Keine Einsichten, sondern Resistenzen:
Vom Nutzen eines Tabus
Von Jan Philipp Reemtsma
Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung,
Literaturwissenschaftler, Essayist. Zuletzt erschien: "Warum Hagen
Jung-Ortlieb erschlug" Stuttgart 2003. Bei dem hier abgedruckten Text
(Kürzungen und Titel von der Redaktion) handelt es sich um die Dankesrede
zur Verleihung des Heinz-Galinski-Preises am 26. November 2003
Die spezifische Herausforderung, vor die der
Antisemitismus den Sozialwissenschaftler (sei er Soziologe, Historiker oder
Psychologe) stellt, ist seine besondere Mischung aus Konstanz und Variation.
Der Antisemitismus ist die längstdauernde Obsession Europas - er hat den
religiösen Kontext, in dem er entstanden ist, besser überdauert als dieser
selbst -, und kommt doch - auch außerhalb europastämmiger Kulturen - immer
wieder daher, als wäre er gerade neu erfunden worden.
Der christliche Vorwurf des Gottesmordes steht nicht mehr
im Vordergrund antisemitischer Propaganda und ist doch alles andere als
vergessen. Gleichzeitig gelingt es dem Antisemitismus immer wieder, sich als
Element in aktuelle politische Diskussionen einzumischen, ein, wie Sartre es
formuliert hat, "Molekül, das sich mit beliebigen anderen Molekülen
verbinden kann, ohne sich selbst zu verändern". Der Fall Hohmann war
instruktiv. Die These, die der CDU- Abgeordnete in seiner Rede zum Tag der
Deutschen Einheit vertrat, Wurzel des Bolschewismus wie des
Nationalsozialismus sei die moderne A-Religiosität gewesen, war, für sich
genommen, weder neu noch antisemitisch. […]
Nach Hohmann ist es nicht gerechtfertigt, die Deutschen
ein Tätervolk zu nennen, weil die Nazis keine Christen gewesen seien - wären
nur Christen gute Deutsche? Da wäre er denn bei Treitschke angekommen. Bei
dem natürlich auch "der Jude" einer war, unabhängig von dem, was er glaubt.
Anders als das Christ-Sein kann man bei Hohmann das Jude-Sein nicht einfach
ablegen, denn auch die nichtjüdischen Juden unter den Bolschewiki waren ja
doch, bis heute identifizierbar, Juden. Es mag einer wie der deutsche Christ
Hohmann den Juden das Attribut des Tätervolks ersparen - in letzter Minute
sozusagen: "Wir müssen genauer hinschauen …"-, die Zuschreibung, Jude zu
sein, steht nicht zur Disposition, und es ist immer der Antisemit, dessen
Attribuierungshoheit hier bekräftigt wird.
"Jüdischer Bolschewismus" lautete das Schlüsselwort, mit
dem Hitler und seine Generalität den Massenmord an Juden in den Gebieten der
Sowjetunion und damit die Einleitung des Massenvernichtungsprogramms
legitimierten. Ob Hohmann gewusst hat, dass seine den von ihm benutzten
Geschichtsbüchern abgenötigte Erkenntnis - Juden hätten im Bolschewismus
eine besondere Rolle gespielt - diese Legitimationsrhetorik neu
herausbrachte, weiß man nicht, es steht aber zu vermuten, denn der Hinweis,
auch Woodrow Wilson habe vom "jüdisch geführten" Bolschewismus gesprochen,
ist eine von den klassischen Schlaumeiereien, wie sie für trainierte
Antisemiten charakteristisch sind: Sie hättens ja selbst nicht glauben
wollen, aber ganz unverdächtige Zeugen sagten es ja auch. Es spielt aber so
wenig eine Rolle wie die Frage, ob er sich, wäre ihm das klar gewesen,
rhetorisch zurückgehalten hätte - so, wie man ihm das zunächst nahe gelegt
hatte. Der Gedanke ist ja nicht beliebig, er ist obsessiv und war schon 1917
nicht neu: es ist der von der jüdischen Verschwörung.
