von Dr. Irene Runge
Am Rande der dreijährigen Verhandlungen über ein Zuwanderungsgesetz
wurde erstmals seit 1991 auch an der Kontingentregelung für jüdische
Einwanderinnen und Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gerüttelt.
Selbst wenn im abschließenden Gesetzentwurf keine Änderungen an der
bestehenden Regelung festgeschrieben worden sind, bleiben die diskutierten
Einschränkungen hochbrisant, zumal die ursprünglich von der
Innenministerkonferenz beschlossene Kontingentregelung jederzeit von dieser
geändert werden kann - und offenbar auch werden soll. In der Diskussion über
das Zuwanderungsgesetz haben dem Vernehmen nach auch mehrere Innenminister
der Länder Änderungsbedarf im Sinne einer Begrenzung der jüdischen
Einwanderung angemeldet, wegen der "hohen Sensibilität" des Themas
allerdings eher leise.
Nun sind die hiesigen Innenminister in Bund und Ländern nicht für
übertriebene Vorsicht bekannt. Geht es um die jüdische Präsenz in
Deutschland, hält man sich aufgrund der mahnenden deutschen Geschichte
jedoch üblicherweise vor politisch nicht korrekt erscheinenden Anmerkungen
zurück. Umso problematischer erscheint daher die zweischneidige Anregung,
die der Zentralrat der Juden in Deutschland den Aposteln der
Zuwanderungs-begrenzung unterbreitet hat.
Der Zentralrat will seine Politik eines Alleinvertretungsanspruchs von
Jüdinnen und Juden in Deutschland festklopfen, vor allem, da diese gerade
jetzt im Streit um Fördergelder mit der Union für Progressives Judentum auch
öffentlich erkennbar geworden ist. Zwar kann er nicht für die gesamte
jüdische Bevölkerung im Lande sprechen - nicht für die außerhalb seiner
Gemeinden organisierten Anhänger jüdischen Liberalismus oder die
unorganisierten Anhänger jüdischer Säkularität - aber weil schon König und
Kaiser es bequemer fanden, nur einen Gesprächspartner des Judentums
anzuerkennen, wird der Zentralrat bis heute als einzige jüdische Stimme mit
staatlichen Wohlwollen versehen. Fälschlicherweise gilt er auch als Promotor
der neueren jüdischen Einwanderung.
Die Fakten der Kontingentregelung
Die Geschichte der Kontingentregelung aber ist eine andere. Sie reicht
zurück bis zum 6. Februar 1990, als der sich in Gründung befindende Jüdische
Kulturverein Berlin e.V. am Zentralen Runden Tisch der DDR dazu aufrief,
Juden und Personen aus jüdischen Familien aus der Sowjetunion in die noch
bestehende DDR einwandern zu lassen, sofern sie dies angesichts der dortigen
politischen Instabilität und damit verbundener antisemitischer Bedrohungen
wollten. Dem Vorschlag stimmten in der Euphorie des Aufbruchs alle am
Zentralen Runden Tisch vertretenen Parteien und gesellschaftlichen
Initiativen zu. Dieser Empfehlung folgend öffnete die am 18. März 1990 frei
gewählte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maiziere im Mai
1990 dje Grenzen. Die ersten 70 Menschen kamen als Einwanderinnen und
Einwanderer und beriefen sich auf jüdische Mütter oder Väter.
