Ein Widerspruch:
Richtigstellungen zu Tariq Ramadan, dem
Europäischen Sozialforum und dem Vorwurf der Islamophobie
Von Bernhard Schmid, Paris
Vor circa einer Woche stand an dieser Stelle ein
Beitrag aus der Feder von Rudolf Walter, der aus der Wochenzeitung Freitag
(vom 21. November) dokumentiert war und der m.E. Widerspruch hervorrufen
muss.
Unter der Überschrift "Hassausbrüche. Islamophobe Beiträge
zu einer heftigen Islam-Debatte in Frankreich" wurde unter anderem die Rolle
des Schweizers ägyptischer Herkunft Tariq Ramadan, der sich einigen Jahren
in Frankreich eine Rolle als islamischer Prediger erworben hat, beleuchtet.
Um diesen hat sich in den letzten Wochen in Frankreich ein, bisweilen nicht
sehr glücklich geführter, politischer Streit entwickelt.
"Beleuchtet" ist das richtige Wort, denn dem Verfasser
zufolge handelt es sich bei Tariq Ramadan geradezu um eine Lichtgestalt.
Voller Bewunderung und Faszination und ohne den Hauch einer Kritik wird über
ihn festgestellt: "Seine Wochenenden verbringt der eloquente Philosoph am
liebsten in Frankreich, wo er in Moscheen über das predigt, was ihn
umtreibt: einen aufgeklärten, mit Demokratie und Menschenrechten versöhnten
europäischen Islam."
Zuvor geht Rudolf Walter noch kurz auf Tariq Ramadans
familiäre Herkunft ein; er ist der Enkel eines der Gründer der ägyptischen
Muslimbrüder (wofür er freilich erst einmal nichts kann, weshalb man ihn
nach seinen eigenen Worten und Taten beurteilten sollte). Wohl ahnend, dass
Ramadan diese familiäre Verstrickung mit den Muslimbrüdern zum Vorwurf
gemacht wird (auch wenn man das als Fehler betrachten kann, da man sich eher
auf seine eigene Person konzentrieren sollte), meint der Verfasser dann,
geradezu zu einer Rundumverteidigung der Muslimbrüder ausholen zu müssen.
Jedenfalls muss er obwohl das zur Bewertung von Tariq Ramadans eigenem
Wirken nichts zur Sache tut unbedingt anmerken, dass diese Bewegung "bis
zum Sechstagekrieg von 1967 mit Terror und Gewalt so viel zu tun hatte wie
die Franziskaner mit Börsenspekulation". Das mag insofern zutreffen, als die
Muslimbrüder keinen bewaffneten Kampf organisierten. Freilich hätte der
Autor, wenn er schon auf diese Bewegung eingehen musste, vielleicht noch ein
paar Worte zur politischen Charakterisierung dieser Bewegung verlieren
könenn. Dabei wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass es sich um eine
politisch überaus reaktionäre Bewegung handelte, die in den 30er Jahren
parallel zu den europäischen Faschismen aufstieg und sich zeitweise an diese
anlehnte. Dazu gehörte auch zeitweise eine ausgeprägte antijüdische
Agitation. Aber Schwamm drüber kommen wir lieber zur aktuellen Diskussion
um Tariq Ramadan selbst.
Falschbehauptungen über die Ramadan-Debatte
Aufgrund der für den Artikel gewählten Überschrift lässt
der Autor klar durchblicken, dass er Ramadan für das Opfer einer
Hetzkampagne hält, die "islamophobe" Motive habe. Ferner merkt Rudolf Walter
an: "Im Namen des modischen Pariser <Antitotalitarismus> sprach eine Gruppe
von Intellektuellen ihm sogar das Recht ab, die Politik Scharons zu
kritisieren." Letztere Behauptung ist allerdings schlicht unzutreffend.
