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Abhanden gekommen:
Juden als Statisterie - zum Gedenkjahr 2005

Von Richard Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung vom 14.01.2005

Wir gehen einem denkwürdigen, gedenkwürdigen Jahr entgegen. Wie schon zum 50. Jahrestag 1995 werden wir auch 2005 anlässlich der 60. Wiederkehr des Kriegsendes mit einer Fülle von Publikationen, Fernsehsendungen, Gedenkveranstaltungen und Reden überflutet werden. Das Jahr 2005 markiert jedoch eine Zäsur in der so genannten Gedenkkultur.

Nicht etwa, weil danach die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verblassen wird, wie manche derzeit unken oder gar hoffen, sondern weil in zehn Jahren, also zum 70. Jahrestag, die Zeitzeugen nicht mehr leben werden. Die meisten der Täter sind schon jetzt tot, doch bis 2015 werden auch die letzten jüdischen Überlebenden, die während des Krieges noch Kinder waren, gestorben sein.

Das Jahr 2005 böte also noch einmal, ein letztes Mal, die Möglichkeit, die jüdischen Zeitzeugen zu hören, zu befragen, auf sie einzugehen und von ihnen zu lernen. Nur - wird das geschehen?

Wohl kaum. Man kann davon ausgehen, dass Juden in dem diesjährigen Gedenktrubel lediglich die Statistenrolle zugewiesen wird. Gewiss, sie werden überall als Ehrengäste dabei sein. Man wird sich um sie bemühen, ihnen Redezeit zubilligen und ihnen Sendungen im Fernsehen widmen. Doch wie Gedenken generell zusehends zum sinnentleerten Ritual verkommt, so droht diese Gefahr auch in der medialen Aufbereitung.

Seit Jahren stellt sich die Frage, wie die Nachkriegsgeborenen die Erinnerung an die Shoah bewahren können. Die Historisierung des Holocaust ist ein Faktum, gegen das sich auch nicht von jüdischer Seite protestieren lässt. Die Zeit vergeht, so banal ist es nun mal.

Verschärft wird dies allerdings durch die inzwischen fast schon normal zu nennende banalisierte Darstellung des Holocaust, die nicht nur mit der Problematik des "Undarstellbaren" entschuldigt werden kann. Jeder kennt die Gemeinplätze in den Gedenkreden, dieses Geschwätz von den "Verbrechen im deutschen Namen", die geheuchelte "Betroffenheit" und dergleichen mehr.

Dann, die immergleichen Bilder: Die Toreinfahrt von Auschwitz-Birkenau, die Zuggleise, die Leichenberge. All das löst heute keinen Schrecken mehr aus.

Es fehlen die Worte oder alternative Bilder, erklären Autoren und Filmemacher achselzuckend, ein wenig wehleidig und wurstig zugleich und verweisen gerne auf Primo Levi oder Richard von Weizsäcker, auf Eberhard Fechner oder Steven Spielberg, die hätten schon alles gesagt und gezeigt. Aber diese Selbstentschuldung verfehlt den Kern des Problems. Kaum einer hat sich in den letzten Jahren noch die Mühe gemacht, das "Wahrhaftige" in all den Geschichten über die Shoah wirklich zu suchen. Jene Wahrhaftigkeit, die sich, wenn man nur hinschauen will, in den Gesichtern und Seelen der Überlebenden finden lässt. Man muss sich nur die Mühe machen, ihnen ehrlich zuhören zu wollen, man muss nur Geduld aufbringen, um jenseits der ritualisierten oder gar floskelhaften Erzählung, die diese Menschen zum Selbstschutz in den vergangenen 60 Jahren entwickelt haben, die Wahrheit des Erlebten zu erfahren.

Er schwieg

Wann hat sich seit Claude Lanzmann mit seinem Neun-Stunden-Epos "Shoah" ein Dokumentarfilmer ernsthaft die Mühe gemacht, tiefer hinabzublicken in den unbeschreibbaren Abgrund und sich dafür all die Zeit zu nehmen, die es braucht: in der Recherche ebenso wie in der Erzähldauer? Wann hat ein deutscher Gedenkredner den Schmerz, den Schrecken, die eigene Verunsicherung angesichts dieses entsetzlichen Ereignisses öffentlich zugelassen und nicht einfach nur die abgehalfterten, manchmal gar pathetischen Worthülsen von sich gegeben, die jeder Redenschreiber zu diesem Thema als Versatzstücke bereithält?

