Frankreich:
"Neudefinition des Laizismus"
Chirac kündigt neues Gesetz zum Umgang mit
Religionsgruppen an
Von Bernhard
Schmid, Paris
Nun ist die
Katze aus dem Sack: Es wird in Frankreich in Bälde ein neues Gesetz zum
Umgang mit religiösen Symbolen in Schulen und anderen öffentlichen
Einrichtungen geben. Das Thema genoss aus Sicht der Staatsspitze offenkundig
höchste Priorität, denn Staatspräsident Jacques Chirac hielt dazu am 17.
Dezember eigens eine feierliche Ansprache vor einem ausgewählten Publikum.
Rund 400
Personen aus Regierungskreisen, aus dem Bildungswesen, aber auch Mitglieder
antirassistischer Organisationen und Gewerkschafter aus dem öffentlichen
Dienst waren dazu am Mittwoch Nachmittag in den Elysée-Palast geladen
worden.
Jetzt steht
fest, dass Schülern und Schülerinnen an öffentlichen Schulen künftig das
Tragen (Originalton Chirac) "des islamischen Schleiers, egal welchen Namen
man ihm gibt", denn bisher war die Unterscheidung zwischen voile (Schleier,
Hijab) und foulard (Kopftuch) heftig umstritten, "der Kippa oder eines
überdimensionierten Kreuzes" untersagt werden soll. Das Verbot soll der
Gesetzgeber festschreiben.
Das Thema
beherrschte am folgenden Donnerstag, aber auch bereits in den vorausgehenden
acht Tagen die französische Innenpolitik und die Berichterstattung der
Presse ; fast alle Tageszeitungen machten ihre Titelseite damit auf. Auch
die Regierung scheint es eilig zu haben, denn nur wenige Minuten nach der
Präsidentenrede kündigte Premierminister Jean-Pierre Raffarin an, die
(konservativ-liberalen) Regierungsfraktionen würden in Bälde ein Gesetz
verabschieden, das zu Beginn des nächsten Schuljahres bereits in Kraft sein
soll. Damit es Anfang September kommenden Jahres Anwendung finden kann,
müsste es spätestens bis zur Sommerpause in dritter und letzter Lesung
verabschiedet sein.
Abschlussbericht der "Stasi-Kommission"
Die meisten
Beobachter hatten im Vorfeld damit gerechnet, dass ein solches Gesetz in
Planung genommen werde. Am 11. Dezember hatte die so genannte
"Stasi-Kommission" ihren Abschlussbericht vorgelegt. Ihr Name hat nichts mit
dem ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienst zu tun, sondern rührt daher, dass
sie unter Vorsitz des früheren Chirac-Beraters und jetzigen médiateur de la
République (eine Art Ombudsmann, also eine Beschwerdeinstanz für die Bürger)
Bernard Stasi stand.
Die zwanzig
Ausschussmitglieder hatten seit Anfang Juli an Vorschlägen zu dem Thema
"Neufassung des laizistischen Staatsaufbaus in Frankreich" gearbeitet.
Konkreter Auslöser dafür, dass das Gremium durch Präsident Chirac eingesetzt
wurde, war das erneute Aufflammen der "Kopftuchdebatte" im April und Mai
dieses Jahres. Der allgemeinere Hintergrund bestand darin, dass verschiedene
Beobachter in Politik und Medien ein "Anwachsen des Kommunitarismus"
beklagten, also eine zunehmende Selbstbezogenheit verschiedener
Bevölkerungsgruppen, die zu einem Rückgang universeller Wert- und
Rechtsvorstellungen führe. Festgemacht wird das vor allem an Entwicklungen
innerhalb der Einwanderungsbevölkerung.
Ein
ausgesprochen heikles Thema also, zu dem der Ausschuss tätig werden sollte.
Denn hierbei kreuzen sich zwei unterschiedliche Themenstränge: Auf der einen
Seite steht die Frage der Rechte der Person oder des Individuums gegenüber
seiner Herkunftsgruppe und seiner Familien (denn sie wird unmittelbar durch
die Stellung von Frauen in muslimischen Gesellschaften berührt).
