Antisemitismus und Sozialabbau:
Nachama sieht gesellschaftlichen Paradigmawechsel
Von Max Brym
Im Monatsmagazin der VVN-BDA (Oktober/Novemberausgabe)
ist ein Gespräch mit dem Direktor der Berliner Stiftung "Topographie des
Terrors", Dr. Andreas Nachama, abgedruckt, der in dem Interview deutliche
Worte zur gesellschaftlichen und politischen Situation in Deutschland
findet.
Dr. Andreas Nachama sieht auf Grund aktueller
innenpolitischer Ereignisse einen "gesamtgesellschaftlichen
Paradigmawechsel" und größer werdende Herausforderungen, "wenn es nicht
gelingt, die Indifferenz der Gesellschaft zu überwinden". Konkret geht
Nachama auf die neue Qualität des Antisemitismus, die Gefährdung der
Demokratie und den rasanten Sozialabbau ein. Der Antisemitismus ist laut
Nachama in der alten Bundesrepublik "nie weg gewesen, jetzt trete er nur
etwas anders auf, weil er in den Medien und in der Öffentlichkeit
gesellschaftsfähig gemacht werde."
Dieser Antisemitismus sei auch an Stellen zu finden, wo
Politik gemacht werde. Es wird billigend in Kauf genommen, dass jüdische
Gemeindezentren in Hochsicherheitstrakte verwandelt werden müssen. In der
Tat, es gibt kein breites gesellschaftsrelevantes Engagement für die
Existent normalen jüdischen Lebens in Deutschland. Zudem ermöglichte das
Bundesverfassungsgericht im Juni diesen Jahres erstmals nach 1945 einen
Aufmarsch der nazistischen NPD gegen den Neubau einer Synagoge in Bochum.
Diese Tatsache bezeichnet Nachama in dem Interview als Tabubruch. Der
organisierte Antisemitismus wurde durch das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts legitimiert. Zu dieser Realität erklärte Nachama:
"Antisemitismus ist keine Meinung, Antisemitismus ist ein Verbrechen, er ist
in seiner Konsequenz immer Aufruf zum Mord". Durch die Legalisierung
antisemitischer Mord- und Pogromhetze durch das Verfassungsgericht, stellt
sich die Demokratie selbst in Frage.
"Gefährdete Demokratie"
Die bürgerliche Demokratie sieht Dr. Nachama als gefährdet
an. Er betrachtet den Prozess des sozialen Kahlschlages in Deutschland, die
"Normalität" antisemitischer Gesinnung als zwei Seiten einer Medaille. In
dem Gespräch führt er dazu folgendes aus: "Die Grundlagen, auf denen die
Bundesrepublik nach 1945 mit den Lehren aus der Vergangenheit errichtet
wurde, auch eine soziale Gesellschaft sein zu wollen, werden im Rahmen einer
gigantischen Umverteilung plötzlich in Frage gestellt". Nachama beklagt,
"dass es zur offensiven Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung eines
gesellschaftlichen Konsens bedürfe".
Dieser Konsens des sozialen Kompromisses wurde durch das
Großbürgertum in Deutschland aufgekündigt. Es gibt gegenwärtig den Fakt,
dass die Besitzenden immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Das
private Geldvermögen der Deutschen hat die Höhe von 3,9 Billionen Euro
erreicht. Rund zwei Drittel dieses Vermögens befinden sich in der Hand von
775.000 Personen. Die schmale Schicht der Millionäre und Milliardäre drückt
der gesamten Gesellschaft ihren Willen auf. Um Rund 20% wächst jährlich das
Vermögen der Kapitalbesitzer. Durch die neuerliche Senkung des
Spitzensteuersatzes zum 1. Januar 05 erhoffen sich die Großverdiener einen
zusätzlichen Vermögenszuwachs von 4 Milliarden Euro.
Gleichzeitig soll durch Hartz IV der Bundeshaushalt um
etwas mehr als 4 Milliarden Euro entlastet werden. Im Produktionsbereich und
im Handel sind Massenentlassungen, Lohnverzicht sowie unbezahlte Mehrarbeit
angesagt. Die Meinungsproduzenten in der BRD beschäftigen sich nur noch mit
der Frage, aufkommenden sozialen Protest zu denunzieren. Der Kampf gegen den
Antisemitismus beschäftigt das bürgerliche Establishment nicht. Höchstens in
der perfiden Form, sozialen Protest mit Nazismus und Antisemitismus in
Verbindung zu bringen. Grundsätzlich entwickelt sich in der Mitte der
Gesellschaft Akzeptanz und Toleranz was den Antisemitismus angeht.
Nachama erklärt zu neuesten deutschen Entwicklung: "Ein
Marsch gegen den Bau einer Synagoge wäre vor 20 Jahren nicht von einem
Bundesverfassungsgericht genehmigt worden. Genau so wenig, wie die
unsozialen Maßnahmen, die es heute gibt, vor zwanzig Jahren Bestand gehabt
hätten".
Anmerkung:
VVN/BDA: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten
Zahlenmaterial ISW München –Bilanz 2003
hagalil.com
18-10-2004 |