"Enttabuisierung":
Antisemitismus in Berlin wird gewalttätiger
Landesverfassungsschutz legt eine
Broschüre zur Judenfeindlichkeit in den extremistischen Szenen der
Hauptstadt vor. Sorge bereitet den Verfassungsschützern nicht
zuletzt die relativ hohe Zahl junger Täter bei antisemitischen
Delikten
Von Philipp Gessler
Der Antisemitismus in Berlin ist seit ungefähr
zwei Jahren auch gewalttätig. Darauf hat Innensenator Ehrhart
Körting (SPD) gestern bei der Vorstellung einer neuen Broschüre
seiner Verfassungsschutzabteilung über "Antisemitismus im
extremistischen Spektrum Berlins" aufmerksam gemacht.
Dies seien "Phänomene, auf die wir ganz erheblich
achten müssen", sagte der Senator. Antisemitische Gewalttaten
machten in der politisch motivierten Kriminalität der Stadt etwa
drei Prozent aller verzeichneten Delikte aus. Im vergangenen Jahr
wurden 12 antisemitische Gewalttaten in der Hauptstadt registriert,
in den ersten drei Quartalen dieses Jahres waren es bisher 9
gewalttätige Vergehen.
Dabei nahm die Zahl antisemitischer Straftaten, zu
denen vor allem Volksverhetzung, Propaganda- und
Beleidigungsvergehen gehören, von 2002 auf 2003 von 225 auf 171
Delikte ab, erläuterte die Leiterin des Berliner
Verfassungsschutzes, Claudia Schmid. Von den 171 Delikten des
vergangenen Jahres wurde die überwiegende Mehrheit von rechten
Tätern begangen, nur 11 Delikte wurden ausländischen Extremisten
zugeordnet. Bei den antiisraelischen Delikten stammen nach Ansicht
des Verfassungsschutzes immerhin zwei von Tätern aus der linken
Szene.
Sorge bereitet den Verfassungsschützern das relativ
geringe Alter vieler Tatverdächtiger: "20 der bekannt gewordenen
Tatverdächtigen waren zur Tatzeit 16 Jahre oder jünger", heißt es in
der Broschüre, "der jüngste festgestellte Tatverdächtige war 12
Jahre alt." Insbesondere bei antisemitischen und antiisraelischen
Straftaten von ausländischen Tatverdächtigen sei das
Durchschnittsalter mit 16 Jahren relativ niedrig - insgesamt liegt
das Durchschnittsalter bei den Tatverdächtigen antisemitischer
Straftaten bei 29 Jahren. "In erschreckender Weise", so Schmid, habe
es bei jungen Leuten eine "Enttabuisierung" gegeben, was den
Gebrauch antisemitischer Schimpfworte betrifft. Einerseits wollten
sie dadurch provozieren. Andererseits sei dies auch eine Konsequenz
antisemitischer Propaganda unter jungen Leuten.
Die Broschüre befasst sich nur mit dem Antisemitismus
in den extremistischen Spektren der Hauptstadt - wie es dem Auftrag
des Verfassungsschutzes entspricht. Erhebungen über den
Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft werden dagegen nicht
dargestellt. Nach Ansicht von Schmid sind praktisch alle rechten
Extremisten antisemitisch, da der Antisemitismus in dieser Szene
eine "integrierende Funktion" habe. Körting zufolge sind fast alle
der etwa 3.700 Islamisten der Hauptstadt auch antisemitisch.
Gleichzeitig bezeichnete es der Senator jedoch als
"höchst unwahrscheinlich", dass sich zwischen den Antisemiten der
rechten und islamistischen Extremistenszene eine antisemitische
Querfront bilde. Nach Ansicht Schmids sind dafür die ideologischen
Gräben zwischen den verschiedenen politischen und kulturellen Lagern
zu tief. Abdruck mit
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22-12-2004 |