Widerstand gegen Hitler:
Den Namenlosen ein Denkmal setzen
Die Protagonisten, die im Juli 1944
Bomben gegen Hitler legten, werden derzeit medial vermarktet. Viele andere
jedoch, die im Kampf gegen das NS-Regime ihr Leben ließen, sind vergessen.
Hilde Meisel war eine von ihnen
Von Knut Bergbauer
Erschienen in: Freitag, Die
Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 31
Um die Zeit, als in Deutschland der Bombenanschlag der
militärischen Opposition auf Hitler stattfand und misslang, im Sommer 1944,
bereiteten sich in der Nähe von London zwei junge Frauen in Schulungskursen
des amerikanischen Geheimdienstes auf ihren Einsatz gegen Nazi-Deutschland
vor.
"Theoretisch wurden wir auf den praktischen deutschen
Alltag im Nationalsozialismus geschult. Das heißt, wir mussten wissen,
welche Meldeformulare gerade im Umlauf waren, welche Lebensmittelkarten
benutzt wurden, wie man an eine Wohnung kam, welche Bescheinigungen man
haben musste um eine Arbeit zu erhalten", erinnerte sich eine der beiden,
Anna Beyer später. Hilde Meisel, die andere, feierte in dieser Zeit ihren
30. Geburtstag. Am 31. Juli 2004 würde sie 90 Jahre alt.
Unter schlechtem Stern geboren
In der Geschichte des Widerstandes gegen den
Nationalsozialismus und dessen Dokumentation ist Hilda Monte, so der Name
Hilde Meisels in der Emigration, präsent und abwesend zugleich. Bekannt ist
ein Foto: ein einprägsames Gesicht, bestimmter Ausdruck, die Haare
zurückgekämmt, was dem Gesicht eine gewisse Strenge und Ernsthaftigkeit
gibt. Eine Jacke, die wie ein klösterliches Ornat wirkt, vervollständigt das
Bild. Das Foto erschien meines Wissens zuerst 1954 in Annedore Lebers
Widerstands-Sammlung Das Gewissen steht auf. Darin finden sich auch ein
Gedicht und eine Biografie Hilda Montes, die bis heute die Grundlage fast
aller Anmerkungen zu ihrer Person bilden.
Interessant ist Annedore Lebers Darstellung, die später
durch einen weiteren Band ergänzt wurde, schon deshalb, weil sie in ihrer
Zeit eine der wenigen (bebilderten) Veröffentlichungen im Westen
Deutschlands ist, die nicht allein den Widerstand des 20. Juli zum Thema
hat, sondern um eine darüber hinausgehende Darstellung bemüht ist. Doch der
Kalte Krieg hat auch hier schon seine Spuren hinterlassen, so findet sich in
dem Buch kein einziger Protagonist des kommunistischen Widerstandes.
Schon kurze Zeit nach ihrem Tod 1945 haben die
überlebenden Genossen in einem Rundschreiben der Union deutscher Sozialisten
in der Schweiz begründet, warum sie angesichts der vielen Toten gerade auf
das Schicksal von Hilde Meisel/Hilda Monte aufmerksam machen wollen: "Haben
nicht unzählige Namenlose das gleiche Schicksal erlitten, tragischer
vielleicht, weil völlig in der Stille, so dass nicht einmal
freundschaftliche Worte des Gedenkens für sie laut werden konnten? Wir
wissen es. Und doch fühlen wir die Verpflichtung, bei diesem einen Falle zu
verweilen. Nicht nur, weil er - das einzig Tröstliche dabei - vielleicht das
letzte Opfer der unterird[ischen] Opfer im Kampf gegen die Nazis darstellt.
Sondern auch deshalb, weil er eben gerade für alle die Namenlosen gelten,
ihnen allen gleichzeitig ein Denkmal setzen soll, die in der gleichen
Gesinnung u[nd] Tapferkeit ihr Leben hingegeben haben zur Erstreitung einer
besseren Welt."