Niemand hat ein solches Ansinnen (öffentlich) gegen Tariq Ramadan erhoben,
jedenfalls niemand, der im Artikel des Freitag vorkäme. Und auch Kritik an
der Sharon-Regierung wurde im Zusammenhang mit der öffentlich vorgetragenen
Kritik an Ramadan nicht als prinzipiell illegitim bezeichnet. Mag sein, dass
es Leute gibt, die solche Kritik generell abschmettern wollen, aber diese
Ansicht wurde in der Debatte um Ramadan jedenfalls nicht öffentlich
vorgetragen.
Nun gibt es in Frankreich sicherlich Islamophobie, also
einen besonders gegen muslimische Einwanderer gerichteten Rassismus. Und es
gibt auch antitotalitäre (d.h. in ihrem Fall besonders: antikommunistische)
Intellektuelle, die sich wohl immer noch für modisch halten, obwohl sie zum
letzten Mal vor 10 Jahren in Mode waren; ein Alain Finkielkraut gehört dazu,
der in seiner Auseinandersetzung mit der "totalitären Linken" geistig
ungefähr auf dem Stand von 1979 stehen geblieben scheint. Nur, all das hat
nichts, aber auch gar nichts mit der wirklichen Kritik zu tun, die gegen
Tariq Ramadan vorgebracht wurde.
Denn nicht etwa pauschaler anti-muslimischer Rassismus,
wie Rudolf Walter zu suggerieren scheint, motivierte die Kritik. Vielmehr
machte diese sich zuerst an Äußerungen von Tariq Ramadan selbst fest, an
denen politische Kritik geübt wurde. An der prinzipiellen Berechtigung
dieser aus konkreten politischen Gründen, nicht aus generellem Hass auf
Moslems oder Araber resultierenden Kritik ändert auch nichts, dass einige
Teilnehmer an der Debatte dabei in ihrer Kritik weit über das Ziel
hinausgeschossen sind. Man kann sozialdemokratischen Politikern vorhalten,
dass sie, als die Debatte Anfang November dieses Jahres hochkochte, aus
parteipolitisch-eigennützigen Motiven zu einer trampligen Holzhammer-Kritik
gegriffen haben, die Tariq Ramadan im Endeffekt mehr Nutzen als Schaden
beschert haben dürfte. Jedenfalls hat sie ihn erst richtig bekannt gemacht.
Doch gehen wir der Reihe nach vor: Wer ist Tariq Ramadan,
woran machte sich die Kritik fest, und was ist letztendlich passiert?
Wer ist Tariq Ramadan?
Wie bereits erwähnt, ist Tariq Ramadan ein in Genf
ansässiger Schweizers ägyptischer Herkunft. Er wird mitunter mit seinem
Bruder Hani Ramadan verwechselt, einem islamistisch-fundamentalistischen
Hardliner, der im September 2002 in Le Monde die Steinigung ehebrüchiger
Frauen rechtfertigte und deswegen aus seinem Lehreramt in Genf hinaus flog.
Beide Brüder vertreten aber nicht dasselbe, und Tariq Ramadan hat des
öfteren erklärt, er habe sich "Distanz zu (s)einem Bruder eingenommen".
Tatsächlich steht Tariq Ramadan, der in Frankreich die
Vereinigung Présence musulmane anführt und zunächt im grenznahen Lyon,
später auch in den Pariser Banlieues aktiv wurde, für ein anderes Profil
(was aber auch, zumindest teilweise, strategischen Notwendigkeiten
geschuldet sein kann). Sie gehört auf jeden Fall zu den eher "soft"
auftretenden Gruppen, während es andernorts auch extremistische Kleingruppen
in den Banlieues gibt, die auch Verbindungen zum internationalen radikalen
Islamismus halten (aber zum Glück keine Massenbewegung darstellen).
