Liberales Klima:
Durchs brave Kurdistan
Während der Rest des Landes im Terror
versinkt, boomt der kurdische Nordirak. Doch solange alle von der Ölrente
leben, bleibt eine Demokratisierung schwierig. Ein Bericht aus Suleymaniah.
Von Thomas von der Osten-Sacken
Jungle World 53 v.
22.12.2004
Besucher, die das erste Mal in den Nordirak kommen, sind
in der Regel verwirrt, wie groß die Gegensätze zwischen dieser überwiegend
kurdischen Region und dem angrenzenden Zentralirak sind. Während in Mossul
Kopfgelder für getötete "Juden, Amerikaner und Kurden" gezahlt werden, die
Stadt gepflastert ist mit Plakaten, die unverschleierte Frauen mit dem Tod
bedrohen, und unzählige Christen aus Angst vor islamistischen Banden aus der
Stadt geflohen sind, scheint Arbil, die Hauptstadt Irakisch-Kurdistans nicht
bloß 40 Kilometer entfernt zu sein, sondern zu einem anderen Land zu
gehören. Wer sich in Mossul stolz Widerstandskämpfer nennen kann, wird in
Arbil als Terrorist festgenommen und in eines der mit Islamisten
übervölkerten Gefängnisse verfrachtet.
Ist es in Mossul oder Bagdad lebensgefährlich, nach Einbruch
der Dämmerung auf die Straße zu gehen, so steht man in Arbil, Suleymaniah
und Dohuk abends regelmäßig im Stau oder quält sich durch überfüllte
Einkaufszentren. Nicht Explosionen oder Kugeln, sondern Autounfälle dürften
hier die Todesstatistik anführen. Alleine in Arbil sind seit dem Ende des
Embargos im vergangenen Jahr 70 000 neue Autos zugelassen worden.
Selbst oberflächlichen Betrachtern dürfte in kürzester Zeit
klar werden, warum arabische Nationalisten und Islamisten die Kurden als
Verräter brandmarken. Die Wiederwahl von George W. Bush wurde im Norden des
Irak mit Freude und Erleichterung begrüßt, ein Reporter des in Bagdad
ansässigen Institutes for War and Peace Reporting suchte in Suleymaniah
vergeblich nach Anhängern von John Kerry. Auch Arafat weinten die Kurden
keine Träne nach, im Gegenteil, man erinnerte sich an die unzähligen
Brüderküsse, die der Palästinenserführer mit Saddam Hussein ausgetauscht
hatte.
Fast täglich werden Anhänger islamistischer Gruppen von den
kurdischen Sicherheitskräften verhaftet, ungezählt sind die versuchten
Autobomben- oder Suizidanschläge. Erst im September konnte ein Anschlag auf
das größte Hotel in Suleymaniah in letzter Minute verhindert werden. Es sei,
hört man immer wieder, vor allem der effektiven Aufklärung des "Asayisch",
des kurdischen Geheimdienstes, zu verdanken, dass es den Terroristen bislang
erst einmal gelang, ein größeres Massaker anzurichten.
Umso häufiger werden Kurden in anderen Teilen des Landes
ermordet. In Tikrit, der Geburtsstadt Saddams, fand man erst vor wenigen
Tagen die verstümmelten Leichen dreier kurdischer Händler aus Arbil. Dies
sei eine Vergeltung an den Kollaborateuren und Ungläubigen, hieß es in einer
Erklärung, die an den Körpern angebracht war. Der Terror treibt immer mehr
Kurden dazu, aus zentralirakischen Städten in den Norden des Landes zu
fliehen.
Es ist nicht nur die Haltung der irakisch-kurdischen
Politiker, sondern auch ein sich in größeren Städten ausbreitender
Lebenswandel, der den kurdischen Nordirak vom Rest des Landes unterscheidet.
Demonstrativ hielten sich dieses Jahr viele Einwohner der Stadt Suleymaniah
nicht an die Fastenregeln im Ramadan. Alkoholläden blieben geöffnet, auf der
Straße wurde geraucht, die Kaffeehäuser waren auch tagsüber gefüllt. Immer
lauter beschweren sich die Geistlichen über eine sich ausbreitende laxe
Moral in der Stadt und den schwindenden Respekt, der ihnen entgegengebracht
werde.
Deutlich zeigt die neue Haltung sich auch in der diesjährigen
Fernsehserie, die der kurdische Sender allabendlich während des Ramadans
ausstrahlte. Wie die beliebten ägyptischen Serien handelt "Wasta Jumha" von
Liebe und Herzschmerz. Viele Tränen werden vergossen, und Liebende finden
nicht zueinander, weil böse Widersacher Intrigen gegen sie spinnen.
