DVD-Projekt zu Auschwitz-Prozess:
Zynische Zeugnisse
Von Jan Süselbeck
Jungle World
53 v. 22.12.2004
"In Auschwitz habe ich keinem Menschen etwas zuleide
getan. Ich war zu allen höflich, freundlich und hilfsbereit, wo ich dies nur
tun konnte", sagt Dr. Viktor Capesius am 181. Verhandlungstag des
Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Es ist der 12. August 1965, und Capesius
spricht mit fester Stimme.
Der Angeklagte, der vom September 1943 bis zur Evakuierung
des Lagers die SS-Apotheke in Auschwitz leitete und dem Urteil zufolge
zeitweise als Verwalter der Zyklon-B-Bestände an der "Vergasung" von
mindestens 8 000 Menschen tatkräftig mitwirkte, beschließt sein
Schlussplädoyer mit den Worten: "Auf der Rampe war ich verschiedene Male, um
dort das Ärztegepäck für die Häftlingsapotheken zu holen. Selektiert habe
ich nie, was ich mit allem Nachdruck betonen möchte."
Diese und viele andere Lügen über Taten, die meist mit
nachsichtigen Strafen geahndet und später mit baldiger Haftverschonung
nachträglich belohnt wurden, kann sich jetzt jeder, der einen DVD-Player
besitzt, einfach zu Hause anhören. Es sei gleich vorweg gesagt, dass es ein
verstörendes Erlebnis ist: Stimmen wie die von Capesius, der viele seiner
eigenen ungarischen Bekannten und Freunde ins Gas geschickt haben soll, als
sie in Auschwitz ankamen und ihn an der "Selektionsrampe" freudig erkannten,
vergisst man jedenfalls so schnell nicht mehr.
Das Fritz-Bauer-Institut hat in Zusammenarbeit mit dem
Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau die kompletten 430 Stunden an
Tonbandaufnahmen, die man während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963
bis 1965) zunächst allein "zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts"
machte, transkribiert und auf einer DVD-Rom zugänglich gemacht – 100 Stunden
Hörbeispiele von Zeugen- und Täteraussagen inbegriffen. Es ist die bislang
umfassendste Dokumentation des Verfahrens – und damit ein Meileinstein in
der Erinnerungsgeschichte der Shoah.
Gedruckt hätten die über 50 000 Seiten ca. 60 Buchbände
umfasst. Oder – ohne die komprimierende Software der "Digitalen Bibliothek"
– 366 Audio-CDs. Zu astronomischen Preisen, versteht sich. Nun aber wird
einem breiten Publikum problemlos zugänglich, was die 360 vernommenen
Zeugen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende, in Frankfurt zu Protokoll gaben.
Fast schon als Nebensache erscheint dabei die zusätzlich
versammelte Fülle von wissenschaftlichem Informationsmaterial. So finden
sich hier die seinerzeit erstatteten Gutachten der Historiker Hans Buchheim,
Helmut Krausnick, Martin Broszat und Hans-Adolf Jacobsen, die 1965 unter dem
Titel "Anatomie des SS-Staates" veröffentlicht wurden, ebenso wie Danuta
Czechs umfassende Studie über die "Entstehungsgeschichte des Konzentrations-
und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau" – nebst vielen Faksimiles, Fotos
und Lageplänen.
"Das digitale Medium ermöglicht ein ganz anderes
Quellenstudium und eine völlig neue Bearbeitung des Materials. Es gibt
praktisch keine Platznot, und wir haben uns vorgenommen, das Verfahren
möglichst vollständig zu dokumentieren, das bedeutet: von der ersten Anzeige
gegen SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, die am 1. März 1958 erfolgte, bis
zur Neuverhandlung gegen den Lagerarzt Franz Lucas, die am 8. Oktober 1970
mit einem Freispruch endete", erklärte Werner Renz, der die Erstellung der
DVD betreut hat, der Internetzeitung Telepolis.
Mittels der akustischen Dokumente wird der Benutzer physisch
in die beklemmende Atmosphäre des Gerichtssaals hineingezogen. Die zaghaften
Stimmen der Gepeinigten, ihre verschiedenen Akzente und Sprachen, die
Übersetzungen der Dolmetscherinnen und nicht zuletzt die trotzigen Stimmen
der angeklagten Biedermänner, die Tausende umgebracht und gequält hatten und
sich nun ohne jede Schuldeinsicht vor Gericht wiederfanden, machen die
Recherche zu einer bestürzenden Erfahrung.
Da gibt es z.B. die Geschichte der Zeugin Dounia Zlata
Wasserstrom. Sie musste als jüdische Dolmetscherin den brutalen Folterungen
Bogers beiwohnen und erinnert sich: "Im November 1944 kam ein Lkw an, auf
dem sich Kinder befanden. (…) Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf
Jahren sprang (…) herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. (…) Boger ging
zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die
Wand. Den Apfel steckte er ein." Darauf habe man Wasserstrom gezwungen, das
Blut des erschlagenen Kindes von der Wand abzuwischen. "Eine Stunde später
kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel."
