Studie aus Bielefeld belegt:
Wachsender Rassismus und Antisemitismus in Deutschland
Max Brym
Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt und
Gewalt-forschung legte Anfang Dezember eine bezeichnende Studie vor. Im Kern
sagt die Studie: Im Vergleich zu 2002 ist die Fremdenfeindlichkeit in
Deutschland stark gestiegen.
Rund 60% der Deutschen sind der Meinung, “es leben zu
viele Ausländer in Deutschland“. Besonders attackiert werden Menschen aus
Ländern mit starker islamischer Religion. Die klassischen NPD-Forderung,
“Ausländer in ihre Heimat abzuschieben, wenn Arbeitsplätze knapp werden“,
teilen immer mehr Menschen und weite Teile der Arbeiterschaft, deren nicht
vorhandenes Klassenbewußtsein sie zu gesinnungsmäßigen “Prolet-Ariern“
macht. In dem rauher werdenden sozialen Klima nimmt die Zahl der Menschen
zu, die etwas gegen Homosexuelle, Behinderte und Obdachlose haben. Über 37%
der Bevölkerung finden es “ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der
Öffentlichkeit küssen“. Selbstverständlich steigt in diesem Klima die Zahl
der überzeugten Antisemiten. So erklären über 10% der Deutschen: “Juden
haben in Deutschland zuviel Einfluß". Laut und offen stimmen 62 % der
Bevölkerung dem historischen Schlußstrich zu. Von Naziverbrechen will dieser
Personenkreis “nichts mehr hören“. Um diese deutsche Geschichtsentsorgung zu
komplimentieren, wird der Konflikt in Israel und Palästina
instrumentalisiert. 52% der Befragten sind der Meinung, “Israel tue den
Palästinensern das an, was die Nazis den Juden angetan haben“ und 44% sagen,
“dass es ihnen aufgrund der Politik Israels verständlich sei, warum Juden
gehaßt werden“. Ergo, die Verbrechen des deutschen Faschismus werden im
grauen historischen Nebel zu einem Randphänomen und die wirklichen
Verbrecher sind kollektiv die Juden wegen der Handlungsweise der Regierung
Sharon. Neben den absurden und den Nazismus verharmlosenden Vergleichen der
Staatspolitik Israels mit der Shoah wird das antisemitische Axiom: “Die
Juden sind selber am Antisemitismus schuld“ hochgehalten. Wehe dem Menschen,
der noch über Auschwitz nachdenkt oder gar darüber reden will. Der Haß der
deutschen Kleinbürgerseele ist ihm gewiß.
Die Studie und ihre Bedeutung
Die Studie belegt ausgezeichnet, wohin sich die deutsche Leitkultur
entwickelt. Sie legt aber auch nahe, über die Verirrungen in den Köpfen
nachzudenken, Ursachen zu entdecken und gesellschaftliche Gegenstrategien zu
entwickeln. Dabei nützt es wenig in Depressionen zu verfallen oder den
Deutschen, wie es einige Teile der deutschen Linken tun, Bomber Harris an
den Hals zu wünschen. Auch ist zu bilanzieren, dass der im Jahr 2000 von der
Regierung ausgerufene “Aufstand der Anständigen“ (falls er jemals ernst
gemeint war) grandios gescheitert ist. Was sind also die Ursachen für die
katastrophale Verdrehung der Bewußtseinslage in Deutschland und was kann
dagegen getan werden? Hierzu einige Anmerkungen mit dem erklärten Ziel zur
Entblödung beizutragen.
Anmerkung 1. Die bürgerliche Mitte befördert Rassismus und
Antisemitismus.
Im Jahr 1998 hielt Martin Walser seine berühmte Frankfurter Paulskircherede.
In der Rede fühlte sich der Literat vom Bodensee von der “Moralkeule
Auschwitz“ bedroht und sprach sich gegen die Errichtung einer zentralen
Gedenkstätte für die ermordeten Juden in Berlin aus. Die deutsche Elite
applaudierte begeistert. Nur der damalige Vorsitzende des Zentralrats der
Juden Ignatz Bubis verweigerte den Applaus. Kurz vor seinem Tod sprach Bubis
den Satz aus: “Ich habe nichts, fast nichts erreicht". Damit kritisierte
Bubis nicht nur den antisemitischen Mob, sondern auch die bürgerliche Mitte
in Deutschland mit ihrer “Walserei“ und “Schlußstrichmentalität“. Die
abgelaufene Debatte über die Entschädigung von Zwangsarbeitern hatte seitens
des BDI einen starken antisemitischen Unterton. Herr Hans Olaf Henkel (ehem.
