Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der
Universität Wien und arbeitet als freier Autor in Tel Aviv. Er gehört zur
Gruppe "Café Critique" und ist unter anderem Herausgeber des im Freiburger
ça ira-Verlag erschienenen Sammelbandes
"Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum
demokratischen Faschismus."
Interview von Ralf Fischer
R.F.: Sie waren auf der Konferenz "Antisemitismus in der deutschen
Linken" der Hans Böckler Stiftung Ende November 2004 in Berlin Referent zum
Thema "Nahost-Konflikt und deutsche Linke." Ihre Debatte mit der Berliner
Journalistin Elfriede Müller auf der Konferenz war für viele Teilnehmer
einer der emotionalen Highlights. Können sie sich erklären wieso das Thema
so gefühlsbetont diskutiert wird? Und welche Reflexe sind dabei besonders in
der Linken immer wieder zu beobachten?
S.G.: Wenn das Podium mit Elfriede Müller und mir von vielen Teilnehmern
als "emotionales Highlight" gesehen wurde, zeigt das nur, daß es auch diesen
Teilnehmern nicht um Inhalte und Kritik ging, sondern um Politshow. Für
meinen Teil würde ich in Anspruch nehmen, daß ich nicht sonderlich
"gefühlsbetont" diskutiert habe, ja daß ich über vieles gar nicht diskutiert
habe, da es, wie ich gleich eingangs bei meinem Referat festgestellt hatte,
nicht möglich ist, über die Rationalisierung antisemitischen Massenmordes,
die sich in dem Dossier "Schuld und Erinnerung" von Elfriede Müller und
anderen (1) findet, Argumente auszutauschen. Mir ging es darum,
darzustellen, warum man darüber keine wissenschaftliche Debatte führen kann,
und aufzuzeigen, wie solch ein aufgeklärt daherkommender Antizionismus
funktioniert. Elfriede Müller hat darauf tatsächlich reflexhaft reagiert,
indem sie mit den obligatorischen Schlagworten um sich geworfen hat, die für
das Ressentiment gegenüber antideutscher Kritik charakteristisch sind:
"Projektion", "Identifikation", "NS-Relativierung", "Rassismus" und -
besonders dumm und ekelhaft - "deutsche Schuldabwehr".
Diese Schlagworte klingen toll, auch irgendwie kritisch und kommen bei
vielen Linken gut an, da sie einem die Mühe ersparen, sich beispielsweise
mit der argumentativen Begründung dafür auseinander zu setzen, warum ganz
bewußt, jenseits von Provokation und Polemik, in der antideutschen Kritik
Begriffe wie "islamistische Nazis" oder "Ummasozialismus" verwendet werden.
Letzeres ist übrigens ein Begriff, der meiner Einschätzung nach zur
Charakterisierung der djihadistischen Mordbrennerei sowohl in Anlehnung als
auch in Abgrenzung zu ihrem nationalsozialistischen Vorbild besonders gut
geeignet ist. Die notwendige Diskussion über die richtige Begrifflichkeit in
der Auseinandersetzung mit dem Islamismus ist ja keineswegs abgeschlossen.
Wie sollte sie auch? Schließlich ist das ein Phänomen, mit dem sich
Kommunisten und Linke erst seit einer vergleichsweise kurzen Zeit
beschäftigen. Die erwähnten Schlagworte sind aber gerade kein Beitrag zu
solch einer Diskussion, sondern zeugen vom Unwillen, eine solche zu führen.
Sie sind viel in Österreich und Deutschland unterwegs. Können sie
Unterschiede zwischen der Linken in Deutschland und Österreich ausmachen?
Gibt es überhaupt welche?
In Österreich finden viele Entwicklungen mit einiger Verzögerung statt.
Auch in der Linken. Was die Kollegen von der Initiative Sozialistisches
Forum aus Freiburg bei der deutschen Linken diagnostiziert haben, zeigt sich
aber ebenso deutlich bei der österreichischen: ein Abgrund an
Aufklärungsverrat. Dieser Verrat, der sich unter anderem darin ausdrückt,
daß man viel von Betroffenheit redet, Gesinnungsnachweise veröffentlicht und
hochmoralische Bekenntnisse von sich gibt, aber keinen materialistischen
Begriff von der Sache entwickelt, die es zu kritisieren gilt, macht sich in
letzter Zeit leider auch bei jenen Linken bemerkbar, die man in den letzten
Jahren nach endlosen Diskussionen immerhin soweit gebracht hatte, daß sie
mit Israelsolidarität irgendetwas anfangen konnten.
