Frankreich:
Die Geschichte einer erfundenen antisemitischen
Aggression
Und was man daraus (trotzdem) lernen kann
Von Bernhard Schmid, Paris
Hinterher ist man immer
klüger oder man tut so, als ob. Einige Zeitungen und Radiosender
warnen jetzt vor unbedachtem Aufrütteln von Emotionen durch
voreilige Berichterstattung, nachdem halb Frankreich sich über
Berichte von einer besonders spektakulären antisemitischen Gewalttat
empört hatte.
Erste Demonstrationen hatten
bereits stattgefunden: Die Kommunistische Partei hatte zu einer
Kundgebung im Pariser Stadtteile Belleville aufgerufen,
unterschiedliche linke und linksalternative Strömungen waren
gekommen. Der sozialdemokratische Präsident des Regionalparlaments,
Michel Huchon, seinerseits hatte mit den Abgeordneten eine
Protestveranstaltung abgehalten. Jetzt warnen manche Medien vor
verantwortungslosem Hochkochen. Aber was, wenn beim nächsten Mal die
Nachricht zutreffen sollte?
Auf allen Kanälen war am
vorletzten Wochenende und zu Beginn der vergangenen Woche über den
Angriff auf die 23jährige Marie-Léonnie und ihr ein Jahr altes Baby
im Pariser Vorortzug RER berichtet worden. Eine antisemitisch
motivierte Aggression: Nach den Schilderungen der Angegriffenen
hätten die sechs jungen Männer vier maghrebinischer und zwei
schwarzafrikanischer Herkunft, wie sie präzisierte , sie zunächst
ausrauben wollen. Doch nachdem sie ihren Personalausweis fanden und
sie aufgrund einer alten Adresse fälschlich für eine Jüdin hielten,
so die Schilderung, hätten die 15- bis 20-jährigen Täter sich mit
Vehemenz auf sie gestürzt und ihr drei Hakenkreuze mit einem
Markierer auf den Bauch gemalt. Und dann kam heraus: Alles war
erfunden.
Einige Widersprüche in der
Aussage des Opfers und sechs voraus gehende Strafanzeigen in einem
kurzen Zeitraum, die bereits als fragwürdig galten, hatten das
Misstrauen der Ermittler erweckt. Marie-Léonne gestand; in ihrer
Wohnung wurde der Filzstift, mit dem die Hakenkreuze gemalt worden
waren, gefunden. Ihr droht eine Geldstrafe wegen irreführender
Strafanzeige, und sie muss sich in psychiatrische Behandlung
begeben.
Das Motiv der jungen Frau, die
den Überfall auf sich selbst erfunden hat? Nach übereinstimmenden
Aussagen der Polizei, ihres Anwalts und von Beobachtern lautet, dass
sie sich in einer psychisch prekären Lage befand und Aufmerksamkeit
auf sich ziehen wollte. Dabei bediente sie sich dessen, was ihr als
besonders geeignete "Masche" erschien also der Behauptung,
antisemitische Gewaltmotivation sei im Spiel gewesen. Offensichtlich
in dem Glauben, dass man "damit Erfolg hat, auch dann, wenn die
Behauptung erlogen ist". Damit bedient Marie-L., wohl unbewusst,
fatale Sichtweisen und Denkschemata. Auch wenn es allerdings nicht
ihr erstes Unternehmen dieser Art war: Beim letzten Mal behauptete
sie in einer ebenfalls fingierten Strafanzeige, von "vier oder fünf
Schwarzafrikanern" auf einem Parkplatz vergewaltigt worden zu sein.
Auch das entspringt einem gruppenbezogenen Wahrnehmungsmuster:
"Schwarze sind kriminalitätsanfällig und zudem stark auf Sexualität
fixiert". Unbewusst widerspiegeln die Behauptungen der jungen Frau
damit, Juden wie Einwanderern gegenüber, vorgefasste Denkmuster, die
nicht nur die ihren sind. Im Fall von Marie-L. sind allerdings
starke individuelle Persönlichkeitszüge zu berücksichtigen, die es
nicht erlauben, aus ihr "das Sprachrohr der französischen
Gesellschaft" zu machen.