Andererseits aber stößt das Thema aber auch an die Frage, wie ein Land wie
Frankreich mit seinen Minderheiten umgeht. Besonders im Hinblick auf die
nordafrikanischen (und noch spezieller: algerischen) Immigranten ist das
Problem ganz besonders delikat. Findet man doch hier einen besonders
massiven und besonders tief verwurzelten, spezifischen Rassismus vor - der
nicht nur in der französischen Kolonialgeschichte wurzelt, sondern auch in
den Traumata, die in einem der Teil der französischen Gesellschaft durch
einen verlorenen Krieg "in der Nachbarschaft" hinterlassen wurden. Algerien
konnte das koloniale Joch in den Jahren zwischen 1954 und 1962 aus eigener
Kraft, aber unter einem hohen Blutzoll abschütteln. Zugleich blieb damit
eine ehemalige europäische Siedlerbevölkerung in Algerien (die
"pieds-noirs") zurück, die in ihrer Mehrheit 1962 in die "Metropole"
abwanderte knapp eine Million Menschen -, auch wenn eine Minderheit in
Algerien verblieb und sich in die neue Gesellschaft integrierte. Das "heiße
Eisen" des Umgangs gerade mit dieser Einwanderungsbevölkerung führt also in
Frankreich zu hitzigen Reaktionen, aber auch identitätspolitischen
Verkrampfungen. In der magrebinischen Einwandererschaft nehmen sie mitunter,
obgleich nur bei einer (kleinen doch lautstarken) Minderheit, die Form
islamistisch-fundamentalistischer Reaktionen an.
Die
Vorschläge, und was davon übrig blieb
Die
"Stasi-Kommission" hatte in ihrem Abschlussdokument eine Reihe von
Vorschlägen unterbreitet, unter denen vor allem zwei hervorstachen. Die
erste vorgeschlagene Maßnahme bestand aus einem doppelten Vorbot: Sowohl
religiöse Symbole, die auf als ostensible (ungefähr: plakativ) bezeichnete
Weise getragen oder zur Schau gestellt werden, als auch entsprechend
deutlich zur Schau gestellte politische Symbole sollten an öffentlichen
Schulen verboten werden.
Die erste Hälfte
des Doppelverbots bot keine Überraschung, denn die Diskussion um die
Behandlung von Kopftuchträgerinnen (sowie von Kippaträgern, die aber ohnehin
meist konfessionelle Schulen besuchen und daher von einem eventuellen Verbot
nicht berührt würden) stand ohnehin im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.
Allerdings war zwischendurch heftig umstritten, wieweit dieses Verbot nun
reichen sollte denn ab wann ist ein Symbol "plakativ"? Darüber herrscht
permanente Uneinigkeit. Chirac versuchte, durch Beispiele zu verdeutlichen,
was gemeint ist: Nicht untersagt seien etwa Halsketten mit einem kleinen
Kreuz, einem Davidstern oder einer "Hand der Fatima" (ein Symbol mit fünf
Fingern, das als islamisch gilt, tatsächlich aber eher auf die Tradition
zurückgeht, derzufolge es "den bösen Blick abwehren" soll). An Schulen
verboten dagegen wären "Zeichen, deren Tragen dazu führt, sofort als
Mitglied einer Religionsgruppe aufzufallen und erkannt zu werden". Im
Vorfeld hatten manche Politiker, etwa der konservative Parlamentspräsident
Jean-Louis Debré oder auch der sozialdemokratische Nachwuchspolitiker Malek
Boutih, die Schwierigkeiten mit der Abgrenzung dadurch zum umgehen versucht,
dass sie vorschlugen, doch gleich alle "sichtbaren" religiösen Symbole aus
öffentlichen Schulen herauszuhalten. Doch eine solche, relativ weit gehende
Regelung wollten wiederum die christlichen Kirchen nicht hinnehmen, die
fürchteten, ihre Ideen würden nunmehr weitgehend aus der Gesellschaft
verbannt. Auch in einem laizistichen Staat wie Frankreich aber behalten die
christlichen Kirchen einen gewissen Einfluss vor allem auf die
bürgerlich-konservativen Parteien. Daher blieb es bei der
Kompromissformulierung, die auf "plakative" Symbole, wie immer sie definiert
seien, abstellt.
Hingegen kam der
Vorschlag einer Untersagung "plakativer" Manifestationen einer politischen
Gesinnung überraschender. Vor allem in linken oder antifaschistischen
Gruppen Engagierte warnten bereits vor einem Gesetz in obrigkeitlichem
Geiste, das den Ideenkampf unter Jugendlichen einschränken und für
verordnete Ruhe sorgen solle. Doch Chirac hat diese zweite Hälfte des
Vorschlags anscheinend nicht berücksichtigt, jedenfalls war in seiner
Ansprache in keiner Stelle von politischen Symbolen die Rede. Möglicherweise
befürchteten Präsident oder Regierung auch eine Mobilisierung an den Schulen
gegen eine solche Maßnahme, die dann erst recht Staub aufgewirbelt hätte.