Das Publikum von Tariq Ramadan ist jener Großteil der
Jugendlichen migrantischer Herkunft, die zwar den Islam als vage kulturelle
Referenz und Selbstzuschreibung - gegenüber der Mehrheitsbevölkerung -
beibehalten haben, aber keinerlei religiöse Praxis betreiben. Viele von
ihnen fühlen sich, gerade angesichts ihrer gesellschaftlichen
Benachteiligung, von der Linken, den Alternativen oder der
globalisierungskritischen Bewegung angezogen.
Diesen Teil der aus muslimischen Ländern stammenden
Einwanderungsbevölkerung zurück an den Islam zu führen, das ist das
politische Projekt von Tariq Ramadan. Von den europäischen,
nicht-migrantischen Intellektuellen und Linken will er dabei lediglich
respektiert werden - was ihn interessiert, ist die Herstellung ideologischer
Hegemonie über seine "eigene" Community, von der er freilich noch deutlich
entfernt ist. Deswegen auch mischt er seinen Diskurs häufig mit linken,
kapitalismuskritischen Versatzstücken, und benennt sein politisches Projekt
als "den Islam innerhalb der Republik".
Das Europäische Sozialforum (ESF), das Mitte November in
Paris und drei seiner Trabantenstädte stattfand, sollte deswegen auch als
Resonanzboden für diesen Diskurs dienen. Da das ESF als pluralistische
Veranstaltung all der Kräfte, die (irgendwie) für eine Veränderung der
Gesellschaft eintreten, eine sehr offene Struktur aufweist, klinkten sich
auch Tariq Ramadan und seine Vereinigung seit einem Jahr in
Vorbereitungstreffen ein. Da diese allen offen stehen, störte sich auch erst
einmal niemand daran, dass junge Moslems und Söhne sowie Töchter arabischer
Einwanderer sich präsent zeigten im Gegenteil, denn gerade in diese
benachteiligten Bevölkerungsgruppen wollte man ja mit dem Sozialforum hinein
wirken. Dabei war vielen wohl nicht immer klar, dass sie es dabei mit einer
(halbwegs) strukturierten politischen Strömung zu tun hatten.
Ein höchst fragwürdiger Text
Ab September 2003 sorgte Tariq Ramadan dann für Furore mit
einem Text, der durch seine (meist jungen) AnhängerInnen verbreitet wurde.
Dessen Formulierung war eher soft gehalten, dennoch sollte er aber eine
kommunitaristische Frontstellung schaffen. In ihm beklagt Ramadan, namhafte
französische jüdische Intellektuelle seien in ihren Stellungnahmen bezüglich
Israels und der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nicht von
universellen Prinzipien, sondern von einer kommunitaristischen
Herangehensweise in Bezug auf Israel geleitet. Dabei bildet sein Text aber
kein offenkundiges Hetzpamphlet, keinen Hassaufruf gegen die jüdische
Bevölkerung: Tariq Ramadan schreibt auch, muslimische Intellektuelle hätten
universelle Werte zu akzeptieren und "den Terrorismus, den Antisemitismus
und diktatorische Regime wie in Saudi-Arabien und in Pakistan" klar zu
verurteilen, was nicht gerade ein typisch islamistisches Statement
darstellt.
Im Gegenzug fordert Ramadan jüdische Intellektuelle auf,
sich gleichermaßen auf einen kritischen Standpunkt gegenüber Israel zu
stellen.
Dabei wirft Tariq Ramadan verschiedene Intellektuelle in
einen Topf, die ein unterschiedliches Profil aufweisen, auch wenn ihnen
einige politische Positionen gemeinsam sind. Zwar trifft der Vorwurf von
Innenminister Nicolas Sarkozy anlässlich einer kurzen Fernsehdebatte mit
Ramadan am 20. November (aus der letzterer als Verlierer hervor ging) nicht
zu, dass Ramadan die Betreffenden mit Anreden wie le juif Lévy (der Jude
Lévy) belegt habe. So plump und aggressiv ist der Text bei weitem nicht
gehalten. Dennoch nimmt Ramadan eine Einteilung vor, die von einem Denken in
festen (politisch-religiösen) Bevölkerungskategorien vorgeprägt zu sein
scheint.