Geboren wurde Hilde Meisel am 31. Juli 1914 in der
Hauptstadt der Donaumonarchie. Ihre Geburt stand unter keinem guten Stern,
denn drei Tage zuvor hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt. An
Hildes zweitem Lebenstag folgte die Kriegserklärung Deutschlands an
Russland, der Beginn des Ersten Weltkriegs. Schon 1915 zog die Familie
zurück nach Berlin, hier hatten Ernst und Rosa Meisel lange Jahre gelebt,
und hier war 1912 bereits ihre erste Tochter Margot geboren worden. Die
assimilierte bürgerlich-jüdische Familie wohnte im Berliner Westen, Ernst
Meisel bestritt mit dem Import und Export von Haushaltsartikeln sein
Auskommen. Berlin wird auch Hildes letzte Station in Deutschland sein. Nur
wenige Tage vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, im August 1939, gelang ihr
die Flucht nach England, wo sie schon seit 1934 studierte, erst 25 Jahre
alt, konnte sie bereits auf ein bewegtes Leben zurückschauen.
Im "Schwarzen Haufen"
Bis zur Pubertät prägt eine Schilddrüsenkrankheit das
Leben des Mädchens, oft muss es mit der Mutter in die Schweiz zur Kur. Auf
diese Weise soll sie auch vor den Verführungen der Großstadt Berlin und
insbesondere vor dem Einfluss der älteren Schwester Margot beschützt werden.
Diese war, noch mit Billigung der Eltern, 1924 in den Deutsch-Jüdischen
Wanderbund Kameraden eingetreten und hatte sich dort der
linken-sozialistischen Richtung, dem Schwarzen Haufen (SH), angeschlossen.
Die Auseinandersetzungen mit den Eltern sind programmiert, bis diese der
14-jährigen Margot erlauben, in ein möbliertes Zimmer zu ziehen. Da ist sie
schon die Freundin des Führers der Schwarzen Haufen, Max Fürst, den sie
wenige Jahre später heiraten wird. Auch Hilde fühlt sich dem SH, einer
geradezu legendären Gruppe der jüdischen Jugendbewegung, zugehörig. Als die
1928 zerbricht, dürfte sie bei Hilde, einem der jüngsten Mitglieder, nicht
viel Einfluss hinterlassen haben. Einzig das viele Jahre fortbestehende
Netzwerk der Freundschaften bleibt das "Erbe" der Gruppe.
Ohne diese Erinnerungen an die Freunde und den
Zusammenhalt an den Freundeskreis ist die Biografie Hilde Meisels nicht zu
verstehen. Vor allem der Familie von Hannchen Gerbeit, der "Heimmutter" des
SH, hält sie die Treue. Die Familie wird später, in Hildes posthum
veröffentlichter Novelle Where Freedom perished, zur Hoffnung und zum
Prototyp des "anderen Deutschland". Noch im Juli 1944 schreibt Hilde an
Margot nach Palästina: "Ein Freund von mir, der in einem neutralen Land lebt
und möglicherweise Dachau besucht, möchte, falls er nach Berlin kommt,
Hannchen sehen (die er kennt)". Hannchen Gerbeit und ihre Familie gehören
zur kleinen Gruppe der "unbesungenen Helden", jener Minderheit
nichtjüdischer Deutscher, die ihre jüdischen Freunde und Nachbarn in einer
Zeit unterstützt haben, als dies nicht mehr selbstverständlich war.
Für Hans Litten
Der Nimbus des SH wird auch von der Person Hans Littens,
dem ideologischen Kopf der Gruppe, getragen, zu dem nicht nur Hilde aufsah.
Hans Litten hatte als Rechtsanwalt eine Reihe von wichtigen Prozessen gegen
SA-Schläger geführt, aber auch angeklagte sozialistische Arbeiter
verteidigt. Im "Edenpalast-Prozess" 1931 ließ er Hitler einen Meineid
schwören (vgl. Freitag vom 27. Juni 2003). Seit Ende der zwanziger Jahre
wohnte Litten mit Max und Margot Fürst in einer Wohngemeinschaft. Margot
unterstützte ihn außerdem als Sekretärin bei seiner Anwaltsarbeit. Litten
wurde in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet, Ende 1933 misslang der
Versuch von Max und Margot Fürst, den Freund aus dem KZ Brandenburg zu
befreien. Während Max im Frühjahr 1934 aus dem KZ Oranienburg entlassen
wurde, kam Margot erst im Herbst des Jahres - anlässlich der
"Hindenburg-Amnestie"- frei.