BDI-Chef) tritt in seinem neuen Buch für eine “Neubewertung der deutschen
Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert“ ein. Henkel will “die deutschen Opfer
des Weltkrieges“ deutlicher erwähnt wissen. Die Literatur und der Film hat
diese Neubewertung seit einiger Zeit vollzogen, Buchpublikationen über die
“verbrecherischen Bombenangriffe“ und über das Schicksal der
Heimatvertriebenen dominieren den Markt. Gedenkstätten werden vor allem im
Osten Deutschlands umgestaltet, es entsteht eine Gedächtniskultur, welche
die DDR mit dem NS-Regime gleichsetzt. Diese Ungeheuerlichkeit normalisiert
nazistische Verbrechen und verharmlost den Hitlerfaschismus. In dem Film
“Der Untergang“ wird dem Publikum der Massenmörder Hitler als leicht
vertrottelter, kranker, netter Onkel präsentiert. Die Würdigung der
“menschlichen Seite Hitlers“ und seiner “Tragik“ rief in den Feuilletons der
großen Zeitungen begeisterte Verzückung hervor. Der Antisemitismus und die
Entsorgung deutscher Geschichte erfolgt aus der Mitte der deutschen
Gesellschaft heraus. Braune Blätter wie die National-Zeitung oder die
Deutsche Stimme knüpfen an diese Soße an und versuchen ihr eine noch
radikalere Würze zu verleihen. Die Hetze gegen Asylbewerber und gegen
Menschen aus islamischen Ländern ist kein Privileg der selbsterklärten
Nazisten. Auch ein Herr Schilly errichtet Flüchtlingslager in Nordafrika und
Kanzler Schröder spricht von der Gefahr, “dass sich Parallelgesellschaften
in Deutschland entwickeln“. Einer seiner Vorgänger im Amt, Helmut Schmidt,
nannte die “Aufnahme ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland einen
Fehler“. Der jetzige CDU Parteitag hat als zentrales Element “die Liebe zum
Vaterland“ entdeckt. Herr Stoiber will von “Nichtdeutschen einen Eid auf das
Grundgesetz“ erhalten. All den genannten Kräften ist gemein, den
Nichtdeutschen als Problemfall darzustellen und entsprechend zu handeln.
Natürlich sind aus dem etablierten Parteienspektrum am Rande auch Worte
gegen Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit zu vernehmen. Diese Worte
widersprechen den realen Taten, sie sind Lippenbekenntnisse nach dem Motto:
“Der Dieb schreit, haltet den Dieb“. Wer von den Eliten in diesem Land
ernsthafte Taten gegen Islamophobie, Rassismus, Schwulenfeindlichkeit und
Antisemitismus erwartet, könnte genauso gut von einer Kuh hervorragende
Leistungen im Eiskunstlauf erwarten.
Anmerkung 2: Ökonomische Basis und Überbau
Real gerechnet gibt es in Deutschland mehr als 6 Millionen Menschen ohne
Arbeit. Die Regierung Schröder betreibt mit der Agenda 2010 im allgemeinen
und mit Hartz IV im besonderen ein soziales Verelendungsprogramm.
Gegenwärtig jagt eine asoziale Notverordnung die andere. Das bürgerliche
Establishment nennt ihre Politik - die vielen Leuten das Blut aus den Zehen
treibt, weil sie sich keine neuen Schuhe mehr leisten können -
“alternativlos“. Alternativlos soll es demzufolge sein, dass die Gewinne der
DAX notierten deutschen Unternehmen explodieren (bei Daimler Chrysler stieg
er im Jahr 2004 um 677 %). Der neue Armutsbericht für die BRD gibt darüber
Auskunft, wie immer mehr Menschen verarmen und eine kleine Schicht von
Multimillionären immer reicher wird (das Privatvermögen der Bundesbürger
schnellte von 3,9 Billionen Euro im Jahr 2002 auf fast 5 Billionen Euro Ende
2004). Die Medienlandschaft predigt “Eigenverantwortung“ und “sozialen
Umbau“. Das ökonomische Gesetz, nach dem der Stärkere den Schwächeren frißt,
dringt als Leitgedanke immer stärker in das Bewußtsein. Die
Ellenbogengesellschaft feiert sich in jeder Talkshow selbst ab.
