"Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten in Deutschland"
Rede von Bundesminister Otto
Schily anlässlich der 6. Potsdamer Begegnungen - Deutsch-Russisches Forum
e.V. am 21. Juni 2004
(Es gilt das gesprochene Wort!)
Anrede,
Mehrheit und Minderheit sind ausgesprochen variable, zuweilen auch ungenaue,
häufig umstrittene und nicht selten hochpolitische Begriffe. Sie treten zunächst
im "demographischen Gewand" auf durch Volkszählungen, Umfragen und Statistiken.
Hinter der Demographie jedoch liegen die großen Fragen der Identität, der Kultur
und der Sprache, der Herkunft, der Religion und der Geschichte. Die so
definierten Unterschiede sind emotional aufgeladen und können zu ebenso
aufgeladenen Konflikten führen und zum Gefühl der Fremdheit. Karl Valentin
ironisiert das mit folgendem Satz: "Der Fremde ist fremd überall in der Fremde."
Es gibt unzählige Versuche, Minderheiten zu definieren, indem man sie
typologisiert in nationale, ethnische, sprachliche und religiöse Minoritäten. In
der Vergangenheit waren es zumeist die Mehrheiten, die festlegten, wer die
Minderheiten sind.
Zudem hat der Begriff der Minderheit - vor allem im anglo-amerikanischen Raum -
über die letzten Jahrzehnte einen Bedeutungswandel erfahren und wird zunehmend
auch auf all die Gruppen angewandt, deren Angehörige von den vorherrschenden
Sitten und Verhaltensweisen abweichen, die weniger Einfluss besitzen als der
Rest der Bevölkerung. Ein derartiges Begriffverständnis lässt ihre Zahl in einer
Gesellschaft theoretisch ins Unendliche steigen und ist aus meiner Sicht nicht
unbedingt förderlich.
Wer den Inhalt des Begriffes Minderheit klären will, muss immer auch festlegen,
was die Mehrheit ausmacht. Beide sind an die Form und Größe des jeweiligen
Staates gebunden. Sie sind somit direkt von etwaigen Veränderungen dieser beiden
Kriterien betroffen. Am Beispiel der früheren Sowjetunion wird dies besonders
anschaulich: Der Zerfall in fünfzehn Nachfolgestaaten schuf Dutzende von neuen
Minoritäten: Mehrheiten wurden über Nacht zu Minderheiten und Minderheiten zu
Mehrheiten.
Auch der deutsche Staat erkennt die Tatsache an, dass es unter seinen
Staatsangehörigen Gruppen gibt, die einer anderen Ethnie angehören, die ihre
eigene Sprache haben und sich auch kulturell von der Mehrheit der Bevölkerung
unterscheiden. Die vier nationalen Minderheiten in Deutschland - Friesen,
Sorben, Dänen und Roma und Sinti - sind wegen historischen Grenzverschiebungen
oder durch Jahrhunderte zurück liegende Wanderungsbewegungen ein Teil des
deutschen Staatsvolkes geworden. Heute garantieren kollektive Rechte diesen vier
nationalen Minderheiten die Bewahrung ihrer kulturellen und sprachlichen
Identität.
Von ihnen unterscheiden wir aber rechtlich und begrifflich diejenigen
Gruppierungen, die im Zuge von Einwanderungsbewegungen in den letzten
Jahrzehnten nach Deutschland kamen.
Diese Menschen sind bekanntlich aus sehr unterschiedlichen Gründen hier. Sie
kamen bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 als Arbeitsmigranten - auch Gastarbeiter
genannt. Seither sind viele Angehörige über den Familiennachzug eingewandert
oder besser nachgewandert. Anfang der neunziger Jahre ist eine große Zahl von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen hinzugekommen.
Seit 1991 ermöglichten wir auch fast 200.000 Menschen jüdischen Glaubens aus den
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion die Aufnahme in Deutschland. Sie
stärken die jüdischen Gemeinden und somit zeitgenössisches jüdisches Leben in
Deutschland. Wir begreifen diesen Zuzug als einen wichtigen Vertrauensbeweis in
unsere Demokratie und unsere pluralistische Gesellschaft.