Bemerkenswert allerdings ist die Rollenverteilung: Die Guten trinken Whisky,
sind westlich gekleidet und hören Popmusik, die Bösen dagegen tragen
islamische Kluft und zitieren ständig Koransuren.
Auch in dem an der iranischen Grenze gelegenen Biara, das
drei Jahre lang als Zentrale der islamistischen Ansar al-Islam fungiert und
Musab al-Zarqawi beherbergt hat, klagt der örtliche Imam darüber, dass die
Menschen der Moschee fernblieben. Enthauptungen, Suizidattacken und die
täglich über arabische Satellitenkanäle ausgestrahlten Bilder des
"Widerstands" tun ein Übriges, um dem Ruf des Islam zu schaden.
Und in der Tat: Freitags sind die Moscheen weniger gefüllt
als die neu eröffneten Fastfoodrestaurants wie der kurdische Hamburgerladen
Ma Donal oder die unzähligen Internetcafés. Besonders Jugendliche pflegen
ihre freien Tage in Chatgroups zu verbringen, auch Sexseiten sind äußerst
gefragt. Lilo Wanders hat inzwischen Franz Beckenbauer den Rang des
beliebtesten Deutschen abgelaufen.
Zwar ist auch in Suleymaniah die Moral noch immer rigide, im
Vergleich zu anderen Regionen des Nordirak wird es dennoch ironisch als das
"San Francisco Kurdistans" bezeichnet. Unverheiratete Pärchen können sich
ohne Begleitung im neu errichteten Azadi Park treffen und Hand in Hand
spazieren gehen, viele Restaurants haben die Geschlechtertrennung
aufgehoben, die ansonsten im Nahen Osten üblich ist. Das Restaurant "Europa"
rühmt sich sogar wegen seiner weiblichen Bedienung, und kürzlich hat ein
erster nur von Frauen geführter Supermarkt eröffnet.
Westliche Mode "made in Turkey" verbreitet sich, die ersten
Männer lassen die Haare wachsen, und viele Frauen verzichteten auch im
Ramadan darauf, ein Kopftuch zu tragen. Inzwischen regeln sogar einige
Polizistinnen das Verkehrschaos auf den Hauptstraßen.
Der Wandel allerdings geht nicht einher mit großen
politischen Forderungen, von einer Studenten- oder Jugendbewegung ist nichts
zu spüren. Eine einzige studentische Demonstration fand in den vergangenen
zwei Monaten statt, sie richtete sich gegen die schlechte Wasserversorgung
in einem neu errichteten Studentenwohnheim.
Und diese Veränderungen beschränken sich weitgehend auf die
Städte, auf den Dörfern herrschen Tradition und Konservatismus. In der
südwestlich von Suleymaniah gelegenen Region Germian etwa sind einer Studie
zufolge 60 Prozent der Frauen Opfer jener meist aus Afrika bekannten
Klitorisbeschneidungen, und so genannte Ehrenmorde an Frauen sind keine
Seltenheit.
Aber überall gilt das "enrichissez-vous", das seit dem Sturz
Saddam Husseins zum Motto vieler Kurden geworden ist. Neue Autos,
Mobiltelefone, Satellitenanlagen und türkische Möbel werden zu Tausenden
verkauft. Mehr als eine Milliarde Dollar sei, so Salar Rashid, der
Menschenrechtsminister in Suleymaniah, seit dem Mai 2003 im Nordirak
investiert worden. Da hier Ruhe herrscht, eröffnen türkische Bauunternehmen
ebenso wie Import- und Exportfirmen in den kurdischen Städten ihre
Dependancen. Die Mieten sind seit dem Mai 2003 um fast 400 Prozent in die
Höhe geschnellt, und aus allen Teilen des Landes, selbst aus der Hauptstadt
Bagdad, strömen Arbeiter in die kurdischen Gebiete, wo die Löhne viermal so
hoch sind wie im Zentral- oder Südirak.
Anders als im Süden des Landes sind die bevorstehenden Wahlen
hier kein großes Thema. Einer kürzlich in der Zeitung Hawlati
veröffentlichten Umfrage zufolge würden 70 Prozent der Kurden für
parteiunabhängige Kandidaten stimmen. Jedoch dürfte diese Zahl einem
gewissen Wunschdenken geschuldet sein. Hawlati genießt inzwischen den Ruf
einer unparteilichen, den regierenden Parteien gegenüber äußerst kritisch
eingestellten Zeitung, währen die meisten anderen Medien sich in
Parteibesitz befinden. Wie in allen anderen Segmenten der Gesellschaft
dominieren die Parteien noch immer die Medienlandschaft.