Da begegnen sich die Schwestern noch einmal kurz. "Hilde
hatte wohl damals - und sie war noch sehr jung - eine feste Vorstellung von
einer Revolutionärin, die aus dem Gefängnis kommt. Für die Margot immer
mögliche, harmlose Freude und Entspannung hatte sie kein Verständnis",
erinnert sich Max Fürst später.
Als die Familie Fürst 1935 nach Palästina emigriert, weil
sie als Sozialisten und Juden in Deutschland keine Perspektive mehr sehen,
studiert Hilde schon in England. Die Beiträge die sie von hier aus - unter
dem Namen Hilda Monte - für die Sozialistische Warte, der Exil-Publikation
des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), schreibt, befassen
sich meist mit Problemen der Wirtschaft.
Als sich jedoch die Lage Littens, der zu dieser Zeit im KZ
Dachau festgehalten wird, erneut verschlechtert, beteiligt sich Hilde
intensiv an den Bemühungen um seine Freilassung. Sie korrespondiert darüber
intensiv mit anderen Unterstützern und erreicht, dass am 26. Januar 1938 im
Manchester Guardian ihr Aufruf In Dachau Camp. The Tragic Case of Hans
Litten veröffentlicht wird. Doch da ist es schon zu spät. Hans Litten
entschließt sich nur wenige Tage später, in der Nacht vom 4. auf den 5.
Februar, seinem verzweifeltem Leben ein Ende zu machen.
Anfang des Frühjahrs 1941 trifft Hilde in Portugal erneut
auf eine Freundin aus dem Netzwerk des Schwarzen Haufens. Die ehemalige
Führerin der Mädchengruppe, der Margot und Hilde angehörten, Gisa Peiper,
hat sich nach Ende des SH dem ISK angeschlossen. In ihm vereinigen sich
sozialistisches Ethos, das Erbe der Jugendbewegung und Lebensreform-Ideen.
Obwohl der Bund nie mehr als einige hundert Mitglieder hatte, ist er eine
der profiliertesten Gruppen der Linken im Deutschland der späten zwanziger
Jahre. Hilde folgt Gisa und ist seit 1929 im ISK aktiv. Da ist sie gerade 15
Jahre alt. Als der ISK 1932 eine eigene sozialistische Tageszeitung - Der
Funke - herausgibt, beteiligt sich Hilde Meisel mit einer Reihe von Artikeln
über die ökonomischen Probleme in Frankreich, England und Spanien.
Leben und Schreiben gegen Hitler
Doch die Schreiberei genügt Hilde nicht. Im englischen
Exil kommt es 1939/40 über die Frage der Militanz im antifaschistischen
Widerstand zu Auseinandersetzungen, bei denen sie sich auf die Seite der
Verfechter einer eher radikaleren Position, die auch Anschläge auf die
Naziführung befürworten, schlägt. Zusammen mit einigen Genossen trennt sie
sich für einige Jahre vom ISK. Zur Sicherung ihrer Existenz ist sie 1939
eine Scheinehe mit dem deutsch-englischen Anarchisten John Olday
eingegangen. Vieles, was über Hilda Montes Zeit in England später
veröffentlicht wurde, hat seinen Ursprung in Oldays Erinnerungen, in denen
sich Dichtung und Lügen mischen (beispielsweise Montes Beteiligung am
Bürgerbräu-Attentat 1939, die nicht überzeugend verifizierbar ist).
Nachweisbar ist jedoch ihre publizistische Arbeit gegen
die Naziherrschaft. Zusammen mit Hellmut von Rauschenplat (Fritz Eberhard)
veröffentlicht sie: How to conquer Hitler und Help Germany to revolt.
Bekannt wird sie aber vor allem durch ihre Abhandlung The Unity of Europe,
in der sie die ökonomischen Bedingungen einer europäischen Nachkriegsordnung
behandelt. Um nicht nur im Exil präsent zu sein, wird ein eigenes
Radioprogramm installiert, das sich Sender der Europäischen Revolution nennt
und um Einfluss auf Hörer in Deutschland bemüht ist. Ein erhalten
gebliebenes Rundfunk-Manuskript, das Hilde Mitte Dezember 1942 verfasst,
beschäftigt sich mit der Ermordung der europäischen Juden: "Was heute in
Polen geschieht: die kaltblütige Ausrottung des jüdischen Volkes, das
geschieht in Ihrem Namen, im Namen des deutschen Volkes.(...) Beweisen Sie
diesen Menschen Ihre Solidarität, auch wenn es Mut kostet - gerade wenn es
Mut kostet."
