Ein Gespräch mit Kreisjugendpfarrer Christian Weber:
"Wer glaubt, ist immer politisch"
Wer Starkstromelektriker gelernt
hat, weiß Energien zu bändigen und kennt Risiken. Der
Kreisjugendpfarrer Christian Weber, 38, setzt sich mit jüdischen und
palästinensischen Jugendlichen an einen Tisch - oder mit Antifas und
Neonazis. In Ostberlin geboren, kam Weber über die Adventisten zur
evangelischen Kirche. Er wohnte in der DDR in einem besetzten Haus,
traf in anderen Ländern des Ostblocks Oppositionsgruppen. Seine
Stasiakte ist ein dicker Ordner. Nach der Wende reiste er weiter -
nach Asien, Afrika oder Mittelamerika. Doch als er mit der
Pfarrerausbildung fertig war, schickte ihn seine Kirche ausgerechnet
nach Greifenhain in Brandenburg
Interview Philipp Gessler
taz: Herr Weber, Sie haben eine
Ausbildung zum Starkstromelektriker und vier Jahre in diesem Beruf
gearbeitet - das hilft Ihnen heute als Jugendpfarrer nicht mehr,
oder?
Christian Weber:
Doch. Es hilft mir, wenn ich frühmorgens in der
S-Bahn sitze und Jugendliche sehe, die gerade zu so einer oder einer
ähnlichen Ausbildung fahren: Ich kann mich ziemlich gut in die
reinversetzen. Mit 17 erst habe ich mein Interesse für die Bibel und
die Geschichte von Jesus gefunden. Das war spannend, darüber mit
meinen Kollegen Starkstromelektrikern zu sprechen.
Sie kommen aus einer
atheistischen Familie aus Berlin, waren zunächst bei den
"Siebenten-Tags-Adventisten", bevor Sie zur evangelischen Kirche
konvertierten - warum?
Die Adventisten haben sich politisch
nicht getraut, zu ihrem Glauben zu stehen. Jesus hat sich für
Menschen eingesetzt, die ausgegrenzt und unterdrückt waren, auch für
Kriminelle - das fand ich spannend. Die Adventisten sind den Weg
Jesu nicht konsequent gegangen. Wo es Ärger mit der DDR-Obrigkeit
geben konnte, kuschten sie. Die evangelische Kirche war da
ganzheitlicher.
Die Oberen der
evangelischen Kirche hatten nie Probleme damit, dass Sie in einem
besetzten Haus wohnten?
Das war ja eher schick. Die
evangelische Kirche hatte viele Leute, die aus der alternativen
Besetzerszene kamen. Das Haus in Potsdam, wo ich wohnte, war zu 90
Prozent kirchlich bewohnt. Das waren fast alles Jugendliche in einer
kirchlichen Ausbildung. Heute wohnen da um die Ecke der Joop und der
Jauch.
Zu DDR-Zeiten waren Sie in
Oppositionsgruppen. Was stand da im Vordergrund: die Politik oder
der Glaube?
Für mich der Glaube - Politik und
Glaube widersprechen sich aber für mich nicht. Wenn ich mich
beispielsweise einsetze gegen die Todesstrafe, werde ich automatisch
politisch. Wer an Gott glaubt, wird immer auch politisch aktiv
werden, auch wenn er das vielleicht für sich selbst gar nicht
wahrnimmt.
Sie waren schon vor
Mauerfall in vielen Ländern des Ostblocks, auch in Mittelasien, und
haben dort Oppositionsgruppen getroffen. Ihre Stasi-Akte muss immens
sein.
Es ist schon ein dicker Aktenordner.
Aber ich war ja noch sehr jung, deshalb gibt es da dickere. Bei den
- die gab es auch - ersten Anwerbungsversuchen der Stasi war ich 17.
Ich habe denen dann erzählt, warum ich die "Umweltbibliothek" oder
die Artikel im Grenzfall gut fand. Ich war in der
Vorstufe der Vierundzwanzigstunden-Überwachung. Mein Telefon wurde
abgehört, meine Post geöffnet.
Haben Freunde Sie verraten?
Gott sei Dank nicht. Aber ich habe ein
christliches Menschenbild: Auch das mieseste Stasischwein hat als
Geschöpf Gottes die Chance, zurückzukehren. Deshalb habe ich mit
jedem geredet. Meine spätere Arbeit mit Neonazis hatte eine ähnliche
Motivation. Ich habe mich mit Menschen getroffen, von denen ich
wusste, dass sie Dinge an die Stasi weitertragen - etwa mit Leuten
vom Institut für Marxismus-Forschung, denn ich bin bis heute der
Meinung, dass Marx ein toller Gesellschaftsanalytiker war.
