Im Dilemma:
Eindrücke von der radikalen Linken in Israel
Von Stephan Grigat, Tel Aviv
Was bedeutet es, im Staat der Shoah-Überlebenden radikale
Staats- und Kapitalkritik zu formulieren? Radikale Linke befinden sich in
Israel in einem Dilemma, das aber nur den wenigsten bewusst zu sein scheint.
Der Normalzustand ist, dass man sich als Staatskritiker gegen die Ideologie
zur Wehr setzt, der Staat seien "wir alle", und die Anmaßung des Souveräns
zurückweist, einem, da man nun einmal lebt, auch noch ein "Recht auf Leben"
zuzuweisen, mit dem die staatliche Gewalt stets demonstriert, dass sie
dieses Recht jederzeit auch entziehen oder relativieren kann.
Abstrakt trifft das auf Israel ebenso zu; Israel aber ist
nicht "normal", ist kein "Staat wie jeder andere auch", sondern die
bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ein bewaffnetes
Kollektiv zur Abwehr des antisemitischen Terrors. Insofern ist seine
Existenz, auch wenn dieses scheinbare Paradox nur wenige in der radikalen
Linken wahrhaben möchten, die Bedingung für radikale Kritik an Staat und
Kapital.
Es war Benny Morris, der frühe Kritiker der zionistischen
Gründungsmythen, der in der Tageszeitung Ha’aretz festhielt, dass sich nicht
nur viele europäische Beobachter, sondern auch die radikalen Linken in
Israel oft weigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kampf der Palästinenser
sich nicht allein gegen die Besatzung in der Westbank und im Gazastreifen
richtet, sondern fast immer auch gegen das israelische Existenzrecht und
gegen all jene Ausprägungen von menschlichem Dasein, die den religiösen und
nationalistischen Jihadisten als Ausgeburt des "westlichen Satanismus"
gelten.
Und tatsächlich: Gespräche mit israelischen radikalen Linken
über den Konflikt mit den Palästinensern nehmen stets einen ähnlichen
Verlauf. Der Konflikt ist zwar das alles beherrschende Thema, aber der
Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften wird von der radikalen
Linken weitgehend ignoriert. Spricht man Aktivisten darauf an, sei es aus
dem autonom-anarchistischen, sei es aus dem marxistisch-leninistischen
Milieu, kann man in der Regel das gleiche Reaktionsmuster beobachten.
Anfänglich wird die Existenz eines Antisemitismus schlicht
geleugnet. Gib man sich damit nicht zufrieden, so wird er verharmlost, mit
dem Hinweis auf die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern
rationalisiert oder im Vergleich mit dem antiarabischen Rassismus in Israel
relativiert. Am häufigsten wird er mit dem Hinweis auf die Besatzung
entschuldigt, wobei man sich fragt, was dann der Grund für den arabischen
Antisemitismus vor 1967 war. Nicht selten geben jedoch dieselben Leute nach
einiger Zeit zu, dass der palästinensische Judenhass ein zunehmendes Problem
ist, nur könne es für eine radikale Linke kein Thema sein, da der
Antisemitismus stets vom "zionistischen Establishment" instrumentalisiert
werde. So ist es auch kein Wunder, dass die Auseinandersetzung mit der
Ideologie des islamistischen "Umma-Sozialismus", wie man die jihadistische
Mordbrennerei in Anlehnung und Abgrenzung zu ihren nationalsozialistischen
Vorbildern vielleicht nennen sollte, vor allem von der Rechten und der
zionistischen Linken geführt wird.
Womit aber beschäftigt sich die israelische radikale Linke
ansonsten? Mit nicht viel anderem als ihre Genossen in Europa: Demos gegen
die Befreiung des Irak von der ba’athistischen Diktatur, Sozialabbau,
Frauendiskriminierung. Besonders ausgeprägt ist die Beschäftigung mit
"Tierrechten", wenn’s ganz arg kommt, auch schon mal mit "Pflanzenrechten".
Vorreiter sind dabei anarchistische Gruppen, insbesondere die Tierrechtler
von Ma’avak Ehad.
Trotzkisten, von denen sich in früheren Jahren einige dadurch
hervorgetan haben, dass sie die Kooperation mit so emanzipatorischen Regimes
wie dem syrischen propagierten, sind wie üblich in konkurrierenden "Vierte
Internationale"-Parteien organisiert. Gruppen wie The Socialist Struggle
freuen sich über steigende Mitgliederzahlen, präsentieren stolz ihre
Neuzugänge aus den Reihen junger russischer Einwanderer und werfen auf ihren
Treffen allen anderen Trotzkisten naturgemäß vor, sich von den "Arbeitern
und Massen entfernt" zu haben. Auf Demonstrationen kann man Aktivisten
antreffen, die einem, wie um beweisen zu müssen, dass sich die obskursten
Charaktere in der radikalen Linken stets in einem der Fanclubs des
bolschewistischen Möchtegernstalin organisieren, die Propagandalüge
auftischen, die Zionisten hätten "hervorragend mit den Nazis
zusammengearbeitet".
