Taxifahrer-Kommentare:
Zwischen den Zeiten
Arafats Heldenimage war in den
palästinensischen Gebieten angekratzt. Seine potenziellen Nachfolger sind
noch weniger beliebt. Nur in Israel hat man unterschiedliche Hoffnungen auf
die Zeit nach Arafat.
Von Michael Borgstede, Tel Aviv/Ramallah
Jungle World 44 v.
20.10.2004
Israelische Taxifahrer sind immer auch politische
Kommentatoren. Bisweilen wird man den Verdacht nicht los, sie führen ihre
Autos nur aus einem zwanghaften politischen Missionsdrang. Die meisten von
ihnen sind so genannte Likudnikim oder Schlimmeres. Das heißt, sie stimmen
im besten Fall für Sharons Likud-Partei. Für uns Bewohner des linkslastigen
Nordens von Tel Aviv ist das eine seltsame Vorstellung. Seit zehn Jahren
wählt der gesamte Bekanntenkreis die Meretz-Partei. Seltsam, dass sie
dennoch landesweit auf kaum mehr als fünf Prozent der Stimmen kommt. Tel
Aviv ist eben eine knallbunte Luftblase. Laut, lustig, liberal. Aber Israel
hat auch andere Seiten. Daran erinnern uns die Taxifahrer. Nur zwei linke
Taxifahrer sind mir bisher untergekommen. Einer war Student, der andere ein
arbeitsloser russischer Soziologieprofessor. Heute habe ich weniger Glück.
"Wohin?" fragt der beleibte Mann hinter dem Steuer und legt die Zeitung zur
Seite. "Kalandia Checkpoint." Er mustert mich misstrauisch. "Zu den
Arabuschim?" Dieses Wort ist so ziemlich das hässlichste, was die hebräische
Sprache für Araber bereithält, dem amerikanischen "Nigger" vergleichbar. Er
beginnt seine Vorlesung ohne weiteren Verzug. "Den miesen Terroristen Arafat
sind wir endlich los. Jetzt können die da drüben mal zeigen, ob sie wirklich
Frieden wollen." Er lacht. "Natürlich wollen sie nicht. Es sind und bleiben
Arabuschim und deren Lust ist Kindermord." Meinen vorsichtigen Einspruch
ignoriert er. "Gaza können sie von mir aus haben und in dem Dreckloch
verrecken. Aber Judäa und Samaria waren jüdisch und bleiben jüdisch. Da wird
Sharon nicht nachgeben." Arafats Tod werde also nichts ändern? "Vielleicht
bricht bei den Bushim das Chaos aus und die bringen sich gegenseitig um. Das
wäre doch praktisch, oder?" fragt er hoffnungsvoll.
Der uniformierte freundliche junge Mann am Checkpoint sieht weniger schwarz.
Arafat sei das größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden gewesen, sagt er.
"Es kann nur besser werden." Bisher liefe die Machtübernahme bei den
Palästinensern ganz gut. Und mit Abu Ala oder Abu Mazen lasse sich bestimmt
Frieden schließen. Diese Sichtweise ist typisch für viele Israelis, die ihre
Wut und Frustration über den gescheiterten Friedensprozess mit einer
gewissen Naivität ausschließlich auf die Person Arafat zurückführen. In
ihren Augen trägt der "Erzterrorist Arafat" die Alleinverantwortung für die
unverändert katastrophale Situation in der Region. Mit dem Ableben des
"Rais" verbinden sie deshalb oft unrealistische Hoffnungen.
Tatsächlich könnte sein Tod die Sachfragen wieder in den Mittelpunkt rücken,
an denen sich nach wie vor die Geister scheiden. Israelische und
palästinensische Vorstellungen von einem Friedensabkommen sind nämlich
längst nicht deckungsgleich.
Das weiß auch der palästinensische Taxifahrer auf der anderen Seite des
Checkpoints. "Gar nichts wird besser. Egal wer nach Arafat kommt: Ein
Palästina ohne das gesamte Westjordanland und Jerusalem als Hauptstadt ist
einfach nicht denkbar. Keiner könnte dem Volk das vermitteln. Nicht einmal
Arafat." Wird er um seinen Präsidenten trauern? Er zögert. "Wenn du mich vor
laufender Kamera interviewst: ja. Wenn du mich privat fragst: nicht
wirklich." Natürlich, ohne Arafat würde sich die Welt noch heute nicht für
die Palästinenser interessieren. Er sei ein Symbol, eine Legende, ein Held.