Anrede,
Einwanderer ohne deutschen Pass machen heute um die neun Prozent der
Gesamtbevölkerung aus, jeder fünfte so genannte "Ausländer" ist in Deutschland
geboren.
Nach unserer Rechtsauffassung, die so auch von sehr vielen Staaten in Europa
ähnlich praktiziert wird, können diese Gruppen von Einwanderern jedoch nicht den
Status einer nationalen Minderheit und damit verbunden kollektive Rechte
erlangen. Sie sind nicht autochthon, also als Gruppe nicht ursprünglich in einem
angestammten Siedlungsgebiet innerhalb Deutschlands heimisch. Spätaussiedler
beispielsweise mögen zwar in den Staaten, aus denen sie hierher gekommen sind,
den Status einer nationalen Minderheit innehaben. Nach ihrer Ankunft in
Deutschland sind sie, genauso wie die Zuwanderer türkischer Herkunft (falls sie
auf Dauer in Deutschland leben wollen), Teil der deutschen Mehrheitsbevölkerung.
Diese Auffassung beseitigt allerdings nicht die Notwendigkeit, Antworten auf die
seit Platon aufgeworfene Frage nach der besten "Verfasstheit" unseres
Gemeinwesens zu finden, die der zunehmenden Vielfalt und Heterogenität unserer
Gesellschaft Rechnung tragen.
Dem freiheitlichen Verfassungsstaat stellte sich im Laufe seiner geschichtlichen
Entwicklung stets die Aufgabe, einzelne gesellschaftliche Gruppen - Minderheiten
im weitesten Sinne also - zu integrieren. Dabei haben sich Rechtsstaatlichkeit,
Pluralismus und eine repräsentativ-demokratische Regierungsform weltweit
bewährt.
Neben den großen Integrationsleistungen der vergangenen Jahrzehnte haben sich
auch Spannungsfelder und Integrationsdefizite aufgebaut. Die herkömmlichen
Regelungen zu Zuzug, Integration und Staatsbürgerschaft entsprachen seit
geraumer Zeit nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Der erste wichtige Schritt, beide stärker in Einklang zu bringen, war unsere
Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, mit der wir im Jahr 2000 eine gesetzliche
Regelung von europäischem Niveau eingeführt haben. Wir brauchen eben nicht nur
Gäste auf Zeit, sondern wir müssen Menschen, die sich schon lange in Deutschland
aufhalten und auch hier bleiben wollen, mehr Chancen zur Integration bieten.
Kinder ausländischer Eltern erhalten seit dem 1. Januar 2000 automatisch die
deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sich mindestens ein Elternteil seit acht
Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält. Jährlich werden auf diesem Wege etwa
50.000 Kinder ausländischer Eltern bei ihrer Geburt deutsche Staatsangehörige.
Das Territorialprinzip verbindet sich mit dem Abstammungsprinzip, welches bis
dato deutsches Staatsangehörigkeitsrecht und Denken geprägt hat.
Ausländer können sich heute nach acht statt vorher 15 Jahren Aufenthalt in
Deutschland einbürgern lassen. Und über 660.000 von ihnen haben bisher von
dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. So haben wir eine Regelung, die es
verhindert, dass die Migranten über Generationen hinweg ohne den deutschen Pass
in Deutschland leben.
Anrede,
Das Zuwanderungsgesetz ist ein zweiter - in meinen Augen ebenso historischer -
Schritt, die rechtlichen Rahmenbedingungen mit den gesellschaftlichen Realitäten
in Einklang zu bringen. Es ist die notwendige Ergänzung des modernisierten
Staatsangehörigkeitsrechts und führt unterschiedliche Aspekte - von der
Arbeitsmigration über die Integration bis hin zu Sicherheitsfragen - in einem
Gesamtgesetzeswerk zusammen.
