Antisemitismus in Europa:
Klischees im kollektiven Unbewussten
Vorurteile gegen Juden sind in breiten
Bevölkerungsschichten Europas wieder salonfähig – Gewalttaten werden
verharmlost
Von Richard
Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung,
20.02.2004
Der
Antisemitismus gehört zur europäischen "Kultur" wie das Amen zur Kirche.
Zweitausend Jahre christlicher Antijudaismus sind auch 60 Jahre nach dem
Holocaust nicht aus dem Denken und Fühlen vieler Europäer zu vertreiben, wie
sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt. Zu tief sitzen die antijüdischen
Klischees im kollektiven Unbewussten. Insofern ist es nicht wirklich
verwunderlich, dass Judenhass in Ost und West sich auch heute Ausdruck
verschafft. Unterschiedlich sind inzwischen lediglich die Spielarten: In den
osteuropäischen Ländern, die demnächst Teil der EU werden, ist der "alte"
Antisemitismus in breiten Schichten der Bevölkerung noch virulent.
In Teilen des
katholischen Klerus Polens und Ungarns etwa findet sich nach wie vor jener
Hass auf die "Gottesmörder", mit dem sich in einer konservativen,
überwiegend ländlichen und religiösen Bevölkerung politisch Kapital schlagen
lässt. Hinzu kommt die "antizionistische" Propaganda des einstigen
kommunistischen Machtapparates, deren Wirkung bis heute zu spüren ist. Der
Anti-Israelismus, der vom Warschauer Pakt als ein Instrument benutzt wurde,
um den Ost-West-Konflikt zu schüren, hatte auch Folgen für die jeweils
einheimische jüdische Bevölkerung, die als "Zionisten" beschimpft und
verfolgt wurde. So wurde, in einer sozialistischen Variante, die Propaganda
von der jüdischen "Weltverschwörung" in Umlauf gehalten.
Heute, nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs, sehen sich Staaten wie Polen, Ungarn oder
Litauen mit der Verpflichtung konfrontiert, sich der eigenen Verstrickung in
den Holocaust zu stellen. So gab es litauische SS-Verbände, slowakische und
ungarische Nationalisten beteiligten sich aktiv an Deportationen. Damit die
Staaten Mittel-Osteuropas in das westliche Bündnis aufgenommen werden
konnten, war die Konfrontation mit diesem Teil ihrer Geschichte ein
notwendiger Akt der political correctness geworden, der allerdings auch Wut,
Widerstand und neuen Hass auf Juden "wegen Auschwitz" auslöst.
Antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit, aber auch Angriffe gegen
jüdische Einrichtungen und Personen gehören zum Alltag Osteuropas.
Der Westen
Europas ist diesbezüglich nur einen kleinen Schritt weiter, denn die
mittlerweile ritualisierte Holocaust-Gedenkkultur in vielen Ländern steht
losgelöst zum eigentlichen Verhalten gegenüber Juden. Neben neo-nazistischen
Tendenzen ist mittlerweile neokonservatives Gedankengut mit entsprechenden
antijüdischen Vorurteilen bis in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft
hinein wieder salonfähig geworden.
Darüber hinaus
sorgt jedoch der "linke" Antisemitismus derzeit für mehr Schlagzeilen. Der
als harmlose Israel-Kritik daherkommende "Anti-Zionismus" einer sich
aufgeklärt gebenden Linken entpuppt sich bei näherem Hinsehen häufig als
nichts anderes als ein verbrämter Antisemitismus. Dabei geht es nicht um die
Frage, ob man den jüdischen Staat an sich kritisieren und einer Politik
Ariel Scharons gegenüber mehr als skeptisch sein darf. Vielmehr spiegeln
sich in anti-zionistischen Argumentationsketten allzu häufig antisemitische
Muster wieder – wenn etwa die Existenz des "Juden", in diesem Falle Israels,
für das große Übel dieser Welt halten (65 Prozent der Deutschen glauben
einer Umfrage zufolge, dass Israel "die größte Gefahr für den Weltfrieden"
darstelle). Es geht hier um die Delegitimierung des jüdischen Staates, wie
dies in den arabischen Ländern seit jeher üblich ist.
Die
westeuropäische Linke, vor allem in Deutschland, aber natürlich auch in
Frankreich und anderswo, argumentiert dabei ganz im Stil der 68er –
"anti-imperialistisch": Israel erscheint so als verlängerter Arm einer
US-Politik, die – natürlich – von den amerikanischen Juden bestimmt wird. In
dieser Tradition wird Israel obendrein als Kolonialmacht dargestellt, wobei
unterschlagen wird, dass der jüdische Staat nur aufgrund des europäischen
Antisemitismus und des Holocaust entstanden ist.
Diese Form der
Delegitimierung, die obendrein Selbstmordanschläge gegen israelische
Zivilisten auch noch rational zu erklären und zu rechtfertigen versucht, ist
das natürliche Bindeglied zum Antisemitismus der muslimischen Welt, in der
längst nicht nur die extremistischen, fundamentalistischen Organisationen
wie Hisbollah, Hamas und Dschihad zum Krieg gegen Juden weltweit aufrufen.
Die Folgen eines solchen Bündnisses: Linke Gruppen demonstrieren in Berlin
und anderswo zusammen mit den europäischen Vertretungen von Hamas und
Hisbollah gegen Israel und dulden bereitwillig lauthals skandierte Slogans
wie "Tod den Juden!".
In Frankreich,
Belgien, England und Deutschland hat der islamistische Judenhass dazu
geführt, dass Synagogen und Schulen in Serie Ziel von Brandanschlägen werden
und Juden auf offener Straße verprügelt werden. Der häufige Verweis auf die
schwierige soziale Situation in den überwiegend muslimischen Vorstädten ist
mindestens eine Verharmlosung der Vorfälle, wenn nicht eine indirekte
Einverständniserklärung. Ein solches Bündnis eines abendländischen
Judenhasses mit dem islamistischen bewirkt etwa in Frankreich antisemitische
Gewaltakte, wie es sie nach Häufigkeit und Alltäglichkeit zuletzt im
Deutschland der dreißiger Jahre gegeben hat.
hagalil.com
20-02-2004 |