Das Israel Communist Forum ist eine Gruppierung, die sich
1999 von der israelischen KP abgespalten hat, um – nach wie vor auf der
Grundlage des Marxismus-Leninismus – den wahren Kommunismus gegen alle
Abweichungen zu verteidigen. Auch die Linksradikalen um das Magazin
Challenge gründen ihre Analysen auf die Imperialismusvorstellung des ML.
Infi hingegen, das International Non-Movement for In-Action,
ist eine Kleingruppe, die traditionelle Linke bei ihren Veranstaltungen mit
situationistisch inspirierten Aktionen verunsichert. Auf der großen
Friedensdemonstration am 15. Mai forderte sie die Anwesenden auf, ihre
nutzlosen Aktivitäten einzustellen und sich sinnvollen Dingen wie Bügeln
oder Fernsehen zu widmen, was bei den Kundgebungsteilnehmern verärgerte bis
aggressive Reaktionen hervorrief – auch wenn es sich bei Infi in
Wirklichkeit um gewaltfreie Anti-Zaun-Aktivisten handelt, die lediglich die
ritualisierten Protestformen durch "kreative" ergänzen wollen.
Selbstverständlich gibt es auch Poplinke, die den 1. Mai in Tel Aviv gerne
im "Club Kosmonaut" verbringen und sich dort sowjetische Propagandafilme und
Videoclips reinziehen, in denen israelische Politgrößen wie Golda Meir oder
Moshe Dayan neben Pornobildern gezeigt werden. Nach Aussage der Kellnerin
will man mit Politik aber "auf gar keinen Fall etwas zu tun haben".
Im universitären Bereich ist der Linksradikalismus untrennbar
mit Moshe Zuckermann verknüpft. Der Direktor des Instituts für deutsche
Geschichte in Tel Aviv hat zahlreiche wichtige Publikationen über
Diskriminierungen in der israelischen Gesellschaft vorgelegt, steht aber
ansonsten für einen poststrukturalistisch aufgepeppten Traditionsmarxismus,
der selbst noch die Kritische Theorie sozialdemokratisiert. In Deutschland
nimmt Zuckermann mittlerweile an Konferenzen mit Freunden des Ba’athismus
und Islamismus und mit Norbert Blüm teil. In Israel organisierte und
moderierte er kürzlich eine Tagung mit Edzard Reuter und dem Sohn von
Hanns-Martin Schleyer, auf der dann auch die entsprechenden Inhalte geboten
wurden.
Vergleiche mit Nazi-Deutschland sind in der israelischen
Linken, wenn auch in der Regel aus anderen Motiven als in den
Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus, obligatorisch; ob nun die
Ha’aretz-Korrespondentin Amira Hass von "Herrenmenschen" spricht,
Anarchisten T-Shirts mit der Aufschrift "Ghetto 2004" vertreiben oder
Benjamin Netanyahu in "It’s all lies", einer Dokumentation von Flugblättern,
mit Hitlergruß abgebildet ist.
Zwischen der antizionistischen und der zionistischen Linken
kommt es immer wieder zu Konflikten. Bereits im vergangenen Jahr waren
Reservisten, die zwar den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, aber
jederzeit bereit sind, das Land gegen Angriffe militärisch zu verteidigen,
und das mittels der israelischen Fahne auf ihren T-Shirts auch deutlich
machen, auf Demonstrationen mit antizionistischen Sprechchören konfrontiert.
Anarchokommunisten, vornehmlich aus Haifa, fanden es bei der
Friedensdemonstration vom 15. Mai angebracht, die Nationalhymne Hatikva –
mit der die Kundgebung beendet wurde, da es der zionistischen Linken in
Israel im Gegensatz zu der Mehrzahl ihrer europäischen Fangemeinde
tatsächlich um die Sicherung des Bestandes Israels geht – durch den Slogan
"Zionismus ist Rassismus" zu stören – eine Parole, die auch dann nicht
intelligenter wird, wenn sie von israelischen Linksradikalen skandiert wird.
Auf der diesjährigen 1. Mai-Demonstration in Tel Aviv kam es aus dem
gleichen Anlass zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ordnern von
Hanoar Haoved Vehalomed, der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, und
Anarchisten aus dem Umfeld des autonomen Infoladens Salon Mazal.
Nach ihren eigenen Schätzungen gibt es in Israel rund 200
Anarchisten, fast ausnahmslos junge jüdische Israelis. Israelische Araber
tendieren, wenn sie sich für linke Politik jenseits der Sozialisten
interessieren, in der Regel zu den Parteikommunisten von Hadash. Eigenen
Angaben zufolge haben die israelischen Anarchisten allerdings Kontakte zu
kleinen Grüppchen in palästinensischen Flüchtlingslagern.
Die heutigen Anarchos stehen weniger in der Tradition der
anarchistischen Black Front der frühen siebziger Jahre mit ihrer Publikation
Freaky, sondern eher in jener der Anarcho-Punks der achtziger Jahre, die
ausgehend von der Pacifist Youth die Israeli Anarchist Federation gründeten,
welche sich bereits jener Themen annahm, die auch für die heutigen
Anarchisten neben dem Antizionismus zentral sind: McDonald’s, Vegetarismus
und Umweltschutz.
hagalil.com 18-07-2004 |