Nach dem Beitritt der DDR wurde jene unzeitgemäß liberale Festlegung im
Januar 1991 durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz in die noch
heute geltende Regelung für Kontingentflüchtlinge überführt. Demnach können
diejenigen, die jüdische Mütter (halachische Juden) oder jüdische Väter
(jüdische Herkunft) haben, zusammen mit ihren Verwandten ersten Grades
(Ehepartner, minderjährige Kinder) aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion
- also einem Sechstel der Erde! - nach Deutschland einwandern. Vorausgesetzt
ist, dass die jüdische Herkunft amtlich von Behörden (Geburtsurkunden)
bestätigt wird. Die Zahl dieser Einwanderer hat sich inzwischen auf jährlich
bis zu 16.000 eingependelt. Die Einwanderung erfolgt mit dem Ziel, in
Deutschland einen Lebensmittelpunkt zu finden, nicht aber, um in andere
Länder weiter zu wandern, wie immer wieder kolportiert wird. Es handelt sich
um eine Entscheidung gegen Israel (die Einwanderung dorthin wäre für diesen
Personenkreis im Sinne der "Heimkehr-Regelungen unproblematisch, aber u.U.
um einen Ausweg, was die USA angeht, wohin die jüdische Einwanderung seit
dem Ende der Sowjetmacht schwer geworden ist). Dass Deutschland dadurch die
am schnellsten wachsende jüdische Gemeinschaft in Europa wurde, ist eine für
viele erfreuliche Tatsache.
Abb.:
Deutschunterricht in der Jüdischen Gemeinde Hameln
Deutschland, so hieß es zu Anbeginn, darf angesichts der Schoah niemals
mehr zusehen, wenn jüdisches Leben gefährdet sein könnte. Die damalige
Entscheidung zugunsten der Einreisewilligen folgte als eine Lehre aus der
deutschen Geschichte und aufgrund eines in der Folge der sowjetischen
Perestroika zunehmend ungehindert öffentlich agierenden Antisemitismus. Im
Jahr 1990/91 wurde noch sehr ernstgenommen, dass die als Tradition
verfestigten antisemitischen Grundeinstellungen im russischsprachigen Raum
vor allem in politisch unsicheren Zeiten erfahrungsgemäß immer wieder
aufbrechen. Von zentralem Stellenwert war dabei die Tatsache, dass in der
Sowjetunion und den heutigen Nachfolgestaaten Judentum nicht allein als
Religion, sondern vor allem als Nationalität festgeschrieben ist, die in der
Regel am Vater festgemacht wird (und sich damit unter anderem in einem durch
diesen weitergegebenen erkennbar jüdischen Namen ausdrückt). Demgegenüber
akzeptiert das jüdische Religionsgesetz Halacha nur die mütterliche Linie,
wenn es um die Zugehörigkeit zum Judentum geht.
Zuwanderung nur für Religiöse?
Genau hier setzt der Vorschlag des Zentralrats der Juden in Deutschland
an, die seit 1990 bestehende Einwanderungspraxis im "jüdischen Kontingent"
grundlegend umzugestalten. Inhalt des Änderungsvorschlags, der am Rande der
Gespräche über das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz formuliert und schnell vor
der Öffentlichkeit verschwiegen wurde, ist, dass Zuwanderungswillige in den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion einerseits orthodox-rabbinisch als Juden
bestätigt und andererseits in dortigen jüdischen Gemeinden bekannt sein
sollten. Dies würde bedeuten, nur diejenigen dürften nach Deutschland
einwandern, die gemäß Religionsgesetz von einer jüdischen Frau geboren oder
durch orthodoxe Rabbiner konvertiert worden sind.
Bisher galten aus bereits beschriebenen Gründen die erweiterten Regeln,
die übrigens nicht zufällig auch die Einwanderungspraxis des Staates Israel
bestimmen und in der Zeit des Kalten Krieges durch alle westliche
Aufnahmestaaten in Anwendung gebracht worden sind.