Ein Blick zurück: Als 1995 der damalige polnische Präsident Lech Walesa in einer Auseinandersetzung um die historische Deutungshoheit, wem nun Auschwitz eigentlich "gehört", den Juden oder den Polen, den Juden die Haupterinnerung auf der offiziellen Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz verweigerte, da veranstalteten diese am Tag zuvor eine eigene Feier auf dem Gelände. Und es war der damalige bundesdeutsche Präsident Roman Herzog, dem eine wahrhaftige Geste gelang, die mehr sagte als 1000 Worte und die damit ebenso bedeutungsvoll wurde wie einst der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal im Warschauer Ghetto: Roman Herzog schwieg. Er schwieg, als er als Privatperson (!) zu der jüdischen Trauerfeier ging und jedes Interview an diesem Tag verweigerte. Er habe sich hier nicht zu äußern, erklärte er damals demütig und stellte sich und das Amt des Bundespräsidenten hinter das Leid der Opfer. Er schwieg und nahm im wahrsten Sinne des Wortes "An-teil" an der jüdischen Trauer. Keinem deutschen Politiker ist seither eine ähnlich wahrhaftige Geste gelungen. Und wir werden wohl auch dieses Jahr auf solche Wahrhaftigkeit verzichten müssen. Wir werden es wohl auch nicht erleben, dass sich - vor allem - das Fernsehen die Mühe machen wird, den Opfern den Raum zu bieten, den sie benötigten. Die wahre Geschichte dieser Menschen lässt sich nicht ohne weiteres in die gängigen Fernsehformate pressen. Doch welcher Sender erlaubt es sich, heute noch mehrere Stunden Sendezeit zu "verschenken", die kaum Quote bringen?

Kein Platz mehr

Und die Juden? Was ist mit ihnen in diesem nun beginnenden Karussell der Gedenkveranstaltungen? Sie werden mitmachen. Längst hat auch das offizielle jüdische Gedenken seine eigenen verbalen Versatzstücke gefunden, die aus gegebenem Anlass immer wieder abgerufen werden, weil die bundesdeutsche Gesellschaft so ist, wie sie ist. Man hat sich damit arrangiert, will dem nichtjüdischen Gegenüber, den Nachkommen der Täter, nicht auf die Zehen treten. Man hat sich damit abgefunden, dass die Ritualisierung zur Norm geworden ist. Und trägt somit zur Banalisierung der Erinnerung bei, anstatt sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, sich vielleicht sogar ganz zu verweigern. Man ist bereit, im deutschen Gedenkschauspiel die Statisterie zu stellen, damit das Schauspiel "komplett" und "politisch korrekt" über die Bühne gehen kann.

Im Übrigen: Das deutsche Gedenken an das Kriegsende vor 60 Jahren hat nur noch am Rande mit der Ermordung des europäischen Judentums zu tun.

Das deutsche Gedenken ist seit langem zur Diskussion um die Deutungshoheit über die Jahre 39 - 45 umfunktioniert worden. So einhellig man sich seit über einem Jahrzehnt darin einig weiß, das Jahr 1945 als Jahr der "Befreiung" zu verstehen, so voll ist seit kurzem die Debatte um die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs entbrannt. Einschlägige Literatur zu den Bombenangriffen auf Dresden, Hamburg und andere deutsche Städte haben Bestsellerstatus erreicht, in München erinnert man heuer an das Jahr 1945 mit einer Ausstellung, deren Exponate persönliche Erinnerungsstücke der Münchner sind (fairerweise sei gesagt: auch einiger jüdischer Münchner).

Deutsche als Leidende, als Opfer also. Soll das der am Ende nachhaltigste Blick auf Krieg und Kriegsende werden?

Ist der Versuch der Umdeutung der Geschichte nicht das, was die Menschen heute mehr umtreibt als die erneute Erinnerung an die Shoah? Wo aber dies geschieht, haben Juden eines Tages gar keinen Platz mehr, sie sind nicht einmal mehr als Statisterie gefragt, da allein ihre pure Anwesenheit eben doch an das erinnert, woran diejenigen Deutschen, die sich inzwischen lieber als Opfer sehen, partout nicht mehr erinnert werden wollen: an die deutsche Schuld von einst.

Wie will sich Deutschland in Zukunft zu seiner Vergangenheit stellen? Die toten Juden haben das Privileg, dass sie sich mit der aktuellen Gedenkkultur nicht auseinander setzen müssen. Und die lebenden? Ihnen ist das Besondere längst abhanden gekommen, denn auch sie sind inzwischen überwiegend Nachkriegsgeborene, ihnen fehlt darum in den Augen der anderen die "Autorität" der Überlebenden, selbst wenn sie viel über die psychische Destruktion ihrer Eltern, mit denen sie aufwuchsen, erzählen könnten. Authentizität und Wahrhaftigkeit ließen sich also, wenn auch verändert, weiter vermitteln. Aber wen interessiert das? Deutschland ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass es in Zukunft noch Zeit fände, sich mit Juden und deren Erfahrung auseinander zu setzen.

hagalil.com 16-01-2005

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