Konkret nennt Ramadan vor allem:
- Alain Finkielkraut, ein früherer 68er, der seit einigen Jahren zunehmend
rechtslastig wird; Finkielkraut zog und zieht seit seinem Bruch mit der
Linken bevorzugt gegen den Antifaschismus als "kommunistische
Gut-Böse-Ideologie" zu Felde und verurteilte die Anti-Le Pen-Demonstrationen
2002 als "demagogischen Alarmismus dort, wo es keine Faschismusgefahr gibt";
- Bernard-Henri Lévy, der eher zu einer linksliberalen Jet-Set-Intelligenz
gehört; er bereist gerne Länder für kurze Zeit, um hernach im Stil des
Bescheidwissers seine profunden Weisheiten zum Besten zu geben sein
jüngstes Buch zu Pakistan wurde jüngsten von einem Pakistanspezialisten in
der New York Review of Books einem (berechtigten) Totalverriss unterzogen;
- Pierre-André Taguieff, ein ehemaliger Linker und nunmehriger Unterstützer
des republikanischen Patrioten Jean-Pierre Chevènement; er schrien Anfang
2002 "La nouvelle judéophobie" (Die neue Judenfeindschaft).
Dabei leistet Ramadan sich einen schweren Fauxpas, indem
er alle Beteiligten aufgrund einer behaupteten Tendenz zum jüdischen
Kommunitarismus kritisiert, dabei jedoch auch den Nichtjuden Taguieff
kurzerhand eingemeindet.
Insgesamt stellt Ramadans Text jedoch keinen offenen
Hetzaufruf dar, sondern ist eher im Ton einer "notwendigen Verständigung von
einer Community zur anderen" gehalten ist. Prominente französische Juden
haben seiner erhobenen Grundforderung (die Muslime sollten sich von Regimen
wie dem saudischen und vom Terrorismus distanzieren, und die jüdische
Bevölkerung solle nicht reflexartig die israelische Politik verteidigen, was
viele ihrer Mitglieder auch gar nicht tun) sogar explizit zugestimmt. Der
Hauptzweck von Ramadans Text aber war es wohl, kommunitaristische Grenzen
zwischen Bevölkerungsgruppen zu ziehen, die durch religiöse Herkunft
definiert werden und als geschlossene Blöcke erscheinen sollen. Denn Ramadan
selbst sieht sich als so etwas wie einen "organischen Intellektuellen der
moslemischen Gemeinschaft". Durch seine Initiative versuchte er vor allem
auch, sich zum legitimen Sprecher der "eigenen" Community aufzuschwingen.
Dieser Text ist wegen seiner Denkraster, der benutzten
Schemata kritikwürdig und rief alsbald Widerspruch unter den
Vorbereitungsgruppen für das Europäische Sozialforum hervor. Ein
Nazi-Pamphlet oder "faschistisches" Dokument war es jedoch nicht. Dass dies
in der Debatte mitunter unzulässig behauptet oder nahe gelegt worden ist,
hat Ramadan im Endeffekt vielleicht noch eher einen "Opferstatus"
eingetragen.
Politische Einflusskämpfe und die Kritik an Ramadan
Harsche Attacken gegen Ramadan brachte in den letzten
Wochen vor dem ESF zunächst SOS Racisme an, freilich nicht aus
uneigennützigen Gründen. SOS Racisme, die seit ihrer Gründung Mitte der 80er
Jahre eine kaum verhüllte Vorfeldorganisation der französischen
Sozialdemokratie darstellt (die ihren Funktionärsnachwuchs teilweise über
SOS Racisme rekrutiert), beansprucht ihrerseits eine Hegemenierolle als
vorgeblich legitime Vertretung der migrantischen Bevölkerung. In ihr ist SOS
Racisme freilich eher diskreditiert, da sie (wohl zu Recht) als
Auffangbecken für Karrieristen und falsche Basisorganisation verrufen ist.
