Arafat ringt mit dem Tod:
Rätseln über den Rais
Viele Israelis hoffen, dass der Nachfolger
Arafats kompromissbereiter sein wird. Die Machtkämpfe in der
palästinensischen Führung sind jedoch noch nicht ausgebrochen.
Von Michael Borgstede, Tel Aviv
Jungle World
44 v. 20.10.2004
Am Samstagabend, während Palästinenserpräsident Yassir
Arafat in einem Pariser Militärkrankenhaus untersucht wurde und die Medien
viertelstündlich widersprüchliche Diagnosen in die Welt posaunten,
versammelten sich 80 000 Menschen mitten in Tel Aviv auf dem
Itzchak-Rabin-Platz, um eines traurigen Ereignisses zu gedenken. Vor neun
Jahren wurde nach einer Friedenskundgebung an diesem Ort, der damals noch
Platz der Könige Israels hieß, der Ministerpräsident und
Verteidigungsminister Itzchak Rabin von einem jüdischen Extremisten
erschossen.
Die Organisatoren hatten sich eine unpolitische Demonstration
der Trauer und des Respekts gewünscht. Politiker waren nicht als Redner
geladen. Doch die Menge spielte nicht mit: "Wir setzen deinen Weg fort,
Rabin" und "Raus aus Gaza, sofort" stand auf riesigen Bannern. Die meisten
Teilnehmer waren jung, trugen Pfadfinderuniform und wippten im Rhythmus der
Live-Musik hin und her.
Zvika Pik, der israelische Udo Jürgens, war ebenso mit von
der Partie wie ein kitschiger arabischer Kinderchor. Es herrschte eine
hoffnungsvollere Stimmung als in den vergangenen Jahren. Das mag daran
gelegen haben, dass das israelische Parlament nur wenige Tage zuvor für
Ariel Sharons Rückzugsplan aus dem Gazastreifen gestimmt hatte. Aber auch
Arafats kritischer Gesundheitszustand sorgte für gute Laune unter den
Demonstranten.
"Arafat hat doch all die Selbstmordattentäter nach Israel
geschickt", meinte die 16jährige Juval. "Ohne Arafat kann es nur besser
werden." Auch ihre Freundin hofft auf den Tod des Palästinenserführers.
"Ohne Arafat gäbe es vielleicht schon Frieden. Wenn die Palästinenser einen,
gemäßigte Führung wählen, können wir vielleicht Sharon loswerden und alles
wird gut." Sie stehen nicht allein. Die meisten Israelis wünschen sich
Arafats Tod und verbinden damit die Hoffung auf ein Ende der Intifada und
einen neuen Friedensprozess. Tatsächlich ist nach Arafat zwar alles möglich,
aber nichts sicher.
Noch ist nicht einmal klar, wie krank der Präsident wirklich
ist. Nachdem der US-amerikanische Nachrichtensender CNN zunächst gemeldet
hatte, Arafat leide wahrscheinlich an Leukämie, bemühten sich seine Berater
später, diesen Eindruck auszuräumen. Hohe Beamte der Autonomiebehörde
berichteten jedoch, Arafats geistiger Zustand sei besorgniserregend und
erlaube ihm nicht mehr, schwierige Entscheidungen zu treffen oder klar zu
kommunizieren. Auch habe er am Krankenbett in Ramallah einige seiner engsten
Vertrauten nicht erkannt. Es sei unsicher, ob Arafats mentale Konstitution
sich je vollständig wiederherstellen wird.
Der Übergangsregierung in Ramallah dürfte das größere Sorgen
bereiten als ein schnelles Ableben des Präsidenten. Denn dass Arafat nicht
mehr regieren kann, heißt noch lange nicht, dass er auf Dauer auch nicht
mehr regieren will. Ein von seinem Krankenbett aus intrigierender Arafat
könnte die Handlungsfreiheit einer neuen Regierung stark einschränken und
die Bevölkerung in eine schlimmere Krise stürzen als die Machtkämpfe um
seine Nachfolge.
Derzeit bemüht sich die palästinensische Führung, die
Befürchtung zu zerstreuen, der Tod oder eine längere Regierungsunfähigkeit
Arafats könnten zu einem Bürgerkrieg führen. Bereits am Samstag tagte das
Aktionskomitee der PLO unter dem Vorsitz des Generalsekretärs der
Organisation, Machmud Abbas. Es war die erste Zusammenkunft seit über 40
Jahren, der Yassir Arafat nicht beiwohnte. Am Sonntag dann berief
Ministerpräsident Achmed Qurei den Nationalen Sicherheitsrat ein. Die
Abgeordneten diskutierten die Durchführung von Reformen und die
Wiederherstellung von Recht und Gesetz in den palästinensischen Gebieten.