Wohin das noch führen wird, läßt sich im Augenblick nicht abschätzen. Ich
denke, daß sich in solchen Entwicklungen sowohl in Österreich als auch in
Deutschland zeigt, daß es auch in der israelsolidarischen Linken einen noch
aus Auseinandersetzungen vom Beginn der neunziger Jahre herrührenden
Gramcsianismus und Althusserianismus gibt. Die taugen zum einen gut dazu,
entgegen den eigenen Einsichten an einem linken Politizismus und einem
positiven Bezug auf die linke Szene festzuhalten; zum anderen dienen sie,
insbesondere wenn sie sich unkritisch auf die Diskussionen über
kulturalistischen und differentialistischen Rassismus von vor rund fünfzehn
Jahren beziehen und dabei so tun, als hätte sich seit dem nichts
Wesentliches verändert, zu einer "antirassistisch" daherkommenden
Relativierung der Islamismuskritik.
Bei dieser Islamismuskritik wäre es im übrigen auch sinnvoll, wenn bei den
Debatten in der Bundesrepublik stärker zur Kenntnis genommen würde, daß sich
das Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und Islam nicht in allen Ländern so
entwickelt hat wie in Deutschland. In Österreich beispielsweise existiert
durchaus ein gesellschaftlich relevanter antiarabischer Rassismus, der sich
des Ressentiments gegenüber dem Islam bedient, etwas also, das in
Deutschland insbesondere in den Medien mittlerweile in sehr viel geringerem
Ausmaß existiert als die meisten Linken behaupten - was aber nicht heißt,
daß es so etwas in Deutschland nun überhaupt nicht mehr gibt. In Österreich
mit seinem politischen Katholizismus und dem eher antiquiert-rassistischen
Anhang der FPÖ ist die Situation diesbezüglich von jener in der BRD
jedenfalls zu unterscheiden.
Ich habe den Eindruck, daß die jeweils andere Lage weder in der deutschen
noch in der österreichischen Linken reflektiert wird. Zur Kritik des
Rassismus, sei es eines rot-grünen, multikulturell-kulturrelativistischen
und offen islamfreundlichen, sei es eines traditionalistischen, auf das
christliche Abendland pochenden, braucht man allerdings weder den
aufgeblasenen Begriffsapparat poststrukturalistischer Theoriebildung, noch
neoalthusserianische Rassismusstudien und schon gar nicht eine
identitätspolitische Selbstbezüglichkeit, welche die moralische Dignität des
eigenen Handelns auf Podien und in Texten permanent zur Schau stellt,
sondern man braucht einen aus der Kritik der politischen Ökonomie zu
entwickelnden materialistischen Rassismusbegriff - so ziemlich das Gegenteil
von political correctness also.
Die Polarisierung zwischen sogenannten Antideutschen und
Antiimperialisten wird häufig als triftiger Grund vorgeschoben, weshalb es
sich nicht ziemt den weitverbreiteten Antizionismus in der Linken zu
thematisieren und kritisieren. Die Einheitsfront gegen den organisierten
Neonazismus soll nicht gespalten werden. Die Vertreter dieser Strategie
behaupten aus den Fehlern der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts
gelernt zu haben. Ist dies die richtige Lehre aus dem Nationalsozialismus?
Kritik zurückzustecken, um mehr Menschen zu erreichen?
Wie soll man mit Freunden und Unterstützern des islamistischen und
panarabischen Judenmordens gegen Nazis demonstrieren? Das ist mir
unbegreiflich. In Österreich, auch dies ein Unterschied zu Deutschland, ist
die Antifa recht stark von trotzkistischen Gruppen geprägt, von denen einige
ganz offen die Zusammenarbeit mit Hamas oder Hisbollah propagieren und sich
mit den baathistischen und islamistischen Killern im Irak solidarisieren. Da
kann es keine Gemeinsamkeiten geben.
Auch antideutsche Gruppen arbeiten ja in breiten Bündnissen, z.B. mit
zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammen. Welche Maßstäbe sind ihrer Meinung
nach für eine emanzipatorische Politik in der Bündnisarbeit anzusetzen?
Ich weiß nicht, was "emanzipatorische Politik" ist. Es geht um Kritik.
Und bei der gibt es auch in einer Zusammenarbeit keine inhaltlichen
Abstriche. Wenn man notwendige Dinge macht, auch mit Menschen zusammen, die
einen anderen Begründungszusammenhang für ihre Tätigkeit haben, braucht man
das nicht mit so hochtrabenden Etiketten wie "Bündnispolitik" oder
"Bündnisarbeit" zu versehen und womöglich im Sinne einer "politischen
Strategie" zu theoretisieren. Wenn es möglich ist, mit irgendwelchen
Demokratieidealisten, Staatsfetischisten und Ausbeutungsapologeten jemanden
daran zu hindern, antisemitische Propaganda zu verbreiten, soll man das
natürlich machen. Nur ist das kein Grund, denen ihren Demokratieidealismus
und Staatsfetischismus oder ihre Ausbeutungsapologie durchgehen zu lassen.