Ende Oktober legten einige sozialdemokratische Politiker,
unter ihnen SOS-Mitbegründer Julien Dray, nach. Im sozialliberalen
Wochenmagazin Le Nouvel Observateur klagten sie Ramadan eines "Verbrechens
gegen die Republik" an, wobei sie sich im Ton reichlich vergriffen, wenn sie
ihn unverhüllt als "Faschisten" (eine nicht zutreffende Bezeichnung)
titulierten. Einem derart geschickten, und deswegen auch tendenziell
gefährlichen, Prediger wie Tariq Ramadan (der vor allem für die
Einwandererjugend gefährlich sein kann, die er in eine
religiös-kommunitaristische Falle locken würde) kann man so aber nicht
beikommen, vielmehr droht man ihm so die Chance zu geben, sich zum "Opfer"
zu stilisieren.
Diese Frontstellung aber hat dazu geführt, dass Ramadan
von vielen Linken, und gerade auch politisch aktiven linken Juden (wie
Pierre Khalfa von den SUD-Gewerkschaften), zunächst tendenziell verteidigt
wurde. Auch wenn zugleich bekundet wurde, dass kommunitaritische
Bestrebungen störend seien. Angesichts des Powerplays der Sozialdemokraten
haben die anderen linken Formationen (Grüne, KP, Trotzkisten) schlussendlich
das Recht Tariq Ramadans auf Teilnahme am ESF verteidigt. Von der Form her
hatten sie mit dem Argument durchaus Recht, dass ein administrativ
verkündeter Ausschluss ein denkbar schlechtes und ungeschicktes Ende
gebildet hätte. Die Frage ist hingegen, ob ihnen auch allen die Risiken, die
dennoch (um von der Sache selbst zu sprechen) mit dem Diskurs von Tariq
Ramadan verbunden sind, bewusst waren. Einige Teilnehmer widersprachen, so
der linke Bauerngewerkschafter José Bové: Er erklärte, es sei legitim, die
Teilnahme von Menschen jeglicher religiösen Herkunft zu wünschen, allerdings
müsse man dabei "gerade aus den Determismen heraus kommen".
Das Bestreben vieler Linker war auch von dem Ansinnen
geleitet, nicht die migrantische Bevölkerung und ihre Jugend ausgrenzen zu
wollen, und ein Gefühl bzw. einen Diskurs der "victimisation" (der
permanenten "Opfer"-Rolle) zu verstärken. Diese Ausgangs-Absicht war
legitim. Dabei wäre es jedoch sehr sinnvoll, wenn man dabei zwischen den
Kadern (etwa den Funktionären des Softcore-Islamismus à la Ramadan) und
ihrem Publikum unterscheiden würde. Zweiteres anzusprechen ist interessant,
während Erstere wohl kaum die selben langfristigen Absichten wie die Linke
hegen.
Die Debatte auf dem Europäischen Sozialforum
Auf dem ESF selbst wurde Ramadan zu zwei
Podiumsdiskussionen hinzu gezogen: Am 14. November ging es um
Religionskritik und "die Rolle von Religion im Widerstand gegen die
herrschende Weltordnung". Am 15. November vormittags dann stand die Debatte
zu Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie auf dem Programm. Zu Zweiterer
wurde Ramadan natürlich, nach der Debatte im Vorfeld, von allen Seiten
erwartet und bewegte sich wie auf rohen Eiern. Aufschlussreicher ist
deswegen wohl die Podiumsdiskussion vom Vortag.
