Der vierten Generation fällt die
Erinnerung an die Schrecken des Holocaust schwer - Gabriele Lesser
begleitete eine Gruppe von 21 deutschen Gymnasiasten aus Frankfurt/Oder auf
ihrem Besuch im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau
Von Gabriele Lesser
DER STANDARD, Print-Ausgabe,
22./23. 1. 2005
In Auschwitz-Birkenau schneit es. Vor dem berüchtigten Tor,
durch das einst die Züge bis zur Rampe vor den Gaskammern fuhren, stehen 21
Jugendliche und zwei Lehrer. Sie frieren. Durch das Tor können sie auf die
sich schier unendlich hinziehenden Gleise sehen. Irgendwo da ganz hinten, wo
der Wald beginnt, mussten die Gaskammern gestanden haben. Dort sind über
eine Million Menschen ermordet worden.
Nervös zünden sich einige eine Zigarette an. Es schneit immer
stärker. Im drei Kilometer entfernten Stammlager mit den ehemaligen Kasernen
voll Koffern, Haaren und Schuhen waren die 16- bis 20-jährigen schon zwei
Tage zuvor. Sie haben sich eine Woche Zeit genommen, um den Massenmord an
den Juden an seinem symbolträchtigsten Ort zu begreifen, in Auschwitz und
Auschwitz-Birkenau.
Jerzy Debski von der Gedenkstätte winkt der Gruppe zu. Er
spricht deutsch mit starkem schlesischem Akzent. Auf dem Wachturm über den
Gleisen erklärt er kurz: "Links seht ihr die Frauenbaracken, geradeaus die
Baracken der Strafkompanie, daneben die Ruinen der Gaskammern und
Krematorien, rechts die Männer-und Quarantäne-Baracken. Habt ihr Fragen?"
Die jungen Leute brauchen mehr Zeit. Sie schweigen. Anders als Debski sehen
sie zum ersten Mal aus den Fenstern des Wachturms. Die Stacheldrahtzäune,
die Holzbaracken, die Wachtürme, die Gleise - es scheint gar kein Ende
nehmen zu wollen. Sie begreifen: Das Lager war eine Welt für sich.
Doch es geht schon weiter. Eine Toilettenbaracke. Zu sehen sind
eng nebeneinander stehende Etagenbetten aus Holz und in der Mitte eine Art
Toilettenbank aus Beton. Nebeneinander sitzend konnten dort ca 40 Häftlinge
gleichzeitig ihre Notdurft verrichten. "Das muss ja gestunken haben", meint
eine Schülerin. "Wo war denn die Spülung?", fragt ein anderer. Das primitive
Plumpsklo weckt eher das technische Interesse der jungen Leute. Debski
schiebt sich seine schwarze Lederkappe in den Nacken und erklärt: "Die
Fäkalien wurden in großen Silos gesammelt. Dann haben die Deutschen, die den
Rohstoff Mensch möglichst vollständig verwerten wollten, Experimente zur
Gasgewinnung durchgeführt. Aber das hat nicht geklappt. Noch Fragen?"
Es geht weiter. Eine Wohnbaracke mit dreistöckigen Etagenbetten
und einem Steinofen, der die in der Mitte der Baracke verlaufende Sitzbank
heizte. "Hier haben 150 bis 1000 Menschen geschlafen. Die Baracken wurden
beheizt", erklärt Debski und setzt hinzu: "Zu den drei größten Plagen
gehörten Ratten, Läuse und Fleckfieber. Damit kämpften Häftlinge, aber auch
die SS. Die Läuse haben sich über die Lebenden hergemacht, die Ratten über
die Toten. Das Ungeziefer hatte genug zu fressen im KZ. Noch Fragen?" Die
Jugendlichen versuchen weiterzudenken, aber der gedrungene kleine Mann wirkt
nicht so, als könne er Sinnfragen beantworten. Um überhaupt etwas zu sagen,
fragen sie wieder nach technischen Details: "Wurde das denn wirklich warm in
den Holzbaracken? Hat das nicht gezogen? Und wo ist die Luft aus der Bank
wieder entwichen?"
Es geht weiter, zu anderen Baracken, zu den Ruinen der
Gaskammern und Krematorien, wo Debski im Schneetreiben Zahlen, Daten und
Fakten aneinanderreiht, die sich keiner merken kann. Eine der Schülerinnen
quält eine ganz andere Frage. "Wenn ich jetzt den Ring rausnehme, bricht
dann meine Nase mit ab? Oder soll ich den Ring in der Nase lassen? Aber er
tut weh!" Debski nennt immer noch Zahlen, doch keiner hört mehr zu. Es ist
zu kalt.
"Am meisten haben mich die Haare und die Koffer berührt", meint
Juliane Heinisch (18) nach dem Mittagessen in der Jugendbegegnungsstätte.
"Da habe ich das erst verstanden. Ich meine das Ausmaß. Man kann sich das
doch gar nicht vorstellen." Für Sarah Bursch (18) war Birkenau wichtiger:
"Das war so riesig und so kalt. Dann noch der Schnee und dieser eisige Wind.
Wir konnten ja nach drei Stunden zurück in den warmen Bus und haben hier
gleich ein Mittagessen bekommen. Aber die Häftlinge damals, die hatten doch
nur so dünne Sachen an. Wie müssen die erst gefroren haben? Ich kann es mir
immer noch nicht richtig vorstellen."
Johannes Reicherdt (20) studiert bereits Bauingenieurwesen. Vor
vier Jahren war er schon einmal mit dem Otto-Brenner-Gymnasium in Oswiecim.
"Da war ich 16. Damals hat mich das alles nur ganz benommen gemacht. Ich war
tief getroffen, aber ich konnte gar nichts sagen: jedes Wort schien mir viel
zu banal zu sein." Er habe später viel gelesen. Als er hörte, dass sein
Lehrer Peter Orlowski wieder mit einer Gruppe fahren wollte, fragte er
spontan, ob er mitkönne: "Es ist der Ort. Hier in Auschwitz ist es passiert.
Das kann kein Buch vermitteln und kein noch so gutes Museum."
Peter Orlowski (54) ist dennoch unzufrieden mit dem Ablauf der
Reise. "Ich leite selbst eine kleine Gedenkstätte. Und hier nach Auschwitz
kommen doch in erster Linie Schüler, aber für die gibt es gar kein richtiges
Angebot. Die werden durch die Ausstellung gejagt, dazu der Frontalvortrag,
die vielen Zahlen. Da hat sich in all den Jahren gar nichts geändert." Die
Schüler seien nun schon die vierte Generation nach dem Krieg. "Für die
jungen Leute gibt es keine Erinnerung mehr an den Krieg, nicht mal die
Großeltern können ihnen noch was erzählen. Wenn Auschwitz nicht einfach
Schulstoff bleiben soll, der in einer Klausur abgefragt und dann vergessen
werden kann, muss er dieser Generation anders vermittelt werden als das die
Gedenkstätte tut."
Am Abend gehen die älteren ins "Mefisto", die Szene-Kneipe
Oswiecims. "Warum habt ihr euer KZ denn nicht mitgenommen?", blafft sie ein
polnischer Jugendlicher an. "Wir wollen hier in Oswiecim in Ruhe leben. Wir
brauchen das KZ nicht, wollten es nie haben." Ein anderer nickt, hebt sein
Bierglas und meint in versöhnlichem Ton: "Ej, baut doch Euer KZ ab und in
Berlin wieder auf. Da könnt ihr dann jeden Tag hingehen. Und zu uns kommt
ihr zum Eishockeyspielen. Ist das ein Wort?"