Aber das sind solche Selbstverständlichkeiten, daß ich immer das Gefühl
habe, es geht bei diesen Fragen nach "Bündnissen", "Politik machen",
"Strategie und Taktik" um ganz andere Dinge. Es kommt immer darauf an, die
materialistische Kritik stark zu machen, also für den Kommunismus zu
agitieren, was die Solidarisierung mit Israel impliziert. Letzteres tritt
der kommunistischen Kritik ja nicht als Akzidentielles hinzu, sondern ist
die zwingende Konsequenz aus der Kritik der politischen Ökonomie. Das zu
betonen, ist auch in Debatten über die Gründe für den linken Antisemitismus
notwendig. Man kann sich mit manchen Vertretern der sogenannten
"Zivilgesellschaft" heute schnell darauf verständigen, daß maßgebliche Teile
der Linken üble Israelhasser sind. Die Frage ist aber ja, warum das so ist.
Und da gilt es deutlich zu machen, daß der linke Antisemitismus, daß das mal
indifferente, mal von Mißtrauen geprägte, mal haßerfüllte Verhalten der
Linken gegenüber Israel nicht aus der Radikalität ihrer Gesellschaftskritik
resultiert, sondern aus einem Mangel an Radikalität. Der linke
Antisemitismus resultiert nicht aus dem Marxschen Denken, sondern aus dem
Desinteresse großer Teile der Linken gegenüber der Marxschen Kritik.
Es ist ja schön, wenn ein TAZ-Redakteur wie Philipp Gessler ein Büchlein
über Antisemitismus schreibt, und endlich auch den Antisemitismus bei Linken
und Migranten thematisiert. Aber solche Leute kommen über reine Empirie
natürlich nicht hinaus und verbreiten dementsprechend auch jede Menge
Blödsinn. Wenn Gessler beispielsweise auf der Böckler-Tagung Marx' Schrift
"Zur Judenfrage" als "antisemitische Hetzschrift" tituliert, sagt das viel
über das theoretische Niveau des linksliberalen Journalismus aus, wenig aber
über die Gründe für einen linken Antisemitismus. Es ginge ja darum zu
erklären, warum der junge Marx sich in einem Text, der sich gerade gegen
eine antisemitische Hetzschrift wendet, antisemitischer Sterotypen bedient.
Das Instrumentarium für diese Erklärung findet sich aber nicht in der TAZ
oder bei irgendwelchen zivilgesellschaftlichen Initiativen, sondern in der
entfalteten Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.
Aktuell ist zu beobachten, dass das Gedenken an die Opfer des
Nationalsozialismus mit dem Gedenken an die Täter, weil sie zum Beispiel
während der Nachkriegszeit in sowjetischer Gefangenschaft waren oder als
Zivilbevölkerung aus den besetzten Gebieten vor den vorrückenden Alliierten
flohen, in eins gesetzt wird. Fehlt es hier nur an der entsprechenden
Aufklärung oder handelt es sich eher um den altbekannten
Geschichtsrevisionismus?
Es handelt sich um die aktuelle Artikulation des postnazistischen
Bewußtseins, um deutsche Ideologie auf der Höhe der Zeit, die ein Leugnen
der deutschen Verbrechen nicht mehr nötig hat. Der deutsche Opferdiskurs
(hier scheint mir dieses poststrukturalistische Unwort ausnahmsweise
angebracht) ist nichts anderes als die Vorbereitung neuer Verbrechen mit den
Mitteln der Gedenkkultur.
Was erwarten Sie von den im nächsten Jahr anstehenden 60. Jahrestagen
der Befreiung vom Nationalsozialismus, den unterschiedlichen Zeremonien im
Gedenken an die Opfer der Shoah? Können diese zur Verwirklichung des Diktums
Adornos 'das Auschwitz sich nie wieder wiederhole' beitragen?
Soweit es sich dabei um staatspolitische Veranstaltungen in Deutschland
handelt, geht es um Antifaschismus zum Wohle des Rechtsnachfolgers des
Dritten Reiches, also um die Wiedergutmachung Deutschlands. Dem Adornoschen
Imperativ, alles Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht
wiederhole, nichts ähnliches geschehe, kann letztlich nur entsprochen
werden, wenn man sich dem Marxschen Imperativ verpflichtet fühlt, alle
Verhältnisse umzustürzen.
Solange letzteres keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es, kritische Theorie
als entfaltetes Existenzialurteil zu betreiben und an einem materialistisch
zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativ festzuhalten:
alles zu tun, um die Möglichkeiten reagierender und präventiver
Selbstverteidigung des Staates der Shoahüberlebenden aufrecht zu erhalten.
Vielen Dank für das Gespräch.
http://www.cafecritique.priv.at