Grabungen unterhöhlen die heilige Stätte:
Droht eine Katastrophe am Tempelberg?
Von Richard Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung,
28.12.2004
Während die Welt gespannt auf die palästinensischen
Wahlen Anfang Januar wartet und hofft, dass der Friedensprozess endlich
wieder aufgenommen wird, droht Gefahr für den Frieden im Nahen Osten von
einem derzeit nur als Nebenschauplatz wahrgenommenen Ort: dem Tempelberg in
Jerusalem. Er ist zwar seit eh und je ein Zankapfel zwischen Moslems und
Juden, jetzt jedoch könnte sich dort eine Katastrophe anbahnen.
Wer einen Beweis dafür braucht, dass Archäologie oftmals
einen politischen Aspekt hat, kann dies am Beispiel des Haram al-Sharif, wie
die Muslime den Tempelberg nennen, bestens studieren. Dort hat, der
jüdischen Überlieferung nach, Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollen, dort
befanden sich der erste, der Salomonische, und der Zweite Tempel, das
zentrale Heiligtum der Juden. Die so genannte "Klagemauer", die äußere
Westmauer des Zweiten Tempels, ist seit rund 2000 Jahren steinernes Zeugnis
des Tempels, der 70 n. Chr. von den Römern zerstört wurde. Es war dieser
Tempel, den auch Jesus aufsuchte.
Dort, wo sich im Tempel einst das so genannte
Allerheiligste befand, ein Raum, in dem nur der Hohepriester am höchsten
jüdischen Feiertag Jom Kippur eintreten durfte, um Gott anzurufen und für
die Sünden seines Volkes um Verzeihung zu bitten, dort, auf dem Hochplateau,
befinden sich heute die nach Mekka und Medina wichtigsten islamischen
Heiligtümer: der Felsendom, der über jenem Felsen errichtet wurde, wo die
Opferung Isaaks stattfinden sollte und von dem aus, der muslimischen
Überlieferung nach, Mohammed mit seinem Pferd zum Himmel aufstieg.
Unmittelbar daneben erhebt sich die Al-Aksa-Moschee, die der zweiten
Intifada ihren Namen gab.
Nachdem Israel im Sechs-Tage-Krieg den Tempelberg erobert
hatte, und dieser somit nach fast 2000 Jahren wieder in jüdischer Hand war,
beließ der Staat die religiöse Oberhoheit über den Tempelberg allerdings
weiterhin dem muslimischen Waqf. Die islamischen Heiligtümer waren Realität,
der jüdische Tempel Vergangenheit, selbst wenn "Klagemauer" und Berg den
Juden bis heute heilig sind und der Messias, auf den die Juden noch warten,
angeblich eines Tages ebendort den Dritten Tempel errichten und damit
Frieden auf Erden einkehren wird.
Der Waqf hatte die frühere Existenz des jüdischen Tempels
an dieser Stelle nie geleugnet. In einer Broschüre über den Tempelberg, die
er etwa 1930 herausgegeben hat, wird ganz selbstverständlich auf die beiden
jüdischen Tempel verwiesen. Heute hört man vom Waqf andere Töne.
Der im Laufe der Jahrzehnte immer aggressiver ausgetragene
Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat dazu geführt, dass Waqf
und selbst Jassir Arafat in seinen letzten Lebensjahren dazu übergegangen
sind, die Existenz des jüdischen Tempels am Ort des Haram Al-Sharif zu
leugnen, allen archäologischen Funden und Beweisen zum Trotz. Nach dieser
"Lesart" ist nun sogar die "Klagemauer" von Muslimen errichtet worden, eben
dort soll Mohammed einst sein Pferd angebunden habe. Der Kampf, wem
Jerusalem gehört, ist in vollem Gange, und so muss man jeden Anspruch der
anderen Seite total leugnen.