Zuwanderung findet ihre Grenzen in den Möglichkeiten der Integration. Das
Zuwanderungsgesetz ermöglicht uns den Einstieg in eine systematische
Integrationspolitik, die in den kommenden Jahren auf allen Ebenen
weiterzuentwickeln sein wird. Dazu gehören Angebote, aber auch Anforderungen an
die Zuwanderer.
György Konrád, der frühere Präsident der Berliner Akademie der Künste, hat die
Erwartungen an Einwanderer wie folgt richtig formuliert: "Der Preis für ein
Bleiben heißt Lernen. Der Einwanderer muss viel lernen: eine Sprache, eine
lokale Kultur, ein komplexes System von Rechten und Pflichten."
Das Zuwanderungsgesetz sieht vor, dass Neuankömmlinge mit einer dauerhaften
Aufenthaltsperspektive unmittelbar nach der Einreise Integrationsangebote nutzen
können. Dazu gehören Sprachkurse und Orientierungskurse zur Rechtsordnung,
Kultur und Geschichte Deutschlands aber auch zu praktischen Fragen des täglichen
Lebens. Deutschland ist kompliziert: Gesetzliche Ladenschlusszeiten, drei
verschiedene Mülltonnen und das Preissystem der Deutschen Bahn.
Eine Gruppe, die sich bis Mitte der neunziger Jahre sehr erfolgreich
zurechtgefunden hat, sind die rund 2,9 Millionen deutschstämmigen Aussiedler und
ihre Familienangehörigen. Seit einigen Jahren beobachten wir jedoch mit Sorge
eine Reihe von problematischen Entwicklungen. Grund für die steigenden
Integrationsdefizite ist der immer größer werdende Anteil von mitreisenden
Familienangehörigen, die nicht deutscher Herkunft sind und in den meisten Fällen
über keinerlei Sprachkenntnisse verfügen. Sie machen inzwischen gut drei Viertel
des Zuzugs von Spätaussiedlern aus.
Das Zuwanderungsgesetz legt fest, dass diese Personen künftig nur dann mitreisen
können, wenn sie Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen können.
Sprache ist enorm wichtig für das Gelingen von Integration. Heidegger nennt sie
das "Haus des Seins". Sprachkurse sind jedoch auch nicht das Allheilmittel. Wir
müssen mit unserer Integrationspolitik das Augenmerk auch darauf richten, dass
Sprachkenntnisse stark von der Wohn-, Beschäftigungs- und vor allem von der
Bildungssituation der Zuwanderer abhängig sind.
Die vier nationalen Minderheiten und auch die vielgestaltige Zuwanderung der
letzten Jahrzehnte lassen es nicht zu, Nation und Staatsangehörigkeit in
Deutschland mit Ethnie und Volk gleichzusetzen. Der Versuch, ethnische
Homogenität durchzusetzen, hat stets zu größten Konflikten und Grausamkeiten
geführt. Das zeigten auch in jüngerer Vergangenheit die Kriege in Südosteuropa.
In Deutschland haben wir uns erst nach zwei Weltkriegen mit ihren
nationalistischen Exzessen von einer "völkischen" Auffassung dessen, was deutsch
ist, verabschiedet. Das Zuwanderungsrecht und das reformierte
Staatsangehörigkeitsrecht bekräftigen unser gewandeltes Verständnis von einer
deutschen Nation, der Menschen ungeachtet ihrer Herkunft angehören können,
sofern sie die Grundwerte teilen, auf denen unser Gemeinwesen beruht.
Das heißt auch und zuallererst, dass wir in jedem Menschen die unverwechselbare
Individualität in ihrer eigenen Würde erkennen und anerkennen, die
unterschiedlichste Identitäten in sich vereinigt. So wie der italienische
Schriftsteller Umberto Eco seine Identität versteht: "In Rom bin ich Mailänder,
in Paris bin ich Italiener, und in New York bin ich Europäer." Und auf dem Mars
könnte er sagen: "Sono uomo". Und überall ist er Umberto Eco.
hagalil.com
21-07-2004 |