Nach der Wende waren Sie
Vorsitzender von amnesty international in Potsdam - hatten Sie nie
Probleme mit Ihrer Kirche, dass Sie sich zu wenig um das kirchliche
Leben kümmerten?
Nein, das war nie ein Problem,
höchstens in Nebensätzen. Ich habe die Arbeit eben übernommen,
nachdem ich kurz nach der Wende ein Jahr für eine Vortragsreihe über
den Mauerfall in den USA gewesen war. Dort hatte ich die
Multikulti-Vielfalt entdeckt und bekam einen Schock, als ich wieder
zurückkam und merkte, dass Neonazis das hier alles abschaffen
wollen. Die bedrohten mich und meine Freunde: Schwarze,
Homosexuelle, Muslime, Juden. Bei manchen in der Kirche war ich mal
umstritten, weil ich gelegentlich mit langen Haaren oder dann wieder
mit Glatze herumlief.
Nach dem Mauerfall ging das
Reisen weiter: Mittelamerika, Asien, Afrika, USA - und kaum sind Sie
fertig mit der Ausbildung zum Pfarrer, werden Sie in die Provinz
nach Greifenhain an der brandenburgisch-sächsischen Grenze
geschickt. Eine Übung in Demut?
Ja, weil ich eigentlich nach Südafrika
wollte. Von der Kirche war das gar nicht so intendiert: "Der reist
zu viel, jetzt wollen wir den mal aufs Land schicken." Sondern eher:
"Wir haben nichts anderes." Außerdem hatte ich keine Familie. Von
den allein Stehenden hat man mir allerdings am allermeisten
zugemutet.
Wollte man Ihnen einen
Dämpfer verpassen?
Nein. Aber Greifenhain hatte ja noch
nicht einmal eine Bahn. Zum nächsten Bahnhof brauchte ich 20 Minuten
mit dem Fahrrad. Diese Ökomacke habe ich fast sechs Jahre
durchgezogen.
Vielleicht eine
Herausforderung?
Ja, so habe ich das auch angenommen.
Gleichzeitig war es schon am ersten Tag eine Konfrontation mit dem
Tod, in zweifacher Hinsicht: Einmal durch die tote Landschaft des
Braunkohle-Tagebaus zu fahren. Es war Mond, eine vergewaltigte
Landschaft. Ich war auch völlig fertig, da ich dort mit einem alten
Damenfahrrad über die Braunkohleberge hingeradelt bin. Und auf der
Rückfahrt gab es am gleichen Tag einen Unfall mit dem Zug. Mein
Regionalzug hatte ein Auto gerammt. Keiner war bereit, auszusteigen
und Erste Hilfe zu leisten. Die Schaffnerin wollte nicht helfen: Sie
habe ja schon die Polizei gerufen, außerdem habe sie das schon
häufiger gesehen. Ich habe gesagt, dass hier doch überhaupt kein
Polizeiauto hinkommen könne und wollte selber aussteigen. Da sagte
sie mir, typisch deutsch: "Bei Halt auf freier Strecke ist das
Aussteigen verboten." Ich habe ihr den Vogel gezeigt, bin
ausgestiegen - aber habe tatsächlich nur noch den toten Mann
gesehen. Ich habe geheult, war am Ende. Zu Hause dachte ich mir:
"Wenn das der Anfang ist von sieben Jahren, dann gute Nacht."
In der Gegend um
Greifenhain hatte die DVU 12 Prozent Wählerstimmen. Sie haben dort
Projekte mit linken und rechten Jugendlichen, mit Israelis und
Holocaust-Überlebenden gemacht. Kann man denn in einem solchen
Milieu Rechte von ihrem Weg abbringen?
Fast nicht. Abholen können sie nur
einzelne verrückte Pfarrer. Die Gesellschaft könnte schon etwas tun.
Aber genau das habe ich dort ja erlebt, dass die Gesellschaft nicht
dazu bereit war. Ich wollte Jugendliche zusammenbringen, die
verfeindet sind. Als junge israelische Journalisten, die ich
eingeladen hatte, nach einer Veranstaltung 1998 auf Rechte gestoßen
sind, habe ich einerseits eine riesige Spannung gespürt,
andererseits eine magische Anziehung.
Der Vorfall war in vielen
Medien, auch in Israel. War das ein Erfolg?
Er hat meine Arbeit im Grunde genommen
zerstört. Ich bekam einen Riesenärger mit der Gemeinde und dem
Ortsvorstand: Ich hätte den Ort in Misskredit gebracht. Der
ungewollte Eklat hat aber auch Leute, die ähnlich dachten wie ich,
angestoßen, sich dann auch in meinem Sinne zu engagieren.