"Aber die Korruption, das Chaos, die Gesetzlosigkeit – Arafat hat den Laden
einfach nicht mehr unter Kontrolle gehabt." Könnte es nicht sein, dass
Arafat das Chaos sehr wohl beherrschte und geschickt für seine Zwecke
nutzte? Er zuckt mit den Schultern. "Könnte sein. Ist aber jetzt egal. Denn
Abu Ala wird das Chaos nicht beherrschen können."
60 Prozent der Palästinenser sehen das genauso, nur 29 Prozent trauen dem
Ministerpräsidenten Ahmad Qurei (alias Abu Ala) die Führung der
Autonomiebehörde zu. Machmud Abbas (alias Abu Mazen), der den Vorsitz der
Fatah-Partei und der PLO übernehmen soll, kommt bei Umfragen nur wenig
besser weg.
Der Fahrer seufzt. "Wenn es zu Wahlen käme, wüsste ich nicht, wem ich meine
Stimme geben soll." Qurei und Abbas seien ihm zu korrupt, und die Islamisten
könne er nicht ausstehen. "Mit der Hamas in der Regierung haben die Israelis
nur wieder eine gute Entschuldigung, nicht mit uns zu verhandeln. Da wartet
Sharon doch drauf." Aber Wahlen seien eh Zukunftsmusik. Er glaube nicht,
dass es, wie geplant, im Frühjahr 2005 dazu komme. "Dann müssten wir uns ja
für einige Wochen frei bewegen dürfen. Das erlauben die Israelis uns nie."
Auf den Straßen von Ramallah ist es ruhig. Auf einigen Wänden lächelt einem
ein dunkelhaariger Arafat entgegen. "Ein paar Fatah-Leute haben die Poster
aufgehängt", sagt Abu Schahid, ein Gebrauchwagenhändler. Dann fragt er
ungeduldig: "Kommt er wirklich zurück? Oder ist er schon tot?" Als
ausländischer Journalist müsse man doch über verlässliche Informationen
verfügen. Die Palästinenser sind verwirrt. Seit Arafats Überführung nach
Paris haben die palästinensischen Medien nur über die offiziellen Äußerungen
seiner Getreuen berichtet. Dadurch entstand das Bild eines sich zunehmend
erholenden Arafat, der täglich mit Dutzenden Staatschefs telefoniert und vom
Krankenbett aus die Geschicke seines Volkes lenkt. Gerüchte über einen
Gehirntod des Raïs wurden als "zionistische Propaganda" abgetan.
"Ich gucke seit Tagen nur noch CNN und al-Jazeera", sagt ein anderer
Passant. Er ist sich sicher, dass Arafats Ehefrau Suha hinter dem
Informationschaos steckt. "Sie lässt ihn auch künstlich am Leben halten",
vermutet er. Hinter vorgehaltener Hand fügt er hinzu: "Wegen des Geldes."
Suha wohne seit Jahren in einem Luxushotel in Paris und verbrauche auf ihren
Shoppingausflügen Millionen, die eigentlich dem palästinensischen Volk
zustünden.
Weil es so wenig glaubwürdige Informationen gibt, entwickelt man in Ramallah
seine eigenen Theorien. Selbst der Finanzberater Arafats, Mohammed Raschid,
sei nicht über alle Geheimkonten informiert, meint Schahid. Suha hoffe auf
einen letzten klaren Moment ihres Mannes, um sich das Geld unter den Nagel
reißen zu können. Deshalb lasse sie auch niemanden ans Krankenbett.
Und wenn er stirbt, werden sie zur Beerdigung gehen? Die Meinungen sind
geteilt. Schahid jedenfalls will sich das Ereignis nicht entgehen lassen.
"Das wird ein historischer Moment. Wenn ich später meinen Enkelkindern
erzähle, dass ich dabei war, kommen sie aus dem Staunen nicht heraus." Aber
weinen werde er nicht.
hagalil.com 11-11-2004 |