Geschichtliche Verantwortung (Holocaust) und Solidarität werden an den Rand
gedrängt. Die betriebswirtschaftliche Rechnung, das Prinzip “jeder ist sich
selbst der nächste“ und “nach oben buckeln und nach unten treten“ sind die
relevanten Leitprinzipien. Der Standort Deutschland ist ein wichtiges Gut
und hat sich mit Macht in der Welt durchzusetzen. Die Standortpropaganda ist
ein nationalistisches Projekt und ist gegen andere Länder gerichtet. Die
Ergebnisse der Untersuchung des Bielefelder Institutes können demzufolge
niemanden überraschen. Es sei denn, es wird der Zusammenhang zwischen der
ökonomischen Basis, dem Überbau und der deutschen Tradition ignoriert.
Natürlich ist es im Interesse der sozial privilegierten Schicht, wenn sich
in einer wirtschaftlichen Krise die Wut und der Haß breiter Massen nicht
gegen die “Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft“ oder gar das
System richten. Rassismus und Antisemitismus sind wichtige Mittel, um das
System in Krisenzeiten sattelfest zu machen. In jeder Krise steigt bei einer
“privilegierten Nation“ der latent vorhandene Rassismus und Antisemitismus
an. Nach dem Gründerkrach 1873 formierte sich in Deutschland die
antisemitische Partei des Hofpredigers Stöcker, die NSDAP wurde nach dem
Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 zur Massenpartei. Diese Gruppen und
Parteien hatten ihre Eigendynamik und waren der alten Elite nicht unbedingt
sympathisch, ab einer gewissen Stufe wurden sie allerdings von den damaligen
Eliten als notwendig empfunden, um mit der roten Gefahr fertig zu werden.
Diese rote Gefahr gibt es im heutigen Deutschland nicht, sehr wohl aber die
Gefahr von sozialen Protesten. Aus ökonomischen Gründen wird demzufolge das
Bürgertum mit dem in der Studie beschriebenen “Ressentiments“ und vielleicht
mit der NPD dauerhaft leben können.
Anmerkung 3: Erwünschter und unerwünschter Antikapitalismus
Nach wie vor steht der Plan von General Motors, an den Opel Standorten in
Deutschland 10.000 Arbeitsplätze zu vernichten. Über sechs lange Tage wehrte
sich die Opel Belegschaft in Bochum auf multinationaler Grundlage gegen
diese Maßnahme. Die Belegschaft verwahrte sich während des Streiks
(Informationsveranstaltung) gegen Anbiederungsversuche der nazistischen NPD.
Den Beschäftigten war klar, nur in der Einheit der Arbeiterschaft gibt es
die Chance, gegen die Pläne der Geschäftsleitung zu bestehen. Den Kollegen
bei Opel Bochum wurde während des Kampfes dringlich von ihrer Radikalität
abgeraten. Gegen den Kampf sprach sich die Wirtschaftspresse, aber auch
Superminister Clement aus. Augenscheinlich witterten sie die Gefahr, dass
sich der Kampf der Opelbeschäftigten verbreiten könnte. Denn auch in rein
deutschen Unternehmen stehen Stellenabbau sowie generelle Kostensenkungen
auf der Agenda. Dennoch wurde den Opelbeschäftigten “wohlwollende
Aufmerksamkeit“ zuteil. Die Bild-Zeitung wetterte gegen die
Wild-West-Methoden amerikanischer Manager, der Stern attackierte das
“grausame amerikanische Management“ in seiner Titelstory. Statt über ganz
normale kapitalistische Vorgänge zu berichten, die in Deutschland
allgegenwärtig sind, wurde ein spezieller raubtierhafter US-amerikanischer
Managementkapitalismus konstruiert. Antikapitalismus ist durchaus erlaubt,
solange er auf nationalistischer Basis bleibt. Die Berichterstattung über
die Auseinandersetzung bei Opel zeigte den Kern der deutschen Ideologie,
wonach es einen guten deutschen und einen schlechten US-amerikanischen
Kapitalismus gibt. Vergangene Woche machte sich Herr Piper in der SZ
Gedanken, wie man die hohen Gewinne der Deutschen Bank bei gleichzeitig
stattfindenden Personalabbau ungefährlich verkaufen kann. Pipers Quintessenz
lautete: “Internationale Kapitalanleger verlangen nun mal eine hohe
Rendite.“ Ergo, nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern irgendwelche
anonyme Finanzspekulanten stecken hinter dem Debakel. Diese personifizierte
Darstellung wird von offen rechten und antisemitischen Schreibern erweitert,
der Antisemit löst dann das angebliche Rätsel, indem er den Juden entdeckt.