Ob Boger dies aus bloßer Gedankenlosigkeit tat oder um
Wasserstrom weiter zu quälen, kam vor Gericht nicht zur Sprache. Wasserstrom
blieb nichts anderes übrig, als ihre lebenslange psychische Beschädigung zu
konstatieren: "Nach meiner Befreiung aus dem Lager war ich schwanger. Ich
bin zum Arzt hingegangen und habe ihm gesagt, ich könne keine Kinder sehen,
ich müsse weinen, wenn ich Kinder sehe. Deswegen habe ich mir die Frucht
beseitigen lassen." Boger aber sagte zu alledem nur aus, die Sache sei "frei
erfunden".
Es lohnt sich, bei einer ersten Durchsicht des Materials
einige dieser Fallgeschichten herauszugreifen, sich die Zeugenaussagen
anzuhören und dann die "letzten Worte" der Hauptangeklagten dagegenzuhalten.
Gegenüber dem dabei zutage tretenden Zynismus der Massenmörder und ihren im
Lauf des Verfahrens offensichtlich nur zu Bruchteilen bekannt gewordenen
Verbrechen konnte und sollte die deutsche Nachkriegsjustiz wehrlos bleiben:
"Ein Sonderrecht für die Massenverbrechen des NS-Staats zog der
bundesdeutsche Gesetzgeber nicht in Erwägung. (…) Gesellschaftliche
Integration und schnelle Demokratisierung waren (…) nach einhelliger
Auffassung der Politik wichtiger als die angemessene Bestrafung der
Holocaust-Täter", erläutert das Fritz-Bauer-Institut auf seiner Website.
Die DVD ruft die grauenvolle Dimension dieser Zweckamnestie
ins Gedächtnis und lässt den Nutzer gleichzeitig selbst wieder etwas von der
hilflosen Wut spüren, die einen angesichts reuelos begangener Verbrechen
befällt, die selbst bei anderslautender juristischer Maßgabe keine Strafe
dieser Welt restlos zu sühnen imstande gewesen wäre.
Über SS-Untersturmführer Hans Stark etwa erfährt man aus
einem Plädoyer, er habe im Lager "so genannten Sport treiben lassen. Das
heißt, er hätte die Häftlinge so lange immer wieder in ein Wasserbecken oder
ein Wasserloch hineingehetzt, bis (sie es) schließlich vor Schwäche nicht
mehr (…) herausschaffen (konnten). Er hätte zum Überfluß noch einen gewissen
sehr kräftigen Häftling, Isaak, angewiesen, die schwachen Häftlinge in dem
Wasser zu ertränken. Schließlich hätte er diesen Isaak angewiesen, seinen
eigenen Vater zu ertränken. Der Isaak sei daraufhin wahnsinnig geworden. Er
habe jedenfalls also laut zu schreien angefangen, woraufhin Stark diesen
Isaak erschossen habe. Ja. (Pause)."
Einen Mausklick später hört man bereits den 42jährigen Stark
selbst, nunmehr verheiratet und Vater zweier Kinder, vor Gericht munter und
im breitesten Hessisch aussagen: "An den Führer hatte ich geglaubt, ich
wollte meinem Volke dienen. Ich war damals von der Richtigkeit meines Tuns
überzeugt."
Über Boger, der seine Opfer gefesselt an eine nach ihm
benannte "Schaukel" hängte, wird u.a. berichtet, er habe seinen Opfern "die
Nägel ausgerissen und andere Folterungen (an ihnen) angewandt". "Unzählige
Male habe ich persönlich solche Opfer der Schaukel gesehen, die wieder in
das Büro gebracht wurden und die unkenntlich waren von Blut und deren
Kleider in Fetzen an ihrem Körper klebten", erzählt die Zeugin Lilly
Majerczik. "Obwohl alle SS-Leute in dem Lager die Gefangenen misshandelten,
war Boger doch bei weitem der Grausamste. Er wolle auffällig der Primus
sein."
Der lapidare Schlusskommentar Bogers dazu lautet: "Ich will
nichts beschönigen. Keinen Zweifel will ich offen lassen, dass die
'Verschärften Vernehmungen', wie sie befohlen, von mir auch ausgeführt
wurden." Und als glaubte er, es würde irgendetwas erklären, fügt er zuletzt
hinzu: "Aber nicht das Auschwitz als grausame Vernichtungsstätte des
europäischen Judentums stand damals im Mittelpunkt meiner Betrachtungen,
sondern allein die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung und des
Bolschewismus."
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer bekannte 1965: "Wir Juristen
in Frankfurt haben erschreckt gerufen nach dem Dichter, der das ausspricht,
was der Prozess auszusprechen nicht imstande ist." Immerhin haben wir jetzt
eine DVD, die hilft, über diese juristische Ratlosigkeit weiter nachzudenken
und sich an das "Unaussprechliche" zu erinnern.
Der Auschwitz-Prozess – Protokolle und Dokumente.
Herausgegeben vom Fritz-Bauer-Institut und vom Staatlichen Museum
Auschwitz-Birkenau,
Directmedia Verlag, Berlin 2004. DVD-ROM, 49,90 Euro
hagalil.com 04-01-2005 |