In geheimdienstlicher Mission
Doch das Exil und ein Leben in Ungewissheit haben Spuren
hinterlassen, es gibt Spannungen in der Gruppe, und Hilde überwirft sich mit
Rauschenplat. Bis zur ihrer letzten Reise, 1944 in die Schweiz, arbeitet sie
für die Fabian Society, hält Vorträge in Bildungseinrichtungen und vor
Armeeangehörigen über die Situation in Deutschland, den Widerstand gegen
Hitler und die Ziele des Nationalsozialismus. Um dessen Ende zu
beschleunigen, werden Kontakte zu den Geheimdiensten der Alliierten und
anderen Widerstandsgruppen hergestellt. Deswegen ist Hilde auch 1941 in
Portugal. In Zusammenarbeit mit der syndikalistischen Internationalen
Transportarbeiter-Föderation (ITF) versucht sie unter dem Namen Helen
Harriman neue Kontakte zu knüpfen und zerrissene Fäden der
Widerstandsbewegung gegen Hitler wieder zu aufzunehmen. Von den deutschen
Emigranten erhält sie außerdem wichtige Informationen über die Stimmung in
Deutschland. "Mir wurde gerade erzählt, dass ein Mann hier ist, der in
Berlin die ersten großen Angriffe der Royal Air Force erlebt hat. Er
bekräftigte, dass die Berliner Bevölkerung einen heftigen Schock erlitten
und nervös reagiert habe", schreibt sie nach England. Gisela Peiper-Konopka,
die Hilde in Lissabon trifft, ist auf dem Weg in die amerikanische
Emigration. "Sie sagte mir, sie habe den Auftrag, zurück in Länder unter
Naziherrschaft zu gehen, um Untergrundarbeitern zu helfen", erinnert sich
Gisa in ihrer Autobiografie.
Im September 1944 werden Hilde und ihre Freundin Anna
Beyer von einem Flugzeug in der Nähe des Genfer Sees in Frankreich
abgesetzt. Nach vier Wochen kommen sie in die Schweiz und finden bei
ISK-Genossen in Zürich, wenig später im Tessin, Unterkunft. Doch angesichts
des nahen Endes des Nazi-Regimes hält Hilde es hier nicht. Sie hat Kontakte
zu österreichischen Genossen aufgenommen und geht illegal über die Grenze.
Auf dem Rückweg in die Schweiz läuft sie einem Grenzpolizisten in die Hände,
der nach einem Fluchtversuch auf sie schießt. An den Folgen des Schusses in
den Oberschenkel verblutet sie noch am Ort, in der Nähe von Feldkirch. Es
ist der 17. April 1945.
Betrachtet man das immer wieder veröffentlichte Foto von
Hilde Meisel, auf dem sie geradezu madonnenhaft wirkt, und bringt es gar
noch mit den Fragmenten ihrer Biografie in Zusammenhang, scheint alles
geradlinig. Es gibt jedoch auch andere "Bilder". Anna Beyer erinnert sich
daran, dass Hilde große Schwierigkeiten in praktischen Dingen wie etwa bei
Sprungübungen für den Fallschirmunterricht hatte. Auf anderen Bildern ist
sie mit offenen Haaren und einer großen Brille - oder "welch Sakrileg im ISK
- mit einer Zigarette zu sehen. "Liebe Freunde, ich habe Ihnen nur diese
wenigen Zeilen zu schreiben", schrieb Nora Platiel, aus dem Schweizer
Exil-ISK an die Eltern und Freunde von Hilde Meisel/Monte. "Sie erscheinen
mir armselig, wenn ich an das heitere, sprühende Wesen Hildes denke. Aber es
kommt ja nicht auf Worte an. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass nicht Sie
allein Hilde verloren haben. Wir alle haben sie verloren, und sie wird uns
sehr fehlen."
Literatur:
Anna Beyer: Politik ist mein Leben. Frankfurt/M. 1991.
Hilda Monte: Where Freedom Perished. London 1947.
Max Fürst: Gefilte Fisch und wie es weiterging. München 2004.
Gisela Konopka: Mit Mut und Liebe. Weinheim 1996.
hagalil.com
27-07-2004 |