Verkürzte oder nationalistische Kapitalismuskritik landet aufgrund der
Tradition des Antisemitismus notwendigerweise bei den Protokollen der Weisen
von Zion, egal ob der SZ-Schreiber dies beabsichtigt oder nicht.
Anmerkung 4: Argumente und soziale Kämpfe
Die Studie aus Bielefeld belegt, dass dem sehr stark gewordenen Rassismus
und Antisemitismus argumentativ entgegen getreten werden muß. Dabei hat man
sich vor falschen und unzuverlässigen “Freunden“ zu schützen. Argumente
alleine können jedoch nur zum Teil Wirkung entfalten. Jedes Argument gegen
deutsche Zustände und Bewußtseinslagen muß mit Taten unterlegt werden. Statt
einem faulen, latent antisemitischen Antikapitalismus, gilt es die Frage
nach einem wirklichen Antikapitalimus zu stellen. Es wäre eine fundamentale
Aufgabe der Gewerkschaften, auch im eigenen Interesse, den Widerstand gegen
Hartz IV praktisch auf die Straße zu tragen. Soziale Kämpfe sind angesichts
der Lage im Land notwendig und beinhalten die Chance zu einem anderen
Diskurs. Gemeinsame Aktionen von Deutschen und Nicht-Deutschen gegen
Arbeitsplatzabbau und sozialen Kahlschlag bringen die Menschen einander
näher. Die Argumente gegen Rassismus und Antisemitismus erhalten Fleisch und
Blut, dies entsteht durch gemeinsames Handeln und dem damit einhergehenden
Lernprozeß. Solange die Realität ökonomischer Herrschaft verbunden mit
ideologischer Dominanz nicht zur Disposition gestellt wird, kann der gute
Artikel sowie das Argument gegen Fremdenfeindlichkeit nur beschränkt wirken.
Die Studie des Institutes aus Bielefeld sollte Anlaß geben, eingefahrene
Verhaltensweisen, Politikmuster und Routinen zu überprüfen.
Praxis trifft Theorie:
Eine Tagung der Amadeu
Antonio Stiftung suchte nach "Perspektiven der Projektarbeit gegen
Antisemitismus"
Den schönsten Spruch gab Doris Akrap von der Kreuzberger
Initiative gegen Antisemitismus zum Besten...
Tagung und Bielefelder Studie:
Zivilgesellschaft und
Antisemitismus
"Perspektiven der Projektarbeit gegen Antisemitismus" standen im Mittelpunkt
einer gleichnamigen Tagung der Amadeu Antonio Stiftung am 2. Dezember 2004
im Centrum Judaicum in Berlin...
Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit:
Es geht um die
Aufwertung der Eigengruppe
Zunehmender Hass auf Schwule, Muslime, Juden, Obdachlose...
Israelkritik und Antisemitismus:
Unter
deutschen Bedingungen
Mehr als die Hälfte aller Deutschen meinen, das Verhalten Israels gegenüber
den Palästinensern sei grundsätzlich nicht von dem der Nazis im Dritten
Reich gegenüber den Juden zu unterscheiden...
Kommentar zur Bielefelder Studie:
Ein Blick ins
Internet genügt
Ein kurzer Blick ins "Tagessschauforum"
genügt, um zu begreifen wovon die Studie redet. Die Möglichkeit des neuen
Auschwitz ist nahe gerückt wie nie zuvor. Es wird das Ende sein. Die Welt
hat nicht verdient, ein zweites Auschwitz zu überleben...
Bielefelder Studie:
Spiegel wirft
Politik Bagatellisierung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vor
Der Präsident des Zentralrats der Juden
in Deutschland, Paul Spiegel, sieht in der Bielefelder Studie über wachsende
Ausländerfeindlichkeit und zunehmenden Antisemitismus einen "dringenden
Weckruf für Politik und Gesellschaft"...
Unter den Teppich kehren:
Ist
Antisemitismus überhaupt ein Problem?
Antisemitismus ist zwar ein Problem der gesamten
Gesellschaft, wahrgenommen wird er aber noch immer am ehesten von Juden...
Studie:
"Frauen sind
rassistischer"
Sozialforscher haben ermittelt, dass Fremdenfeindlichkeit in
Deutschland seit 2002 stark gestiegen ist. Auffallend ist ein starker
Mann-Frau-Unterschied...
Der Antisemitismus der
Nationalsozialisten:
Kampf gegen die "jüdische Weltverschwörung"
"Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der
Judensache", schrieb Klemperer, "ich begreife nicht, warum sie diesen
Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber
wahrscheinlich mit ihnen"...
hagalil.com
07-12-2004 |