Unterirdische Moschee
Ebenso die Israelis. Gleich nach 1967 begann Israel mit
massiven Grabungen, um den jüdischen Anspruch auf den Tempelberg und damit
auf Jerusalem für "immer und ewig" zu manifestieren. Längst hat man den
größten Teil der Westmauer, die links von der freiliegenden "Klagemauer"
unterirdisch weitergeht, ebenfalls freigelegt. Man fand sogar einen
zugemauerten Eingang zum Inneren des Tempels, wie er in antiken Texten
beschrieben wird, man fand uralte Quader mit hebräischen Inschriften, die
sich auf den Tempel beziehen, und man legte die Straße mit den
Geschäftsständen frei, also jenen Ort, wo Jesus seinen Wutanfall hatte
angesichts des Feilschens und Schacherns vor dem Heiligtum.
In all den Jahren hatten die Muslime die Arbeit der
jüdischen Archäologen mit Argwohn betrachtet, sie fürchteten, die Forscher
könnten in den Berg hineingraben, um in das Innere des jüdischen Tempels zu
gelangen, und so eventuell Felsendom und Al-Aksa-Moschee zum Einsturz
bringen. Angesichts der Tatsache, dass es in Israel eine kleine Gruppe
religiöser Fanatiker gibt, die tatsächlich schon mehrfach versucht hat, die
islamischen Heiligtümer in die Luft zu jagen, damit der jüdische Messias
endlich kommen könne, um den Dritten Tempel zu errichten und somit das "Ende
der Zeiten" einzuläuten, empfanden viele Muslime und natürlich auch der Waqf
die Grabungen als konkrete Bedrohung.
Doch kein israelischer Archäologe hat tatsächlich einen
Weg in das Innere des Berges gesucht, denn die Gefahr, dass durch eine
Unterhöhlung die islamischen Heiligtümer einstürzen könnten, ist real. Die
politischen Folgen wären nicht auszudenken.
Im Gegenzug aber geschah etwas anderes. Seit mehr als zehn
Jahren höhlen nun die Muslime selbst den Tempelberg aus, und zwar von oben,
vom Hochplateau, gleich neben der Al-Aksa-Moschee. Dort, wo sich "Salomons
Ställe" befinden, hat der Waqf eine unterirdische Moschee bauen lassen, die
inzwischen mehr als 10 000 Gläubige aufnehmen kann - mit der Begründung,
Al-Aksa sei inzwischen zu klein, um alle Gläubigen am Freitag oder den hohen
Feiertagen aufzunehmen. Israelische Archäologen wie Eilat Mazar von der
Hebrew University in Jerusalem sind entsetzt über diese Ausgrabungen, da
hier willkürlich Erdreich mit möglichen Relikten aus der jüdischen
Tempelzeit abgetragen wird und die Artefakte vernichtet werden.
Die Bagger der Palästinenser aber graben ungerührt weiter,
die Erde wird abtransportiert und unkontrolliert außerhalb Jerusalems
irgendwo abgeladen. Zum Beweis, dass dem so ist, filmt Israel aus der Luft
die Arbeiten, und man erkennt tatsächlich, dass dort, wo man die
tieferliegenden Schichten bereits freigelegt hat, behauene Wände mit Säulen
und Arkaden zum Vorschein kommen, die wohl dem jüdischen Tempel
zuzuschreiben sind. Die israelischen Archäologen und Rabbiner protestieren
lauthals, da sie davon ausgehen, dass der Waqf auf diese Weise jeden
weiteren Beweis für die einstige Existenz des jüdischen Tempels vernichten
möchte. Immer energischer appelliert man an die israelische Regierung,
einzuschreiten, doch selbst Ariel Scharon wagt es nicht, dem Waqf Befehle zu
geben.
Inzwischen aber haben die arabischen Grabungen fatale
Folgen, denn Teile der uralten Mauern des Tempelbergs drohen zu kollabieren.
Wovor die Archäologen und Statiker schon lange warnen, könnte bald
Wirklichkeit werden. Und natürlich werfen sich Muslime und Juden gegenseitig
die Verantwortung für ein mögliches Unglück vor. Immerhin bemühen sich
Besonnene, zu retten, was zu retten ist. Selbst jordanische Archäologen und
Architekten eilen nach Jerusalem, um zu helfen. Sollte es den Fachleuten
allerdings nicht gelingen, den Einsturz der Mauern zu verhindern, dann
könnte es bald egal sein, wer am 9. Januar palästinensischer Präsident wird.
hagalil.com
30-12-2004 |