Dieser Gedanke aber war einmal neu. Zwar gibt es Elemente,
die weit zurückreichen. Er traf die Juden, aber weit mehr noch die Christen,
und kann immer jede Religion treffen, die sich einen gewissen
Exklusivitätsstatus zuschreibt, wenn die politischen Verhältnisse
diesbezügliche Nervositäten befördern. Ein wirklicher Topos aber wurde er
nach den Vertreibungen und Zwangsbekehrungen in Spanien nach der Vereinigung
von Kastilien und Aragon unter Isabella und Ferdinand und der Beendigung der
Reconquista mit dem Fall der Alhambra. Man fundierte den neuen christlichen
Staat radikal antimoslemisch und antijüdisch. Die Juden konnten wählen:
Konversion oder Emigration. Das Problem, das für das christliche Spanien
erwuchs, war doppelter Natur. Man hatte Juden im Land, die nach eigener,
christlicher Definition keine mehr waren, aber man traute ihnen nicht,
schließlich hatten sie in einer Zwangslage gewählt. Man begann sie
auszuspähen, zu verhören, allseitig zu überprüfen. Man erfand
Abstammungsgesetze. Man fürchtete eine jüdische - und wer Jude war,
bestimmte nunmehr der antijüdische Konsens - Unterwanderung des spanischen
christlichen Staates und, ausgehend von den vertriebenen Juden, eine
Verschwörung gegen das europäische Christentum insgesamt: In Spanien
interpretierte man die Spaltung der christlichen Kirche nach Luthers
deutschen Erfolgen als Resultat jüdischer Umtriebe. Von da an standen hinter
den Erschütterungen und Bedrohungen europäischer Normalität stets die Juden:
die in Wallstreet oder die in Moskau.
Die Idee der jüdischen Verschwörung ist also nicht Ursache
des Antisemitismus, sondern Folge antijüdischer Politik. Sie ist das, was
man erwartet, weil man Angst hat, mit dem, was man anrichtet, vielleicht
doch nicht einfach so durchzukommen. Für Treitschke war die jüdische
Einwanderung aus Polen im 19. Jahrhundert darum etwas, vor dem er meinte
warnen zu müssen, weil diese Juden die Nachkommen der Juden seien, die
während des Mittelalters von den Kreuzfahrerheeren dezimiert und aus dem
Rheinland vertrieben worden seien. Viktor Klemperer notiert, dass der
jüdische Friedhof ein sicherer Ort für konspirative Gespräche sei: die
Gestapo traue sich da nicht hin.
Lang dauernde Verfolgungsgeschichten produzieren ihre
eigenen Rechtfertigungen. Aus der Sorge, es könnte sich irgendwann einmal
rächen, was man getan hat, entsteht die Furcht vor dem, der auf Rache sinnt
- das Shylock-Schema. Am Ende stabilisieren sich lang dauernde
Verfolgungsgeschichten selbst, indem sie ihre eigene Legitimation werden:
Irgendwas muss an den Juden doch sein, dass wir sie so andauernd verfolgen.
Von dort öffnet sich das historische Feld. Jetzt ist jedes Beispiel, dass
irgendwo irgendein Jude irgendetwas getan hat oder an etwas beteiligt war,
das man nicht schätzt, ein unwiderleglicher Beleg: Da kann man es wieder
einmal sehen. Ich kenne das aus der eigenen Familie. Meine Mutter erzählte
mir einmal, ich hätte als Kind gefragt, was Hitler denn gegen die Juden
gehabt hätte. Sie hätte mir nicht zu antworten gewusst. Das nun war nicht
die Pointe der Geschichte, sondern nur ihre Einleitung. Sie hätte das
nämlich ihrer New Yorker jüdischen Freundin erzählt, und die hätte erwidert,
darin bestehe ihre einzige Genugtuung: zu wissen, dass deutsche Eltern
solche Fragen gestellt bekämen. "Und die will nun meine Freundin sein!", war
das Fazit.
Aber zurück zu Hohmann. Sein Aktualitätsbezug lag ja nicht
in seiner Interpretation der Oktoberrevolution, sondern in der Verwendung
des Wortes "Tätervolk", das man, wenn-und-nur-wenn-versteht-sich, nicht nur
auf die Deutschen, sondern auch auf die Juden, aber besser wohl auf beide
nicht, und so weiter - darin lag Hohmanns Pointe, er war in seinen Affekten
und Reflexen auf der Höhe der Zeit. Darin besteht die Stärke des
Antisemiten: Seine paranoide Nervosität zeigt ihm, wo es einen anderen
sticht, dem er dann erklären kann, was das wieder mit den Juden zu tun hat.