Die Demokratische Partei Kudistans (KDP) und die Patriotische
Union Kurdistans (Puk) haben inzwischen bekannt gegeben, nicht nur für die
Wahlen der irakischen Nationalversammlung, sondern auch für die des
kurdischen Regionalparlaments in einer gemeinsamen Liste zu kandidieren.
"Das ist vollkommen absurd und so, als würden in den USA Demokraten und
Republikaner gemeinsam antreten", kommentiert Assi Shaker, ein Student der
Universität Suleymaniah, die Entscheidung.
Und so recht glaubt hier niemand an die durchschlagende
Wirkung von Wahlen, die nach Ansicht vieler Kurden eh zu früh abgehalten
werden. Dabei geht es, glaubt man den Verlautbarungen der irakischen
Übergangsregierung und des Weißen Hauses, um nicht weniger als die Schaffung
eines neuen demokratischen und föderalen Iraks. Schließlich werden nicht nur
die Nationalversammlung und das kurdische Regionalparlament gewählt, sondern
auch erstmals die Gouverneure der 18 irakischen Provinzen.
So sehr man aber in den kurdischen Gebieten dankbar ist für
den Sturz des verhassten Regimes, so wenig schenkt man vollmundigen
Verlautbarungen Glauben. "Im Nahen Osten glaubt man erst an Demokratie, wenn
Regierungen auch wieder abgewählt worden sind. Wahlen gab es schon viele.
Nur: Meist blieben jene, die sich haben wählen lassen, bis ans Ende ihrer
Tage an der Macht", meint Aram Hauramani, der früher in der Kommunistischen
Partei aktiv war. Eine Erfahrung, die man auch im Nordirak machen musste, wo
1992 erstmalig mit großer Euphorie gewählt wurde. Aber dann brach 1994 der
interne Parteienkrieg aus, und seitdem ist die kurdische Region de facto
gespalten, der Norden wird von der KDP, der Süden von der Puk regiert. Jedes
Ministerium existiert doppelt, sowohl in Suleymaniah als auch in Arbil. Zwar
versuchen die kurdischen Parteien in Bagdad mit einer Stimme zu sprechen, ob
und wie es gelingen soll, die Verwaltungen im Nordirak zusammenzulegen, ist
jedoch schleierhaft. Niemand mag daran glauben, dass eine der beiden
Parteien bereit ist, Macht und Einfluss abzugeben. Seit Wochen hält sich
auch hartnäckig das Gerücht, beide Parteien hätten begonnen, Stimmen zu
kaufen. Wer schwört, eine der Parteien zu wählen, soll mit bis zu 70 Dollar
belohnt werden.
Die kurdischen Parteien sind weniger programmatisch
ausgerichtete Gruppierungen mit klar unterscheidbaren Zielen. Sie vereinen
vielmehr unzählige Funktionen in sich: Sie sind größter Arbeitgeber in der
Region, unterhalten eigene Milizen und Hilfsorganisationen, sind finanziell
an fast allen wirtschaftlichen Aktivitäten in Kurdistan beteiligt und
kassieren die Grenzzölle.
Im Kleinen zeigt sich in Kurdistan so jenes Dilemma, vor dem
steht, wer den Nahen Osten demokratisieren will. Denn seit dem vergangenen
Jahr flossen Millionen an Ölgeldern ebenso wie US-amerikanische Hilfe in den
Norden, also blähten die Verwaltungen sich in fast kafkaesk anmutender Weise
auf. Allein im Gebiet der Puk, wo weniger als zwei Millionen Menschen leben,
arbeiten den Informationen eines Mitarbeiters des Ministeriums für
Kooperation zufolge inzwischen 142 000 Menschen im öffentlichen Dienst.
Kommt man in eines der Ministerien, teilen sich oft zwei oder drei
Angestellte einen Schreibtisch. Statistisch steht so in jeder Familie
mindestens ein Mitglied im Sold der Regierung. Wie viele in den
unterschiedlichen Organisationen der Parteien tätig sind, ist unbekannt.
So etwas wie ein produktiver Sektor dagegen existiert nicht
einmal rudimentär. Gerade mal zwei Zementfabriken kann die Regierung ihr
eigen nennen. In den neuen Supermärkten, die sich größter Beliebtheit
erfreuen, findet sich schwerlich ein irakisches Produkt. Außer
Hamburgersauce und Grillkohle stammen alle Waren aus den umliegenden
Ländern, Ostasien oder Europa. Nicht einmal einfachste landwirtschaftliche
Güter, die es im kurdischen Nordirak inzwischen wieder im Überfluss gibt,
werden verarbeitet. Selbst Tomatenpaste und Sonnenblumenöl werden aus der
Türkei importiert.