In öffentlichen Briefen an Bundesinnenminister Otto Schily begründen die
Weltunion der Progressiven
Juden in Deutschland, das
Abraham-Geiger-Kolleg Potsdam, der
Jüdische
Kulturverein Berlin e.V. und der Weltkongress der Russischsprachigen
Juden deutlich ihren Protest gegen diesen Vorschlag des
Zentralrats der Juden
in Deutschland. Sie argumentieren, dass der Zentralrat-Vorschlag
auch deshalb inakzeptabel sei, weil ein Religionsgesetz nicht die Regeln
staatlicher Einwanderung kodifizieren dürfe. Religion sei in Deutschland
Privatsache, alles andere wäre jenseits auch moralischen Sachverstands eine
"Konfessionalisierung" des Judentums, die die säkulare Nationalität aus dem
Judentum herausdefiniere und an der Realität des Antisemitismus in Osteuropa
vorbeigehe. Die Nazis wie heutige Antisemiten interessieren sich bei ihren
Praktiken nicht für die religiösen Regeln im Judentum. Diese Argumente
stehen dem Vorschlageines Einwanderungsstopps für jene entgegen, die wegen
jüdischer Nationalität und väterlichem Namen zur Projektionsfläche
antisemitischer Übergriffe werden könnten -subtil, verbal, physisch.
Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, als wären antisemitische
Stereotype wegen der Religion und gegen die religiös-jüdische Logik
entstanden. Dies hieße, dem Antisemitismus eine Form von Rationalität
zuzusprechen, die er in seiner rassistischen Irrationalität nicht besitzt.
Anders als die orthodoxe akzeptiert zudem die liberale jüdische Bewegung
beispielsweise in den USA auch diejenigen als Juden, die "nur" einen
jüdischen Vater haben und bzw. - so in England und jetzt in Deutschland -
erleichtert ihnen unter bestimmten Umständen die Konversion. Die liberale
jüdische Bewegung ist wie die Orthodoxie religiös definiert. Das wird häufig
übersehen. Säkulare Einrichtungen wie der Jüdische Kulturverein Berlin
wiederum fragen ihre Mitglieder nicht nach der Religion, sondern ob sie oder
ihre Vorfahren nach 1933 als Juden verfolgt wurden und ob sie sich heute der
jüdischen Geschichte und Tradition, zu der die Kultur der Religion gehört,
annähern wollen. Dies gilt auch für Einwanderinnen und Einwanderer.
Aus der Perspektive dieser Organisation ist die Vorstellung absurd, dass
einerseits ein Kopftuchverbot gegenüber in Deutschland lebende Muslima
durchgedrückt wird, während andererseits nur noch religiöse Jüdinnen und
Juden einwandern sollen. Mehr noch: Was geschieht mit halachischen Jüdinnen
und Juden, die sich nach ihrer Einwanderung für ein säkulares, also
gemeindefernes Leben entscheiden oder gar nicht-jüdische Ehen eingehen
wollen? Droht ihnen die Abschiebung?
Motivsuche
Wenn der Zentralrat der Juden in Deutschland die bisher bewährten Regeln
ändern will, liegen diesem Ansinnen vermutlich Motivstrukturen zugrunde,
über die es sich nachzudenken lohnt.
Das wesentliche Motiv könnte im schlichten Desinteresse des Zentralrats
an einer nicht-halachischen Einwanderung liegen. Dieses Desinteresse umfasst
dann mehrere Dimensionen. Zunächst einmal entfallen mögliche finanzielle
Beweggründe, die die jüdische Einwanderung für den Zentralrat ansonsten
durchaus attraktiv macht. Zwar gilt auch für die jüdischen Gemeinden das
deutsche Gesetz, das jedes Mitglied der Religionsgemeinschaft verpflichtet,
sechs Prozent der monatlichen Einkommenssteuer an die jeweilige
Religionsgemeinde abzuführen. Aber außer Steuern beziehen die Gemeinden bzw.
der Zentralrat der Juden auch besondere Zuwendungen von Bundes- und
Landesregierungen, die für die Integration der bei ihnen angemeldeten
Einwanderer bestimmt sind. Da nur diejenigen Einwanderer Mitglieder der
Religionsgemeinden werden können, die nach dem Religionsgesetz jüdisch sind
und dies für den Zentralrat und fast alle der ihn bildenden
Einheitsgemeinden verbindlich ist, haben auch die Gemeinden an der Gruppe
nicht-halachischer Juden kaum Interesse. Die Zahl der Gemeindemitglieder ist
Basis für Leistungen, nicht die Zahl der am Ort lebenden
"Kontingentflüchtlinge".
Abb.:
Integration durch Sport: SV Makkabi Bad Segeberg
Geschätzt wird, dass die jüdische Bevölkerung in Deutschland zurzeit
knapp 200.000 Menschen umfasst. Etwa die Hälfte sind die eingetragenen
Mitglieder der Einheitsgemeinden. Davon sind rund 70 Prozent Einwanderer aus
der GUS. Viele der über 100 Gemeinden sind fast oder vollständig
russischsprachig. In manchen Orten soll es keine anderen
Integrationsangebote für im jüdischen Kontingent einwandernde Personen als
die der Jüdischen Gemeinde geben. Die Kommunen haben sich aus einer Pflicht
zurückziehen können, indem sie die teilweise konzeptionslose
Integrationsarbeit den Gemeinden überließen. Damit wurde indes das
wesentliche Problem selbst geschaffen, denn der Staat übergab aus einer Art
philosemitischer Überangepasstheit dem Zentralrat von Beginn an die
Definitionsmacht über den Einwanderungs- und den Integrationsverlauf. Dieser
wiederum verkannte offenbar den Aufwand und die Folgen für seine Gemeinden,
das Erfordernis nach komplexer Integrationsarbeit in deutsche Sprache,
Kultur und Landeskunde und war starrsinnig Änderungsvorschlägen nicht
zugängig. Angesichts der wachsenden internen Schwierigkeiten und eines
zunehmend auch politischen Drucks in Bezug auf die Integrationsarbeit könnte
hier ein weiteres Motiv für das Desinteresse des Zentralrates und seiner
Gemeinden liegen.
Letztlich können die Motive des Zentralrates nur durch diesen selbst
erklärt werden. Dieser aber hat sich bisher einer so dringend gebotenen
öffentlichen Stellungnahme enthalten. In der ihm mehr als nahe stehenden
"Jüdischen Allgemeinen" vom 10. Juni 2004 war allerdings ein Beitrag zu
lesen, der fast wie eine erste Verlautbarung klang. Demnach hätten die
Verhandlungsführer der Parteien nach kurzem Bedenken das Thema aus dem
Zuwanderungsgesetz ausgeklammert und es der Innenministerkonferenz
überlassen. Von einwanderungswilligen Menschen ist die Rede, die zwar nach
Deutschland kommen, aber "nichts mit der jüdischen Gemeinde zu tun haben
wollen" (Schily) und die "nach unserem halachischen Religionsgesetz keine
wirklichen Juden sind" (Spiegel). Sollen demnach zwei Gruppen ausgegrenzt
werden, die gemeindeabstinenten Jüdinnen und Juden und jene, die der
Religionsregel zufolge keine sind und ohne religiöse Konversion auch keine
Gemeindemitglieder sein können?
Die zentrale Frage kann aber nicht die nach einer möglichen
"Konfessionalisierung" der Einwanderung sein, sondern ob Menschen jüdischer
Herkunft in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aktuell antisemitischer
Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt sind. Wenn diese Frage bejaht
wird, sollte Deutschland weiterhin allen Betroffenen mit Offenheit begegnen,
ihre Einwanderung ermöglichen und ihre Integration qualifizieren.
Die Innenministerkonferenz wäre also gut beraten, sich politisch und
nicht theologisch zu verhalten. Sie sollte gründlich überdenken, was die
Folgen einer Einschränkung der Zuwanderungsbestimmungen sein könnten. Und
Bundesinnenminister Schily sollte sich unbedingt Zeit nehmen, um die
erwähnten Schreiben der jüdischen Organisationen endlich zu beantworten und
sie - um ihrer jüdischen und politischen Logik willen - auch den
Landesinnenministern im Sinne der Weiterbildung zu lesen geben.