Muttersprache als Geburtsrecht:
Demokratie ist in der Türkei eine Fata Morgana
Von Haydar Isik
Die Türkei rühmt sich, dass sie ein demokratischer Staat ist. Ein Staat,
in dem 99% Muslim leben, kann durch ihr mäßiges Islamverständnis anderen
islamitischen Staaten ein gutes Beispiel sein, wenn sie in die EU
aufgenommen würde. So ist auch die allgemeine Meinung der EU-Behörden. Jeder
vernünftig denkende Mensch sollte eigentlich der Türkei beistehen, dass sie
in die EU kommen kann. Eine westlich orientierte demokratische Türkei wäre
ein Gewinn für diese unruhige Welt. Ich würde begrüßen wenn die Türkei die
westlichen Normen voll akzeptieren würde, und als ein demokratischer Staat
Vorreiter der islamischen Länder werden würde.
Nur, das ist ein frommer Wunsch, der sternenweit im Himmel
steht. Die Realität der Türkei ist ganz anders. Kann sich ein Land
einerseits demokratisch erklären, andererseits 15-20 Millionen seiner
Bürgerinnen und Bürger - den Kurden- ihre Muttersprache vorenthalten? Wenn
ich daran denke, dass mir das kemalistische Regime in der Türkei meine
Heimat, die warmen Wörter meiner Mutter, die mich geboren, und vor den
türkischen Soldaten gerettet hatte, diese Wörter, die ich als Heimat
betrachte, gewaltsam weggenommen hat, habe ich immer noch eine Wut. Ich
wuchs auf mit diesem fremden Idiom, das mir aufgezwungen wurde und heute
auch meinen Enkelkindern aufgezwungen wird. Die Türkei hat unsere Sprache
–das Kurdische- verboten. Heute ist es
dem kurdischen Widerstand und dem Wunsch der Türkei in die EU aufgenommen zu
werden zu verdanken, dass das Kurdische wenigstens auf dem Papier halbwegs
legalisiert. Es wurde vorgesehen, dass 15-20 Millionen Kurden in der Türkei
nur auf privater Basis und unter staatlich erschwerten vorgeschriebenen
Auflagen ihre Muttersprache lernen dürfen.
Betrachten die EU-Behörden die Muttersprache nicht als ein
Geburtsrecht? Wie steht die EU zu diesem Recht? Warum die Türkei weigert
dieses Geburtsrecht den Kurden? Wenn die Türkei demokratisch ist, müsste sie
eigentlich den Kurden in den staatlichen Schulen das Recht zu sprechen, zu
lesen, und auf Erziehung zugestehen. Bis heute wurden nur in zwei Städten in
Van und in Batman privat Kurdisch Kurse geduldet. Nachdem die Behörden diese
Kurse immer wieder mit neuen Auflagen erschwerten, haben die Kurden es
geduldig geschafft die Kurse privat zu ermöglichen. Die Kurse können nur
unter der Beobachtung einer staatlich abgeordneten Person stattfinden.
Ich denke die EU Behörden sind gefragt darauf zu antworten,
ob diese Art der Erlernung der Muttersprache von 15-20 Millionen Kurdinnen
Kurden in der Türkei in Ordnung ist? Wenn man den Kurden ihre Muttersprache
nicht kollektiv anbietet, verstößt das nicht gegen die angenommene
Menschenrechts-Charta? Oder verdienen die Kurden dieses Menschenrecht nicht?
Kann man die Türkei demokratisch bezeichnen, wenn sie das kollektive Recht
den Kurden vorenthält? Wie jeder
aufrichtige demokratisch gesinnte Mensch haben die Kurden erwartet, dass die
EU die Türkei wegen ihrer Haltung gegenüber den Kurden am schärfsten
kritisiert und ihr einen Weg weist. So lange sie die Identität und die
Sprache der Kurden dem Türkischen nicht gleich stellt, ist sie weder
demokratisch, noch kann sie in die EU aufgenommen werden. Aber in der Türkei
ist Demokratie noch eine Fata Morgana.
Die Türkei wird von einer Partei regiert, die eigentlich vom Radikal-Islam
entstanden ist, aber sie macht "takiyye" und zeigt sich als mäßig. In Bezug
auf Zypern will sie sich kooperativ zeigen, aber in Bezug auf das
Geburtenrecht der Kurden hat diese fundamentalistische Partei von Erdogan
mit dem türkischen Militär gleicher Meinung. Nach dem Motto: "Es gibt in der
Türkei keine Kurden. Und wer nicht existiert, hat auch kein Problem.
Demokratie, ist kein Begriff, den jeder für sich verwenden
kann. Die Kurden verlangen nicht "getürkte" sondern eine globale Demokratie.
Was wir bitten, ist Frieden gegen unsere Muttersprache, ist Frieden gegen
unsere Identität. Wenn die Türkei keinen Frieden will, weil sie auf die
Größe ihres Militärs pocht, ist es die Aufgabe der EU und NATO die Türkei
dahin zu bewegen, den Kurden die globalen Rechte zu gewähren. Aber die EU
geht mit der Türkei mit einen rohen Ei um. Um die Türkei nicht zu verärgern,
erwähnt sie nicht einmal in ihren Berichten die Begriffe
"Kurden-Kurdisch-Kurdistan". Ganz ernst denke ich, ob die EU-Behörden
tatsächlich die Türkei wollen! Oder ist alles ein Theater?
Wenn die türkische Generalität mit einem geheimen Schreiben von den
Landräten wissen möchte, wer EU-Anhänger ist, wer den USA und Israel nahe
steht, wer separatistische Absichten hat - hier meint man die Kurden-, kann
man in diesem Land noch von Demokratie sprechen?
Welchen Weg der politische Islam in der Türkei geht, wird uns
tagtäglich gezeigt. Wenn die Massen nach dem Freitagsgebet aus den Moscheen
kommen, skandieren sie "Tot den USA!", "Tot Israel!", "Die Besatzer raus aus
dem Irak!" und verbrennen dabei die Fahnen von Israel. Die türkischen
Machthaber sind in einem Schiff, das nach Westen segelt, aber ihr Blick ist
nach Osten gerichtet. Diesen Blick auch nach Westen zu richten, ist die
Aufgabe der EU. Die EU soll der Türkei den Weg ganz deutlich zeigen, dass
sie die Geburtsrechte der Kurden den Türken gleich stellen muss, oder sie
wird nicht in die EU aufgenommen.
Nachdem die kurdische Bewegung (früher PKK-KADEK- jetzt VOLKSKONGRESS
KURDISTAN) sich von der Gewalt abgewandt hat und die demokratischen Werte
der EU akzeptiert, um auf einem zivilen und demokratischen Wege das
Kurdenproblem auszudrücken, erwarten wir von den EU-Behörden und Ländern
dieses Problem in einem friedlichen Prozess politisch zu lösen. Eine Türkei,
die das Geburtenrecht der 20 Millionen Kurden leugnet, wird niemals stabil
und schon gar nicht demokratisch.
hagalil.com
31-03-2004 |