Ramadan war bereits im Vorfeld zum "Star" erhoben worden
vor allem auch durch die (teilweise ungeschickte) Kampagne in linksliberalen
und den sozialdemokratischen Medien, deren Berichterstattung zufolge sich
das ESF weitgehend auf Ramadan zu reduzieren schien. Dadurch war er von
Anderen dermaßen in den Mitelpunkt gerückt worden, dass er selbst bei seinem
Auftritt am 14. November mit generöser Pose feststellen konnte: "Das
Europäische Sozialforum beschränkt sich nicht auf eine Person, hören wir auf
damit", um hinzuzufügen: "Mit den Beweggründen des Parti Socialiste, was
seine eigene Rolle und Bedeutung beim ESF betrifft, hat meine Person erstmal
nichts zu tun", was nicht ganz falsch oder jedenfalls nicht ungeschickt war.
Erwartungsgemäß zog die Debatte in einem Kinosaal in
Ivry-sur-Seine überdurchschnittlich viele junge Immigranten(kinder) an.
Damit war eine der Erwartungen erfüllt worden. Tariq Ramadan, der sich gegen
eine "Pressekampagne" gegen seine Person wandte, musste übrigens angesichts
seines Publikums einen potenziell peinlichen Versprecher korrigieren. Zuerst
hatte er verächtlich von einer "Banlieue-Presse" gesprochen, die ihn gern
falsch oder aus dem Zusammenhang gerissen zitiere. Dann, nach einer kurzen
Denkpause, setzte er nach: Natürlich habe er nichts gegen die Banlieues
(Trabantenstädte) und ihre Bewohner, er habe nur sagen wollen, dass eine
bestimmte Presse... Sollte der kurze Zwischenfall gezeigt haben, dass der
Moraltheologe jene sozialen Unterschichten in den Banlieues, unter denen
bzw. in deren Jugend er ein Publikum findet, in Wirklichkeit nur als Fußvolk
und Manövriermasse schätzt? Ramadan konnte gerade noch den verpatzten
Eindruck abwehren.
In der Sache plädierte Ramadan für einen Universalismus,
zu dem aber "jeder selbst vordringen müsse, indem er sich selbst auf den
Grund gehe und dort das Universelle fortfindet". Den Islam definiert er
dabei implizit als Bestandteil der Persönlichkeit des Einzelnen. Letzterer
könne durch das Studium der "Quellen" und in der Auseinandersetzung mit
ihnen (Ramadan lehnte eine "buchstabengetreue, dogmatische oder konservative
Auslegung" ab) zu sich selbst gelangen, als Voraussetzung für eine Teilnahme
am Universellen und am Dialog mit anderen. Dabei tritt Ramadan zwar
nuanciert auf (durch seine Ablehnung eines Wort-für-Wort-Befolgens
beispielsweise des Koran), dennoch nimmt er ein im Kern reaktionäres Axiom
an. (Axiom: Eingangsbehauptung, als richtig vorausgesetzte Aussage.) Denn
wenn der Islam irgendwie Bestandteil der jeweiligen Persönlichkeit ist, dann
kann das Individuum auch nicht aus freier Entscheidung zum
Religionskritiker, Gottlosen oder Atheisten werden. Es bleibt also, auch
wenn Ramadan die Diskussion und Kritik unter Gläubigen zulässt, im Kern ein
Determinismus bestehen.
Ferner zeigte Ramadan sich zwar als Kritiker der Situation
von Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften, führte diese jedoch nicht
auf die Religion und ihr Gebäude an Ge- und Verboten zurück. Sondern (quasi
allein) auf "die historisch gewachsenen Kulturen der Gesellschaften, die
sich auf den Islam berufen", und das mitunter missbräuchlich täten. Das ist
richtig und falsch zugleich: Einerseits stimmt es, dass "der Islam" (dessen
historische Praktiken natürlich auch vielfältig sind: mal relativ liberal
oder mit vor-islamischen Praktiken und Glaubens- oder
Aberglaubensvorstellungen durchmischt, mal rigoros) natürlich nur den
ideologischen Überbau darstellt, der über das Fundament einer bereits zuvor
bestehenden Sozialordnung darübergelegt wurde. Etwa über die Strukturen des
traditionellen, spezifischen Patriarchats der Gesellschaften im erweiterten
Mittelmeerraum, das historisch auch in katholischen Ländern am Mittelmeer
anzutreffen ist. Ferner trifft es zu, dass eine Reihe von Praktiken durch
"den Islam" gerechtfertigt werden, die aber gar nichts mit dieser Religion
zu tun haben, etwa die Mädchenbeschneidung in Ägypten und manchen
westafrikanischen Ländern. Andererseits bleibt es eben auch richtig, dass
die islamische Religion, wenn man sie einmal von allen ihr "un-eigentlichen"
Rückständen gesellschaftlicher Praktiken abgetrennt hat, dennoch eine Reihe
von Vorschriften enthält, die eine bestimmte Rolle der Frau festschreiben.
