibt es aber bis heute keine systematische
Aufarbeitung des Nazi-Vokabulars über 1945 hinaus."
Anhand von öffentlich als Nazi-Wortschatz deklariertem bzw.
instrumentalisiertem Vokabular wollen die Düsseldorfer Germanisten nun
"Wortkarrieren" und deren historische Zusammenhänge untersuchen, um zu
zeigen, wie nach 1945 sprachlich Bezug auf die NS-Zeit genommen wird. Und
Denkmodelle der NS-Ideologie reproduziert werden. Bewusst oder unbewusst.
Das Wort "Großraum" etwa findet immer noch Verwendung in Verkehrs- oder
Wettermeldungen. Ursprünglich wurde es im II. Weltkrieg für
Rundfunkdurchsagen über feindliche Bombenangriffe und Kampfhandlungen
("Abwehrschlacht im Großraum?") benutzt.
Grundlagen der Recherche sind Texte in Zeitungen,
Zeitschriften, Politmagazinen, Fachliteratur, Gerichts- und
Bundestagsprotokolle. Zunächst wird eine Art Lexikon von ca. 150 Wörtern der
Gegenwartssprache erarbeitet, die Bezug zum Dritten Reich haben. Dann wird
ihre Wortgeschichte verfolgt.
Beispiele: Abendland, Anschluss, artfremd, Auslese, Ausmerzung,
Befreiung (vs. Niederlage), Behinderte, durchrasst (vs. multikulturell),
Endlösung, Elite (vs. Auslese), Gestapo-Methoden, Gleichschaltung, Goebbels
der Sowjetzone, Holocaust, Invasion (vs. Landung der Alliierten),
Konzentrationslager, Machtergreifung/ -übernahme/ -übergabe, Mischehe,
Selektion, Kristallnacht, Wehrmacht/Bundeswehr usw.
Ziel ist zum einen eine empirisch-verlässliche Untersuchung.
Stötzel: "Dann wollen wir natürlich auch die These vom 'Weiterwirken des
gedanklichen Gifts der Vokabeln' prüfen. Es muss sichtbar werden, wer wann
in welchem Zusammenhang welche Vokabel verwendet hat. Drittes Projektziel
ist es dann, eine Geschichte der Nazi-Vergleiche mithilfe der Vokabelliste
zu konzipieren."
Bisherige Studien jedenfalls zeigten, dass die Geschichte der
Vergleiche schon sehr früh beginnt. Da ist bereits in der unmittelbaren
Nachkriegszeit in West-Zeitungen von der "Machtergreifung der SED" die Rede,
von der "roten Diktatur", von der DDR als "Ulbrichts KZ". Die Düsseldorfer
Germanisten wollen hier erst einmal erfassen: Ab wann tauchen welche
Vergleiche auf? Mit welchen Intentionen werden sie aufgestellt? Wer will wen
diffamieren? Stötzel: "Und schließlich wird es interessant sein
herauszufinden, ob es Konkurrenz-Vergleiche, also konkurrierende
Bildspenderbereiche gibt, etwa 'ökologischer Holocaust' versus 'ökologisches
Hiroshima'."
Wortgeschichte als Zeitgeschichte. Besonders zu Jahrestagen
sind die Quellen ergiebig. Dann ist die Öffentlichkeit über die Medien meist
hoch sensibilisiert, die Emotionen schlagen hoch. Wie berichten die
Zeitungen zum Beispiel mit den Jahren über den 6. Juni 1944? "Eine große
öffentliche Diskussion begann hier aber eigentlich erst 1994", so Stötzel.
War es nun "die Invasion" (aus Sicht von Nazi-Deutschland), die "Landung"
(aus Sicht der Franzosen), "D-Day" (aus Sicht der Amerikaner)? Und der 8.
Mai 1945? "Tag der Scham", "Befreiung" oder "Niederlage"? Noch Willy Brandt
hütete sich als Bundeskanzler, von "Befreiung" zu sprechen. Stötzel: "Die
60er Jahre, das war noch eine Phase der Verdrängung. Die Deutschen fühlten
sich als Opfer." Richard von Weizsäcker benutzte dann 1985 das Wort ganz
bewusst und an zentraler Stelle.
Studierende sind im Rahmen von Seminaren, wie schon bei den
anderen Buch-Projekten zur Sprachgeschichte, in großem Stil bei den
Recherchen miteinbezogen. Wer eine Arbeit zu einem Wort schreibt, die zur
Grundlage eines Lexikon-Artikels wird, der taucht dann auch namentlich als
Autor auf. Nicht die schlechteste Motivation.
Keine Frage: Wörter prägen das Bewusstsein. Und können
Wirklichkeit schaffen. Deshalb arbeiten Stötzel und sein Team nicht nur an
einem Handbuch zur sprachlichen Vergangenheitsbewältigung. Sie wollen mehr
sein: "kommunikative Aufklärer".
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf