Napola:
Geschichte vom Opa
- erzählt vom Enkel. "Napola.
Elite für den Führer" will mit "Mittendrin statt nur dabei"-Ästhetik
überzeugen. Eine Aufarbeitung der NS-Erziehungsanstalten oder bloß
ein Kostümfilm?
Von Christian Schneider
"Berlin im Spätsommer 1942. Der 17-jährige
Friedrich Weimer spurtet von seiner Arbeit in einer Kohlenhandlung
zum Training des Boxvereins Wedding. Ein Kampf ist angesagt, und die
Gegner der Napola Potsdam wirken schon allein durch ihre piekfeinen
Uniformen einschüchternd. Zwar schlägt sich Friedrich wacker gegen
seinen rücksichtslosen Gegner, doch im entscheidenden Moment zögert
er und geht zu Boden."
Ich sitze in einem Frankfurter Kino und blättere im Infoheft zu dem
Film, den ich gleich in einer Pressevorführung sehen werde.
"Heinrich Vogler, Lehrer der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt
(Napola) Allenstein, hält Ausschau nach Nachwuchsboxern und lädt
Friedrich zu den Aufnahmeprüfungen der Napola ein. Friedrich sieht
seine Chance, der engen Mietwohnung seiner Eltern und dem sozialen
Elend in Wedding zu entkommen. Friedrichs Vater, ein einfacher
Arbeiter, will davon nichts wissen: Grob verbietet er seinem Sohn
jeden Kontakt 'zu diesen Leuten'. Friedrich fälscht die Unterschrift
seines Vaters und macht sich mitten in der Nacht auf den Weg (...).
In Allenstein angekommen, nimmt Vogler ihn unter seine Fittiche,
lässt ihn einkleiden und übergibt ihn der Obhut seiner neuen
Stubenkameraden."
So beginnt, leicht gekürzt, die vom Verleih verbreitete
Inhaltsdarstellung des Films "Napola. Elite für den Führer". Gleich
werden sich die Wörter in Bilder verwandeln, und ich habe die kurze
Handlungsskizze noch nicht einmal zu Ende gelesen. Ich spüre einen
inneren Widerstand: Will ich das wirklich sehen? "Piekfeine
Uniformen" und proletarische Jungs, die sich "wacker schlagen"?
"Enge Mietwohnungen" von "einfachen Arbeitern" im "sozialen Elend",
kontrastiert mit der Welt der "alten Ordensburgen", in der man unter
die "Fittiche" von Lehrern und die "Obhut" von "Stubenkameraden"
gerät?
Eigentlich mag ich Klischees. Aber gleich so viele? Ich schaue mich
im Kino um, in dem sich drei Hand voll Journalisten verlieren.
Einige lesen wie ich im Infomaterial. "Als Neuer staunt Friedrich
über den militärischen Drill und die Hierarchie, ist aber auch
fasziniert von den sportlichen Einrichtungen, der Ausrüstung und dem
reichlichen Essen. Mit Albrecht Stein kommt ein weiterer Neuzugang
in seine Stube: Albrecht ist der Sohn des neuen Gauleiters Heinrich
Stein, der keinen Zweifel daran lässt, dass er von seinem Sohn
Großes erwartet." Man ahnt, da bahnt sich eine wunderbare
Jungenfreundschaft an, zumal der eine sich so toll nach oben boxt
und der andere, obwohl Spross einer Obernazifamilie,
"leidenschaftlich gern Aufsätze schreibt", mithin "die beiden
unterschiedlicher nicht sein könnten". Der Proll-Aufsteiger und der
feingeistige Aussteiger aus dem groben Nazimilieu werden auf der
Napola, so verspricht der Text, eine "intensive Freundschaft"
eingehen.
Wie immer im Kino habe ich das Gefühl, dass es schon dunkler wird.
Hastig überfliege ich die restliche Inhaltsangabe, speichere die
Wörter "Bettnässer", "Heldentod", "Draufgänger", "Eklat",
"unerwartete, schreckliche Konsequenz", und tatsächlich verlöscht
mit dem letzten Satz das Licht.
Ich darf mich nicht naiv auf einen Film freuen, sondern bin als
Fachmann geladen. Vor acht Jahren habe ich zusammen mit Cordelia
Stillke und Bernd Leineweber ein Buch über "Das Erbe der Napola"
veröffentlicht: Resultat jahrelanger biografischer Forschungen über
das Lebensschicksal ehemaliger Zöglinge der "Nationalpolitischen
Erziehungsanstalten", jener legendären Internatsschulen, in denen
die künftige NS-Elite herangebildet werden sollte. Wir wollten
wissen, wie Zehn- oder Zwölfjährige die radikale Trennung von
Elternhaus und Familie erlebten, wie sie die quälerischen Praktiken
der Anstalt empfanden, und was es bedeutet, sich als kommende zivile
Führung des Tausendjährigen Reichs zu fühlen. Was geschieht mit
Kindern, die brutalem Drill und gezielten Erniedrigungen ausgesetzt
sind und trotzdem oder deshalb im Bewusstsein leben,
"Herrenmenschen" zu sein?
Und was, schließlich, bedeutet es für Halbwüchsige, wenn die in
schillernden Farben gemalte Zukunft von deutscher Weltherrschaft und
höchstpersönlicher Teilhabe daran plötzlich wie eine Seifenblase
zerplatzt? Wie sieht das Leben danach aus? Bekannt ist, dass viele
Napola-Jungmannen, wie die Schüler offiziell hießen, ihren
Elite-Auftrag erfüllt haben - nicht im Nationalsozialismus, sondern
als tragender Teil der Aufbaugeneration der jungen Bundesrepublik.
Wenn das eine Erziehungsziel so gut verwirklicht wurde, was ist
dann, das war unsere grundlegende Frage, aus dem anderen Teil ihrer
Erziehung geworden: aus der erzwungenen Identifizierung mit Führer,
Volk und Vaterland, dem Gefühl rassischer Superiorität und
unbedingter Überlegenheit? Und schließlich: Wie hat sich diese
Prägung auf ihre Nachkommen ausgewirkt? Gibt es ein Weiterwirken der
alten schulischen Prägung über die Generationsgrenze? Gibt es so
etwas wie eine "psychische Vererbung"? Hinter unseren höchst
wissenschaftlichen Fragen steckte unverhohlen eine Angst - die
typische Angst unserer Generation: Hat sich etwas von dieser
NS-Prägung am Ende noch auf uns, die Nachgeborenen, übertragen?
Auf der Leinwand ist Friedrich Weimer inzwischen längst auf der
Napola Allenstein angekommen. Die Kamera schwelgt in den Bildern und
Symbolen zweier unterschiedlicher Kapitel deutscher Geschichte.
Ordensburg und Nationalsozialismus: trutzige Zwingburgarchitektur
und dekorativ im Wind wehende Hakenkreuzfahnen. Jungproll Friedrich
ist von alldem sichtlich fasziniert - und wir sollen es an seiner
Seite auch sein, darauf arbeitet die Regie gezielt hin. Warum also
bin ich es nicht?
Friedrich erlebt gerade die ersten Widrigkeiten des
Erziehungssystems, aber auch das lässt mich kalt. Obwohl ich mich
durchaus nicht langweile, der Film hat fraglos Qualitäten. Die Story
ist zügig erzählt, die Schauspieler (Max Riemelt, Tom Schilling)
sind klasse, das Ganze atmet die gekonnte Routine von Hollywood -
immer noch ungewöhnlich für eine deutsche Produktion. Und das bei
einem Regisseur von 31 Jahren. Wie kommt ein solcher Jüngling zu so
hoher Professionalität - und vor allem: zu dem Thema?
Im Verleih-Info gibt Regisseur Dennis Gansel Auskunft: Es sei eine
persönliche Sache. Sein Großvater, erst Fähnrich auf einer
Kriegsschule, später selbst Ausbilder auf der Artillerieschule, habe
ihm von "Drillmethoden, aber auch der Kameradschaft" erzählt. Das
hat zwar genau genommen mit Napola nichts zu tun, ist aber der
politisch korrekte Zugang: Wer entdeckt derzeit nicht einen Bruder,
Onkel, Großvater, eine Mutter oder Halbschwester als Leitfossil für
genealogische Reisen in die braune deutsche Vergangenheit? "Die
Geschichte eines einfachen Jungen zu erzählen, der zunächst völlig
arglos angeworben wird und dann den mannigfaltigen Verführungen
erliegt, fanden wir interessant und über den historischen Aspekt
hinaus auch brennend aktuell." So Gansel. Seither hat der Regisseur
mehrfach zu Protokoll gegeben, mit seinem Film das angebliche Tabu
brechen zu wollen, die "menschliche", die emotionale Seite von
NS-Verstrickungen zu thematisieren.
Menschlich und emotional hat es zwischen den beiden
Filmprotagonisten Friedrich und Albrecht mittlerweile längst
gefunkt. Der proletarische Aufsteiger und der aus dem Ruder
gelaufene Funktionärssohn haben sich in Allenstein gefunden und
zelebrieren mitten im NS-Internat ein Stück klassenloser
Gesellschaft. Ein paradoxes Szenario: Das Publikum bekommt eine
perfekte Nazikulisse - und darf sich mit zwei Außenseitern
identifizieren, die mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben
wollen.
Ich schiele nach meinen Nebenleuten. Keine Frage, man geht mit. Und
dann packt es schließlich auch mich: Neu-Jungmann Friedrich soll in
einem Boxkampf zeigen, was er auf der Napola gelernt hat. Man
erwartet von ihm, seinem sportlichen Ethos abzuschwören und einen
bereits wehrlosen Gegner k.o. zu schlagen. Der Augenblick des
Zögerns und dann der vernichtende Schlag - das geht tatsächlich
unter die Haut. Die Szene vermittelt etwas von der
entmenschlichenden Wirkung der Napola-Erziehung, über die sich die
ehemaligen Schüler in unseren Forschungsinterviews so oft verbreitet
haben. Mir läuft ein Schauder über den Rücken.
Überhaupt sind die Boxsequenzen des Films glänzend, der Kameramann
hat Scorseses "Raging Bull" gut studiert. Trotzdem: Es bleibt die
einzige Szene im Film, die bei mir emotional etwas auslöst. Warum
lässt mich der Film so kalt? Ist es Abwehr? Bin ich am Ende
vielleicht sogar neidisch, weil ein Thema, das mich ein gutes
Lebensjahrzehnt heftig in Anspruch genommen hat, nun flugs in
Hollywoodmanier aufgegriffen wird - und öffentliche Resonanz finden
wird? Denn der Erfolg des Films, so viel lässt sich risikolos
prognostizieren, ist verbürgt.
Nazi sells. Umso mehr, je "menschlicher" die Sache angegangen wird.
Gefühle sind längst in im Umgang mit der deutschen Vergangenheit.
Die Frage, ob man Hitler "als Menschen" darstellen dürfe, die
anlässlich Bernd Eichingers "Untergang" das deutsche Feuilleton in
hektische Debatten trieb, ist in Wirklichkeit längst entschieden.
Schließlich arbeitet Guido Knopps Holokaust-TV-Imperium seit Jahren
daran, uns die NS-Zeit und ihre Chargen mit dem Blick durchs
Schlüsselloch möglichst intim zu präsentieren. Quote ist am besten
da zu machen, wo kühle Informationen in eine chronique scandaleuse
eingebettet, wo Fakten mit Affekten aufgemöbelt werden können.
Die "Mittendrin statt nur dabei"-Ästhetik hat die
TV-Geschichtsschreibung längst erreicht. Und es ist ja kein
Geheimnis: Erst der Killer mit "menschlichen Schwächen", erst der
gefühlige Schreibtischtäter bringt den ultimativen Kick. Wer sich
heute als Autor oder Filmer ein Nazithema sucht und dabei auf das
Gefühlsticket setzt, bricht kein Tabu, sondern beweist Nase für den
Trend.
Als ich das Kino verlasse, hat sich trotz mehrerer Toter und
dramatischer Wendungen im Schlussteil des Films an meiner
emotionalen Unberührtheit nichts geändert. "Kostümfilm", denke ich -
und spüre dabei fast ein schlechtes Gewissen: Es war doch
schließlich "gut gemeint". Ich bin ratlos, warum das Ganze emotional
so sehr an mir vorbeigeht.
Ein paar Tage später telefoniere ich mit einem ehemaligen Napolaner,
und plötzlich, beim Klang seiner Stimme, wird mir es mir klar: Der
Film hat bei mir nichts ausgelöst, weil seine Bilder alles Mögliche
einfangen, nicht aber die Hauptsache: die Dimension der Herrschaft.
Einer Herrschaft, die sich als intime Prägung der ihr Unterworfenen
kaum in filmische Bilder umsetzen lässt. Was mich im Umgang mit
ehemaligen Napola-Schülern immer wieder gerührt hat, ist der endlose
Kampf, den sie mit dieser aggressiv in ihre Körper und Seelen
eingedrungenen Herrschaft ausgetragen haben. Buchstäblich alle,
gleichgültig ob sie die Schule im Nachhinein idealisieren oder
ablehnen. Denn allen ist sie über Drill und Indoktrination
buchstäblich in den Leib gefahren und diktiert ihnen bis heute
Verbote, Imperative und Gefühle - darunter nicht zuletzt das von
fast allen hergebetete Credo, die Schule habe ihnen ja "nicht
geschadet".
Bei vielen ehemaligen Jungmannen hat diese innere Okkupation eines
Teils ihres Selbst einen bemerkenswerten körperlichen Ausdruck
gefunden: in ihrer Stimme. Tatsächlich, es gibt einen bestimmten
Tonfall, der nichts mit Jargon zu tun hat, nicht auf Zeittypik zu
reduzieren ist und in der Häufung, in der er uns begegnet ist, auch
nicht als Zufallsgröße wegerklärt werden kann. Immer wieder sind wir
über dieses spezifische Timbre von gebrochener Forschheit
gestolpert. Darin fängt sich mehr vom Drama der
Napola-Schulerfahrung, als sich der an deutschen Universitäten
ausgebildete Sozialforscher träumen lässt. Klar, dass man über "so
was" als ordentlicher Wissenschaftler nicht zu schreiben wagt, man
würde sich ja unmöglich machen.
Die Stimme am Telefon bringt mir diesen alten - verbotenen -
Eindruck schlagartig zurück und mit ihm eine weitere Erkenntnis, die
in unserem Buch nur Platz zwischen den Zeilen gefunden hat: dass die
Sensiblen unter den Jungmannen schon während ihrer Schulzeit ahnten,
dass sie die Herrschaft der Napola nie mehr loswerden würden. Sie
waren und sind gezeichnet. Ganz anders der Protagonist im Film.
Friedrich Weimer geht aus allen Verwicklungen im Film letztendlich
hervor wie de Sades Justine aus den wildesten Orgien: unberührt.
Was nicht am Schauspieler liegt. Die Darstellungskunst Max Riemelts
bricht sich an einer Dramaturgie, die detailgetreu bis in die
Knopflöcher der Schuluniformen ist, aber das Drama dieser
auserlesenen und ausgesetzten Kinder nicht verstanden hat. Auch da,
wo der Film Schreckliches zeigt, zeigt er nirgends den wirklichen
Schrecken der Napola, die systematische Zurichtung jener "einfachen
Jungen", von der das Verleihheftchen spricht. Das dafür angebotene
"Jungen-Drama in schwerer Zeit", das der Film uns vorführt, verfehlt
das Spezifische der Napola: Sie bleibt Kulisse.
Ich denke über den jungen Regisseur nach, der nicht wie ich als
Wissenschaftler und Angehöriger der "zweiten", der Kindergeneration
der NS-Täter und -Mitläufer, sondern als Filmemacher und Enkel auf
die Geschichte schaut. Tatsächlich kommt mir sein Film wie die
filmische Umsetzung von Geschichten vor, die ein Enkel von seinem
Großvater hört - und hören will.
Im Gegensatz zum angespannten, mit Schuldvorwürfen und moralischen
Vorhaltungen aufgeladenen Verhältnis meiner Generation zu den
"Nazi-Vätern" ist das zwischen ihnen und der Enkelgeneration
weitgehend entlastet. Erst den Kindeskindern konnten endlich die
aufgestauten Geschichten erzählt werden, die den argwöhnischen
Kindern vorenthalten worden waren, weil man - zu Recht - deren
verständnisferne Kritik fürchtete. Im Verhältnis zu den Enkeln
tauchen sie als politisch dekontextualisierte Abenteuerstorys auf,
natürlich (sonst wären sie langweilig) mit NS-Gruseleinlagen. Sie
bieten mithin genau das, was Erzähler und Hörer zu einer
befriedigenden kommunikativen Einheit zusammenbindet.
Gansels Napola-Film ist eine solche vom Enkel ins Bild gesetzte
Opageschichte. Dass sie über weite Strecken an mir und meinen
Gefühlen vorbeigeht, gehört zur Logik der Generationen. Gut möglich,
dass sie die nachfolgende Generation erreicht. Wenn es so ist, gäbe
es Diskussionsbedarf. Denn angesichts des Aussterbens der
Zeitzeugen, an der Grenze des kommunikativen zum kulturellen
Gedächtnis, werden die heute produzierten (Film-)Bilder bald das
Geschichtsbild vom Nationalsozialismus bestimmen. Und damit auch die
Gefühle in Regie nehmen, mit denen wir und unsere Nachkommen dieser
Vergangenheit begegnen. Es wäre zumindest problematisch, wenn Opas
Geschichten im Kino siegten. Denn es wäre ein später Sieg über die
Geschichte.
CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, Psychoanalytiker und
Soziologe, schreibt regelmäßig für die taz und den Mittelweg. Er
lebt in Frankfurt am Main. 1997 erschien von Christian Schneider,
Cordelia Stillke und Bernd Leineweber das Buch "Das
Erbe der NAPOLA. Versuch einer Generationengeschichte des
Nationalsozialismus", Verlag Hamburger Edition, 394 Seiten,
30 Euro. Abdruck mit
freundlicher Genehmigung der taz - die tageszeitung
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17-01-2005 |