Tariq Ramadan macht es sich (vor einem größerenteils nicht-muslimischen
Publikum) viel zu einfach, wenn er alle Übel auf dem Rücken der Traditionen,
die es vom Islam selbst zu unterscheiden gelte, abzuladen versucht.
Ansonsten muss Ramadans Diskurs auf zwei unterschiedlichen
Ebenen betrachtet werden: Er unterscheidet implizit zwischen der Ebene der
"légitimité" (dessen, was von der Religion her legitim, also moralisch
korrekt ist) und jener der "légalité" (dessen, was vom Gesetz her, von der
gesellschaftlichen Regel her dem Einzelnen abverlangt oder aufgezwungen
werden kann). Etwa auf das Verbot der Homosexualität durch die Religion
angesprochen, antwortete Ramadan in Ivry-sur-Seine, er erinnere lediglich an
das religiöse Tabu, dennoch verurteile er alle Formen von Verfolgung
homosexueller Personen. So habe er den Strafprozess gegen 51 Homosexuelle in
Ägypten vor einem Jahr kritisiert.
Tatsächlich siedelt Ramadan seine Aktion vor allem auf dem
Feld der "légitimité" an: Er möchte die Überzeugung seitens der Individuen
befördern, dass dasjenige, was die Religion von ihnen fordert, richtig und
erstrebenswert sei. Umgekehrt misst er dem Feld der "légalité" eher geringe
Bedeutung bei, da er weiß und verstanden hat, dass in einer modernen (und,
in den europäischen Ländern, auf Dauer mehrheitlich nicht-muslimischen)
Gesellschaft eine strafbewehrte, durch die gesellschaftlichen Institutionen
mit Zwang durchgesetzte Regel keinerlei Aussicht auf Erfolg oder Akzeptanz
hätte. Daher wendet Ramadan sich von der letztgenannten Aktionsebene ab, was
ihm wiederum als Argument gegenüber seinen Kritikern dient: Er rede doch gar
nicht der Ausübung eines Zwangs auf die Individuen das Wort.
Das stimmt, was die "legale", gesetzliche, institutionelle
Ebene betrifft, aus oben genannten Gründen. Anders sieht es aus, wenn man
seine Absichten auf dem Feld der "légitimité" betrachte: Hier möchte Ramadan
eine möglichst weitgehende Akzeptanz für die Regeln der Religion, und eine
(möglichst starke) freiwillige Unterordnung unter diese Regeln befördern.
Dabei bezieht er sich sicherlich nicht auf die französische
Gesamt-Gesellschaft, sonden auf die muslimischen Minderheiten, auf die
Einwandererbevölkerung. In diesem Sinne kann man ihn als kommunitaristischen
Intellektuellen bezeichnen: Er will einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe
eigene Lebensregeln, die als "legitim" betrachtet werden sollen, geben. Das
ist nicht universalistisch, sondern deterministisch und Bestandteil
reaktionärer Identitätspolitik; dieser Diskurs muss aber auf subtile Art und
Weise zerlegt und kritisiert werden.