"Business as usual", lautete die beruhigende Botschaft dieser Treffen an die
verunsicherten Palästinenser.
Noch lebt Arafat, und der Kampf um die Nachfolge ist deshalb
bisher nicht offen ausgebrochen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine einzige
Person die Nachfolge des Rais (Oberhaupts) antreten wird. Arafat sei ein
Mann von "überlebensgroßer Statur", dessen zahlreiche Ämter verteilt werden
müssten, sagte die Abgeordnete Hanan Ashrawi. Darin drückt sich auch die
Hoffnung aus, der autokratische Führungsstil Arafats werde mit dem Tod des
Rais sein Ende finden. Aus Angst vor einem Machtverlust hat Arafat nie einen
Nachfolger bestimmt und die demokratisch angelegten Strukturen der
Palästinenserbehörde systematisch umgangen. Trotz der wachsenden
Unzufriedenheit mit Arafat und dessen korrupter Behörde kann bisher kein
palästinensischer Politiker einen vergleichbaren Rückhalt in der Bevölkerung
vorweisen.
Das palästinensische Grundgesetz legt zwar fest, dass bei Tod
oder Krankheit des Präsidenten dessen Aufgaben für 60 Tage vom Vorsitzenden
des Legislativrates wahrgenommen werden. Dass der wenig charismatische Rauhi
Fattuh diese Aufgabe in den unsteten Zeiten nach Arafat übernehmen will und
kann, bezweifeln aber viele. Das wahrscheinlichste Szenario ist momentan
eine gemeinsame Regierung von Vertrauten Arafats aus Exilzeiten wie Qurei
und Abbas und der so genannten jungen Garde um Mohammed Dachlan und Jibil
Radjub. Bei den für 2005 angesetzten Wahlen könnten die Palästinenser ihre
neue Regierung dann demokratisch legitimieren und die Israelis wieder an den
Verhandlungstisch zwingen. Das jedenfalls ist das optimistische Szenario.
Möglich wäre auch eine Stärkung der Islamisten und ihre
Beteiligung an der Regierung. Das würde Friedensverhandlungen mit Israel
unmöglich machen und dem Ansehen der Palästinenser schwer schaden. Oder der
ungemein beliebte Marwan Barghuti kandidiert aus seiner israelischen
Gefängniszelle. Er hätte keine schlechten Chancen auf den Wahlsieg, hätte
das nötige Durchsetzungsvermögen und könnte für die Israelis ein akzeptabler
Gesprächspartner sein – wenn er nicht wegen "mehrfachen Mordes" zu einer
fünffach lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden wäre.
Und Israel? Seit Jahren wünscht Sharon seinem Erzfeind Arafat
den Tod, er konnte sich bisweilen nur schwer bändigen, ihn selbst
herbeizuführen. Ausgerechnet jetzt aber käme dem israelischen Regierungschef
der Tod des Palästinenserpräsidenten denkbar ungelegen. Denn die
Notwendigkeit eines einseitigen Rückzugs aus dem Gazastreifen hat Sharon
immer damit begründet, dass es auf palästinensischer Seite keinen ernst zu
nehmenden Verhandlungspartner gäbe. Das könnte sich jetzt schneller ändern,
als Sharon lieb ist.
Offiziell soll der einseitige Rückzugsplan unabhängig von den
Entwicklungen auf der palästinensischen Seite verwirklicht werden. Doch die
Oppositionsparteien fordern bereits eine Wiederaufnahme von Verhandlungen
mit den Palästinensern. Unterstützt werden sie ausgerechnet von den rechten
Hardlinern aus Sharons Likud-Partei, die eine neue Chance sehen, die
geplanten Siedlungsevakuierungen auf die ganz lange Bank zu schieben. Wenn
Sharon dem Drängen der Linken nachgeben und sich mit Abbas und Qurei an den
Verhandlungstisch setzen würde, wäre das der Test seiner
Kompromissbereitschaft. Denn dann müsste über Konzessionen von ganz anderem
Umfang als der Gazarückzugsplan verhandelt werden.
hagalil.com 05-11-2004 |