Also doch irgendwie ein
Erfolg.
Na ja, nachher habe ich keine Rechte
mehr eingeladen. Dafür kam einmal aus Jerusalem der
Holocaust-Überlebende Jack Stromler, der so genannte Geiger von
Auschwitz, aus dem dortigen Orchester. Die Kirche war voll wie zu
Weihnachten. Außerdem hat sich einer der Rechten, die damals vor den
Israelis rumgepöbelt hatten, ein ziemlich hohes Tier in der rechten
Szene, ein Jahr später bei einem zweiten Treffen mit den Israelis
entschuldigt. Und ist dann auch wirklich aus der rechten Szene
ausgestiegen - obwohl er selbst dafür noch Morddrohungen bekommen
hat.
Vor zwei Jahren sind Sie
nach Berlin zurückgekehrt. Nun machen Sie interreligiöse Projekte
mit Jugendlichen afghanischer Herkunft und Juden aus Cottbus. Haben
die überhaupt eine gemeinsame Grundlage?
Vielleicht die, dass beide Gruppen hier
leben, dann der Glaube an den einen Gott und das Interesse, etwas
gemeinsam zu machen. Spannender ist noch das Projekt, das ich
zusammen mit der palästinensischen Gemeinde in Berlin und Vertretern
des jüdischen Studentenbundes mache. Die verbindet der Konflikt in
Israel. Beide haben die sehr, sehr kleine Hoffnung, dass es
irgendetwas bringt, wenn sie hier miteinander sprechen. Das Mittel
sind Treffen junger Menschen aus Israel und Palästina, die Opfer
geworden sind in dem Konflikt.
Muss man das im Ausland
machen weil es in Israel nicht möglich ist?
Ja, eindeutig. Es ist verboten, dass
Israelis nach Palästina gehen.
Und dann ausgerechnet ein
Treffen in Deutschland? Da kommt ja noch die deutsch-jüdische
Geschichte dazu. Da wird es noch komplizierter.
Eigentlich nicht. Es passt sogar sehr
gut. Die Idee für den Austausch der beiden Opfergruppen kam von
meinen israelischen Freunden. Aus Berlin ist für ein ganzes Volk
eine höllische Entscheidung gekommen, etwas nie da Gewesenes: der
industrielle Massenmord an Menschen. Wenn sich nun junge Juden und
junge Palästinenser in Berlin treffen und aus dieser Stadt ein
Zeichen der Hoffnung kommen kann, dann ist das doch ganz irre. Aus
Berlin kamen in den vergangenen Jahren einige Zeichen der Hoffnung.
Zusammen mit anderen Totalverweigerern habe ich kurz nach der Wende
von 1989/90 von hier aus einen Appell für eine völlige
Demilitarisierung der früheren DDR aufgesetzt.
Sie waren bei
Demonstrationen 2003 gegen den Irakkrieg mit Talar auf der Straße.
Für Sie ist das kein Widerspruch: mit diesem geistlichen Zeichen
öffentlich politisch aufzutreten?
Nein, obwohl ich damit vorsichtig bin.
Ich finde es legitim, dass man sich bei bestimmten Themen so zeigt.
Jedes Glaubensthema ist eben irgendwann einmal auch politisch. Wenn
ich sehe, da wird etwas geplant, was viel Leid bringt und nicht
aufzuwiegen ist durch den angeblichen Erfolg, dann finde ich es
legitim, öffentlich Nein zu sagen. Aber ich bin auch gegen eine
Beliebigkeit, den Talar jeden Tag für eine Demo anzuziehen.
Könnten Sie sich
vorstellen, auch einmal Politiker oder Sozialarbeiter zu sein - Ihre
Arbeit hat viel damit zu tun.
Das ist mein Traumjob:
Kreisjugendpfarrer in Berlin. Das Wort zu verkünden, das Evangelium,
über Jesus, Jeschua zu reden - das sind meine Wurzeln. Meine Wurzeln
sind nicht nur ein Pädagogik- oder Psychologiestudium. Als Erstes
steht bei mir die Bibel, wo es einen emanzipatorischen Gott gibt,
der uns zu seinem Abbild geschaffen hat, jeden gleich, ob Mann, ob
Frau, ob schwarz oder weiß. Ich kann so argumentieren, auch mit dem
Großmufti von Jerusalem, denn der Koran basiert auf dieser Maxime.
Ebenso mit dem Oberrabiner von Israel. Das ist einfach spannend. Wie
gesagt: Ich habe meinen Traumjob.
Abdruck mit freundlicher
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27-07-2004 |