Die kurdische Regionalregierung kontrolliert weitgehend die
Verteilung der eingehenden Ölrente und der Hilfsgelder. Wie in allen anderen
nahöstlichen Staaten zählen deshalb Loyalität und gute Beziehungen, will man
weiter kommen oder überhaupt eine der begehrten Stellen im öffentlichen
Dienst erhalten. Entsprechend schwach bleibt der private Sektor ausgebildet,
in dem andere Qualitäten als Loyalität und das richtige Parteibuch zählen.
"Es herrscht eine Konsumlogik", klagt die Rechtsanwältin
Talar Abdullah, "niemand will arbeiten, aber alle wollen möglichst schnell
viel Geld verdienen. Deshalb strebt jetzt jeder danach, von der Regierung
angestellt zu werden."
Obwohl sich inzwischen viele Kurden aus dem Ausland in der
regionalen Wirtschaft engagieren, stammen die meisten Firmen, die ins Land
strömen, um sich lukrative Bauaufträge zu ergattern, aus der Türkei. Überall
entstehen neue Wohnsiedlungen, werden Straßen ausgebaut und schießen
Supermärkte, Internetcafés und neue Hotels aus dem Boden. Selbst zwei
internationale Flughäfen, in Arbil und Suleymaniah, sind inzwischen
betriebsbereit. Die Grundfläche Suleymaniahs hat sich in den letzten Jahren
nahezu verdoppelt. Und mitten in den alten Bazarvierteln der Städte
entstehen geschmacklose, verglaste drei- bis vierstöckige Einkaufszentren,
in denen die neueste türkische Mode feilgeboten wird, während alte Häuser
reihenweise abgerissen werden.
Aber das meiste Geld fließt sofort wieder ins Ausland zurück;
Fabriken, die lokale Produkte weiterverarbeiten, sucht man vergebens. "Ohne
Öl wären wir ärmer als Somalia, kein einziges kurdisches Produkt ist auf dem
Weltmarkt konkurrenzfähig", meint Talar. "Wenn dem Irak eines Tages die
Ölquellen versiegen und wir so weitermachen, dann gehen hier alle Lichter
aus."
So geben Hilfsorganisationen zwar Millionen für
Demokratisierungskurse aus, und überall finden Seminare statt, die auf die
Wahlen vorbereiten sollen, nur täuscht diese Geschäftigkeit nicht über das
grundlegende Dilemma hinweg, das Haure Amanj, ein Kurde, der lange in den
USA gelebt hat, in einem Gespräch auf den Punkt bringt. In den USA sei
Demokratie entstanden, weil die Kolonien Ende des 18. Jahrhunderts nicht
mehr bereit gewesen seien, Steuern zu zahlen, ohne über die Verwendung
dieser Gelder mitzubestimmen: "No taxation without representation". Im
Nordirak dagegen hingen die Menschen von den Geldern der Regierung und
Parteien ab, Steuern zahle niemand, das Geld komme aus den Ölquellen.
Folgerichtig betrachte man Parteien nicht als Interessensvertretungen,
sondern als Geldverteilungsmaschinen. Zudem sei deren Regierungsstil
undurchsichtig und undemokratisch, niemand wisse, wie und unter welchen
Bedingungen man etwa zum Minister werde.
Trotz aller Skepsis gegenüber den Wahlen ist das Klima weit
liberaler geworden. Häufiger und offener hört man Kritik an den kurdischen
Parteien. Da aber zugleich die politische Entwicklung im Zentral- und
Südirak viele Kurden mit Sorge erfüllt, können die kurdischen Parteien mit
breiter Unterstützung bei den Wahlen für die irakische Nationalversammlung
rechnen. Zu groß ist die Sorge, in Zukunft von einer schiitisch-religiösen
Mehrheit dominiert zu werden.
Diese Befürchtungen allerdings bestimmen den Alltag kaum, zu
fern sind inzwischen Bagdad und all die dort herrschende Unsicherheit. Kaum
ein Kurde überquert, wenn er nicht unbedingt muss, die ehemalige
Demarkationslinie. Eine Art "Jerusalem-Syndrom" macht sich in Städten wie
Suleymaniah breit: Auch wenn die Gefahr terroristischer Anschläge enorm ist
und die unsicheren Gebiete oft nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt sind,
tut man so, als befände man sich auf einer sicheren Insel. Solange eine
Zentralregierung sich nicht offen in kurdische Angelegenheiten mischt, die
verhassten Islamisten bekämpft und sich zumindest nominell für einen
föderalen Status Irakisch-Kurdistans ausspricht, ist es vielen Kurden völlig
gleichgültig, ob diese Regierung gewählt oder ernannt ist, meint Assi
Shaker: "Nach 50 Jahren Krieg, Unterdrückung, Angst und Unsicherheit wollen
die meisten Menschen hier einfach ihr Leben genießen und dabei möglichst gut
verdienen."
hagalil.com
23-12-2004 |