Nun hat die Sache mit dem "Tätervolk" allerdings eine Menge "mit den Juden
zu tun". Nur das Wort "Tätervolk" ist, so viel ich sehe, eine eigene
Kreation, die dazu dient, endlich wieder von den Juden als einem Volk
sprechen zu können. So viel zu Volk. Aber die Rede von "den Tätern" in einer
sehr raumgreifenden und sehr unklaren Bedeutung des Wortes ist natürlich
ubiquitär, sei es in der Fügung "Kinder der Täter", sei es "im Lande der
Täter".
Dass hiermit etwas wie ein Wiederaufleben der
Kollektivschuldthese gegeben sei, mutmaßen manche, die vergessen, dass es
diese These, jedenfalls in der Form, in der sie sie zurückweisen, nie
ernsthaft gegeben hat. […] Tatsächlich besteht die Kritik an der wohlfeilen,
weil wenig bedeutenden Rede vom Land und den Kindern der Täter zu Recht. […]
Die Abwehr des nicht erhobenen Kollektivschuldvorwurfs deckte von Anfang an
die Leerstelle einer wirklichen - d. h. folgenreichen - Debatte um Schuld
und Grade der Schuld, die nie stattfand. Vielleicht ist es unrealistisch,
anzunehmen, dass sie hätte stattfinden können. Aber das tut nichts zur
Sache. Jedenfalls ist die Leerstelle folgenreich. Sie beschert hilflose
Redeweisen wie die genannten, die das meist aufrichtige, aber dennoch
unklare Gefühl, irgendetwas wieder einrenken zu müssen, transportieren. Vom
Schlage dieses Gefühls ist nach meinem Urteil das gesamte Unternehmen des
Berliner Holocaust-Mahnmals. Sein Problem war von Anfang an, dass es darum
ging, einer Anforderung genügen zu wollen, die man selbst nicht klar genug
hat formulieren können.( )Darum hielt sich die Debatte um die Form des
Mahnmals auch bei der unsinnigen Frage auf, was es denn vermitteln könne,
und ob es denn angemessen sei. Derlei können Mahnmale aber nicht. Sie können
nur das ausdrücken, was man mit ihnen ausdrücken will. Aber nie ging es um
die Frage, was denn die Deutschen - ja wohl: die Deutschen Ende des 20.
Jahrhunderts - mit ihm sagen wollten, immer nur darum, wie es denn
verstanden werden könnte. Und wenn einer vor allem eins will: nicht
missverstanden werden, sagt er eben nichts oder allenfalls zu wenig und dies
undeutlich. Hätte man gewusst, was man hätte sagen wollen, wäre auch allen
die Diskussion über die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Degussa
erspart geblieben. Man hätte sich vorher aufgrund der Konzeption Gedanken
machen können und mit Gründen entscheiden. So aber wird das Mahnmal selber
zu einem Abbild der deutschen nach-45er Vergangenheitskonfrontation: man
denkt, man hat soweit alles geordnet, und dann passiert wieder etwas
Unerwartetes.
Das solche Ereignisse begleitende permanente Gefühl des
Unbehagens, das man endlich lossein möchte, ist für die antisemitische
Leidenschaft eine ideale Gelegenheit, sich zu engagieren. Verhindern lässt
sich das nicht. Wohl aber ist es nötig, eine die Geschichte der
Bundesrepublik begleitende Struktur endlich zu ändern. Der Antisemitismus
ist als öffentlicher Diskurs geächtet, insgesamt erfolgreich -auch wer
Walser verteidigt, muss ihn damit verteidigen, dass er bestreitet, dass
Walsers Buch antisemitisch sei. General Günzel flog ohne Wenn und Aber, und
bei Hohmann wurde das "ohne Wenn und Aber" nachgeholt. Aber zwischen
Stammtisch einerseits und offiziellem Diskurs andererseits klafft eine
Lücke, und es ist unklar, wie diese gefüllt ist und künftig gefüllt werden
wird. Oft ist die offizielle Abwehr antisemitischer Äußerungen nichts weiter
als eine Bekräftigung eines politischen Tabus. Tabus können nützlich sein,
wenn man sonst nichts hat, aber auf lange Sicht bewirken sie keine
Einsichten, sondern nur Resistenzen. Warum man eigentlich Hohmann
ausschloss, was denn eigentlich an seinen Äußerungen nicht erträglich war -
darüber wurde der normale Nachrichtenkonsument seitens der hauptamtlich
damit befassten Politikerinnen und Politiker nicht belehrt, höchstens hier
und da seitens einiger journalistischer Kommentare.
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12-12-2003 |