Die Furche:
Herzls Vision und ihre Wirklichkeit
Von Karl Pfeifer
Die katholische Wiener Wochenzeitung "Die Furche" hat
anlässlich des 100 Todestages von Theodor Herzl einige Artikel "Herzls
Vision und ihre Wirklichkeit" gewidmet.
Otto Friedrich schrieb unter diesem Titel seinen Leitartikel
in dem auch Kurt Schubert, Doyen der Judaistik in Österreich und Europa zu
Wort kommt. Dieser charakterisiert im Furche-Gespräch den Zionismus als
"einzige noch haltende verbindende Kraft der Juden untereinander". Neben der
Erinnerung an die Schoa, die ja schon Geschichte sei, müsse gegenwärtig "die
Solidarität mit Israel, Angst mit Israel eine verbindende Kraft für das
Judentum" sein.
Dabei ist das Judentum alles andere als homogen. Schubert
zeigt dies etwa beim Verhältnis von Zionismus und jüdischer Religion auf:
"Es gibt in Israel zionistische Parteien, die extrem religiös sind, andere
religiöse Parteien, die den Zionismus ablehnen und der Meinung sind, der
König von Jordanien ist auch ihr politischer Herrscher. Und dann gibt es
Leute, die sagen, weil die messianische Zeit noch nicht angebrochen ist,
müssen wir in der Diaspora bleiben und dürfen nicht nach Israel gehen;
andere wiederum sagen: Wenn wir in Israel auch nur einen Quadratkilometer
aufgeben, dann wird Gott uns bestrafen – und wir haben uns vor den Völkern
weniger zu fürchten als vor Gott!" [...]
Judaist Schubert ordnet Herzls Ausgangspunkt historisch als
Identitätskrise des Judentums ein: Im Europa des 19. Jahrhunderts
emanzipierte sich das Judentum, es kam aus den Ghettos heraus. "Aber", so
Schubert, "wenn die normalen sozialen Bedingungen, in denen eine Religion
lebt, nicht mehr gegeben sind, dann kommt die Identitätskrise von selbst.
Das heißt, das Ende des Ghettos hat für die Juden eine neue Wertskala
gebracht – nicht mehr die alte Tradition, nicht mehr die Frömmigkeit, nicht
mehr das strenge koschere Leben, sondern das Leben in der bürgerlichen
Gesellschaft, in deren Kultur, in die man sich dann völlig eingelebt und
dann selbst geprägt hat."
Aber die Emanzipation hat dem Judentum nicht die ersehnte
Anerkennung und schon gar nicht den Antisemitismus zum Verschwinden
gebracht. Daher meint Schubert, der Zionismus sei "per definitionem die
Reaktion auf die missglückte Emanzipation" der Juden. Und der engagierte
Katholik Schubert fügt hinzu: "Scharf gesagt: Das Judentum hat die Krise,
die wir als Kirche heute durchmachen, vor 100 Jahren durchgemacht".
Wie ist Herzl aber heute zu sehen? Schubert: "Wir dürfen ihn
weder über- noch unterbewerten. Aus seiner Zeit heraus war Herzl jemand, der
das, was er ‚Judennot‘ genannt hat, an sich selber gespürt hat – und der
dann gesagt hat: Daher müssen wir einen eigenen Staat haben, in dem wir so
leben können, wie wir in Wien gerne leben würden."
Unter dem Titel "Kein Zufall, dass Herzls Vision in Wien
entstand" bringt die Furche ein ausführliches spannendes Interview mit dem
an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrenden Politikwissenschaftler
Shlomo Avineri, der u.a. befragt zur Rolle die Europa spielen könnte, meint:
"Wenn Europa Bosnien oder den Kosovo löst, wenn Europa Zypern löst – wo die
europäische Politik wieder gescheitert ist! – dann soll man sich auch mit
dem Nahen Osten beschäftigen. "Europa" mag eine noble Vision sein, aber das
reale Europa ist davon noch weit weg – vielleicht nicht so weit wie der
reale Kommunismus von der kommunistischen Vision entfernt war, aber doch
weit. Deshalb sollten wird darüber nicht nachdenken, solange Europa sein
Haus nicht bestellt hat."
er gebürtige Wiener und ehemaliger Chefredakteur der
"Jerusalem Post" Ari Rath beantwortet die Frage über den andauernden
Konflikt mit den Palästinensern optimistisch und zitiert Ben Gurion. "Wenn
man in Israel kein Träumer und Idealist ist, dann ist man auch nicht
realistisch. In Israel muss man an Wunder glauben: Das ist aber gar kein
Wunder, sonder eine gegenseitig anerkannte Notwendigkeit, die wir irgendwie
erfüllen müssen, denn beide Seiten wissen ganz genau, wie die Konturen eines
friedlichen Ausgleichs ausschauen werden. Und man sollte nicht noch mehr
Zeit und Blut verschwenden."
Die in Wien lehrende evangelische Theologin Susanne Heine
veröffentlicht in dieser Ausgabe einen Auszug aus ihrem am diesjährigen
Herzl-Symposium gehaltenen Vortrag unter dem Titel "Herzl und die
Verantwortung der Christen" in dem sie sich mit der gescheiterten
Assimilation befasst und darauf hinweist, dass Europa angeblich christlich
war, "aber die Christen wollten ihre jüdischen Wurzeln nicht wahrhaben."
Susanne Heine kommt zu folgendem Schluss: "Die fatalen Folgen
dieser Haltung ziehen sich schrecklich durch die Geschichte. Jahrhunderte
des Antijudaismus, verweigerte Assimilation, Geringschätzung der Taufe – was
christliche Verantwortungslosigkeit angerichtet hat, lässt sich nicht mehr
aus der Welt schaffen, aber beenden. Heute kann für die Christen nur ein
aufrichtiges Gespräch mit den Juden den Antisemitismus von seiner
christlichen Legitimation abschneiden, um die Gleichheit der Menschen
ungleichen Glaubens an den gleichen Gott zu bekennen."
"Die Furche" hat mit der aktuellen Ausgabe einen wichtigen
Beitrag zu diesem "aufrichtigen Gespräch" im Sinne von weltoffenem
Christentum geleistet.
hagalil.com 04-07-2004 |