Die notwendige Kritik an dem, wofür Tariq Ramadan steht,
wurde auf dem Podium tatsächlich auch formuliert. So befanden sich drei
erklärte Ungläubige oder Atheisten auf dem Podium, die mit Ramadan
diskutierten. Der Psychologe Miguel Benassayag, argentinischer und jüdischer
Herkunft, gab sich zwar einerseits als Kritiker der etablierten Religionen
zu erkennen, machte andererseits aber auch Ausführungen über "das legitime
Bedürfnis an Spiritualität gegenüber dem utilitaristischen, sinnentleerten
Menschenbild des Neoliberalismus", die beim Verfasser dieser Zeilen
ziemliche Bauchschmerzen hervor riefen. Allerdings sprach er sich ("als
ehemaliger Hippie, der die sexuelle Revolution praktizierte") auch gegen
jede Form von Unterdrückung der Frauen oder Unterdrückung der Sexualität
aus, sich direkt an die RepräsentantInnen des Islam auf dem Podium und im
Publikum wendet.
Der französisch-brasilianische marxistische Philosoph
Michael Löwy wiederum präsentierte sich selbst als "Jude, ungläubig und
Atheist". Sein Thema war die "Befreiungstheologie" am brasilianischen
Beispiel. Löwy berichtete über seine Begegnung mit Vertretern der
Befreiungstheologie in den Knästen der brasilianischen Militärdiktatur,
deren Mut und Engagement bewunderswert gewesen sei. Jene hätten aber nicht
zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden, sondern nach der
gesellschaftlichen Rolle der verschiedenen Protagonisten. Damit hätten sie
aber auch nicht den Anspruch erhoben, die Gesellschaft nach den Regeln der
Religion zu formen, sondern an diesem konkreten Punkt eine materialistisch
begründete Position bezogen. Zum Abschluss formulierte Löwy eine Reihe von
Knackpunkten, an denen jede sich als "Befreiungsideologie" bezeichnende,
religiös begründete Ideologie zu messen sei: Ihre Haltung zur Rolle der
Frau, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Unterdrückung oder
Nichtunterdrückung des Individuums. Ramadan, der selbst mit den Vokabeln
einer islamischen Befreiungstheologie jonglierte, gab darauf eher
ausweichende Antworten ab.
Insgesamt zeigte diese Debatte, dass es zwar an Kritik an
problematischen Ideologien nicht mangelte, dass aber letztendlich in dieser
Debatte die unterschiedlichen Grundsatzpositionen eher unvermittelt
nebeneinander standen.
Zwar wurde Ramadan, zu Recht, mit Kritik an seiner
religiös-kommunitaristisch fundierten Ideologie konfrontiert. Allerdings
bleibt das Gefühl zurück, dass dabei ein wichtiger Fehler unterlaufen ist.
So widersprachen verschiedene Personen (auf dem Podium wie aus dem Publikum)
Tariq Ramadan, doch waren sie alle weder arabischer noch sonst moslemischer
Herkunft. Damit konnte Ramadan für sich in Anspruch nehmen, "der" Vertreter
dieser Minderheit, dieser Community auf dem Podium zu sein. Wie viel
interessanter wäre es gewesen, einen Redner wie Ramadan mit einer Atheistin
moslemischer Herkunft, einer algerischen Marxistin, einer ägyptischen
Feministin zu konfrontieren! Zumal solche Personen ihre Erfahrung mit dem
Diskurs von Figuren à la Tariq Ramadan haben (seine
Schritt-für-Schritt-Strategie bei der Durchsetzung religiöser Legitimität
ist an jene der Muslimbrüder angelehnt). Vielleicht lassen sich ja so in
Zukunft die "kommunitaristischen" Grenzen aufbrechen - wenn sie sich bis
dahin nicht noch weiter verhärtet haben.
Der Autor war seit dem Frühsommer an der Vorbereitung
des Europäischen Sozialforums, im Themenbereich Rechtsextremismus,
beteiligt. Er moderierte eines der ESF-Seminare zum Thema "Extreme Rechte
und Rechtspopulismus in Europa".
hagalil.com
12-12-2003 |