Einige Lehren, die Gültigkeit behalten
Dass ihre Geschichte falsch war,
erlaubt nicht, die Lehren aus der bereits entstandenen "Affäre"
beiseite zu wischen. So darf der Baum, über den man getäuscht worden
war, nicht den Wald verdecken: In den letzten vier Jahren haben
mehrere hundert Straftaten, Beleidigungen und Aggressionen gegen in
Frankreich lebenden Juden stattgefunden; an ihnen waren auch, aber
nicht allein junge Männer migrantischer Herkunft beteiligt. Deswegen
musste man die behauptete Aggression im RER zunächst für plausibel
halten - auch wenn einige Elemente daran ungewöhnlich waren, etwa
die Hakenkreuze, die dem Opfer angeblich auf den Bauch gezeichnet
wurden. Solche Zeichen gehören normalerweise wirklich nicht zum
Repertoire von Jugendbanden mit migrantischem Hintergrund aus den
Trabantenstädten. Vor dem Hintergrund der real stattgefundenen
Angriffe auf jüdische Rabbiner, Jugendliche, Schul- oder
Synagogengebäude hätte das zwar einem außerordentlichen
Eskalationsschritt entsprochen erschien aber zunächst keineswegs
als unmöglich, sonst hätten die Reaktionen nicht stattgefunden.
Festzuhalten bleibt aber auch
die ethnisierende Sichtweise auf Täter und potenzielle Opfer,
die mehreren der Akteure und Kommentatoren gemeinsam ist.
Bemerkenswert war etwa die Kommentierung durch den konservativen
Figaro am Tag nach dem Bekanntwerden der vorgeblichen Aggression.
"Die Enkel des Maghreb wollen auf ihre Weise am Kampf der
Palästinenser teilnehmen. (...) Der Hass ist dabei, über das
Mittelmeer herüberzuschwappen", war dort am vorletzten Montag in
einem Editorial zu lesen. Als ob das, was in einigen französischen
Trabantenstädten wäre, nicht ein Produkt der französischen
Gesellschaft wäre, für den der Konflikt in Israel und Palästina nur
Projektionsfläche ist: Die Jugendlichen sind in Frankreich geboren,
aufgewachsen und sozialisiert. Und die Tendenzen zur Ethnisierung
und mittlerweile teilweise auch Selbstethnisierung so genannter
"Problembevölkerungen" hängen - auch mit Jahrzehnten
städtebaulicher Segregation in den Banlieues zusammen.
Dass die französischen
Rechtsextremen ihrerseits in ihren Reaktionen diese Segregations-
und Ethnisierungstendenzen noch befördern würden, das war zu
erwarten. In den Verlautbarungen des Front National verschwimmt der
antisemitische Kontext der behaupteten Aggression: Ähnliche Attacken
beträfen "täglich hunderte von Frauen" in den Vorortzügen. Nur
manifestierten normalerweise die Täter nicht in erster Linie
Judenhass, sondern antiweißen, "den gewöhnlichen antifranzösischen
Rassismus". Unschwer zu erraten, dass arabischstämmige und schwarze
Einwanderer dabei als kriminogene Bevölkerungen auftauchen.
Umgekehrt gibt es aber auch die
Vertreter einer auf nationaler oder konfessioneller Herkunft
fußenden Selbstethnisierung, die ihrerseits ein Komplott gegen
"Araber und Moslems" hinter der Medienberichterstattung über die
vorgebliche Gewalttat im RER sehen. So spricht die Liste
Euro-Palestine, die sich im Vorfeld der Europaparlamentswahlen vom
Juni bildete und deren "harter Kern" unter Olivia Zemor nunmehr als
kommunitaristisch-populistische Klein(st)partei weiterzumachen
versucht, in einem Kommuniqué gleich pauschal von einer "Serie
falscher antisemitischer Taten" und "Manipulationen".
Ihre Wortführer riefen am
vorigen Donnerstag in diesem Sinne zu einer Kundgebung gegen
Medienmanipulation vor dem Pariser Fernsehhaus auf, die aber
bedeutungslos blieb. Das Agieren der Kleinpartei ist höchst
umstritten, und auch die Delegierte der Palästinensischen
Autonomiebehörde, Leila Schahid, hatte sie kurz vor den Europawahlen
zum Rückzug ihrer Liste aufgefordert, die nur Schaden anrichte.
Gesamtgesellschaftlich blieb die Liste, mit 1,8 Prozent im Großraum
Paris (bei hoher Wahlenthaltung), eher marginal. Aber in einigen
Hochhaussiedlungen im weiteren Pariser Umland, etwa auf dem Gebiet
der Kommunen Garges-lès-Gonesse (dort erhielt die Liste stadtweit 10
Prozent) und Sarcelles, meist weitab vom Zentrum der Hauptstadt,
wurde sie zu einer der stärksten Parteien und überschritt
stellenweise die 20-Prozent-Marke. Auch das ist ein Spiegel der
Zustände in einem Teilbereich der französischen Gesellschaft.
hagalil.com
18-07-2004 |