Ebenfalls keine
Berücksichtigung fand der zweite Vorschlag des aus Juristen, PhilosophInnen,
Soziologen und PolitikerInnen bestehenden Ausschusses. Demnach sollte neben
den gesetzlichen Feiertagen christlichen Ursprungs (bzw., wie im Falle des
Weihnachtsfests, vorchristlicher germanischer oder gallischer Herkunft, die
später mit einer christlichen Legitimation überdeckt wurde) nunmehr im
Kalender der staatlichen Schulen auch ein jüdischer und ein muslimischer
Feiertag anerkannt werden. Konkret sollten das islamische Fest Aïd-el-Kebir
(das auf das Opfer Abrahams zurückgeführt wird) sowie der jüdische "Tag der
Großen Vergebung", Yom Kippur, in den Ferienkalender der Schülerinnen und
Schulen aufgenommen werden. Das bedeutete nicht, dass auch die lohnabhängig
Arbeitenden in den Genuss zusätzlicher freier Tage gekommen wären. Sie
sollten allerdings künftig die Wahl haben, sich an Yom Kippur bzw. Aïd
el-Kabir statt an einem anderen Moment einen Ferientag zu nehmen, was
allerdings ohnehin in der Praxis längst gemacht wird.
Die
Vorab-Diskussion um muslimische und jüdische Feiertage
Dieser letzte
Vorstoß der Kommission, der anscheinend als eine Art "Kompensation" an die
religiösen Minderheiten (als "Ausgleich" für das Kopftuch- und Kippa-Verbot
an öffentlichen Schulen) gedacht war, rief allerdings einen Aufschrei der
Empörung hervor. "Voll im Kommunitarismus" lande man mit dieser Idee,
beklagte der christdemokratische Politiker François Bayrou. Von "versteckter
Förderung des islamischen Kommunitarismus" sprach der rechtskatholische
EU-Gegner Philippe de Villiers, während der Chef des rechtsextremen Front
National Jean-Marie Le Pen erwartungsgemäß gegen eine angebliche
Bevorzugung des Islam auf Kosten der christlichen Tradition wetterte.
Aber auch sehr
viele Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP äußerten sich
argwöhnisch über die Neuerung. Teilweise mit ähnlichen Argumenten wie den
zitierten, teilweise aber auch einfach mit dem wahlpolitischen Motiv, dass
die extreme Rechte unter Le Pen bei den Regionalparlamentswahlen in drei
Monaten neue Erfolge verzeichnen werde, wenn "das durchkommt". Ein häufig
bemühtes Argument bestand darin, die im November 03 durch die
Raffarin-Regierung beschlossene Abschaffung des Pfingstmontags als
arbeitsfreier Tag in direkten Bezug zur "nunmehr erfolgter Anerkennung
muslimischer und islamischer Feiertage" zu setzen. Ein Zusammenhang, der
freilich nur schwerlich herzustellen ist, denn die abhängig Beschäftigten
wären ja (anders als Schüler und Lehrer) in der Regel nicht direkt von den
neuen Feiertagen betroffen gewesen. Das Hauptmotiv der Regierung bei der
Streichung des Pfingstmontags war aber eine Verlängerung der Arbeitszeiten
gewesen, die angeblich nötig sei, um den Pflegebedarf für ältere Mitbürger
finanzieren zu können. Insofern kann man von der Mobilisierung eines blanken
Neideffets, ohne reale Grundlage, sprechen.
Laut jüngsten
Umfragen waren je rund die Hälfte der sozialdemokratischen und konservativen
Wähler, doch 87 Prozent der Wähler der extremen Rechten unter Jean-Marie Le
Pen gegen die Anerkennung von Aïd el-Kebir und Yom Kippour eingestellt.
In seiner Rede
äußerte Chirac sich zu dieser Frage mit den Worten: "Ich glaube nicht, dass
man dem schulischen Kalender neue Feiertage hinzu fügen sollte, denn er
zählt ihrer bereits viele." Dagegen solle die individuelle Abwesenheit von
SchülerInnen an den fraglichen Tagen seitens der Lehrkräfte als entschuldigt
gelten, und es sollten keine Prüfungen auf diese Tage gelegt werden. Das
wird in der Praxis von Schulen und Universitäten ohnehin seit längerem so
gehandhabt, in der Regel jedenfalls. Was ausbleibt, ist das Symbol, das in
der Veränderung des Feiertags-Rhythmus gelegen hätte. Nun kann man
sicherlich darüber diskutieren, ob sie nicht tatsächlich zum Anwachsen der
Bedeutung von Religionsgruppe geführt hätte (was man bezweifeln mag) und ob
das wünschenswert, hinnehmbar usw. ist oder nicht. Doch der konkrete Verlauf
der Debatte hinterlässt wohl doch bei Vielen einen bitteren Beigeschmack.
Denn nunmehr
wird zwar das Verbot "plakativer religiöser Symbole" im Namen des
Universalismus, der dem französischen Laizismus zugrunde liegt (das
gesellschaftliche Leben des Individuums soll nicht durch seine Herkunft
vorab determiniert werden) gerechtfertigt. Dieser Universalismus wurzelt in
den Ideen der Revolution von 1789, aber bezüglich der konkreten Frage der
Trennung von Schule und Religion vor allem im Gesetz von 1905, das zu den
Folgewirkungen der Dreyfus-Affäre um die Jahrhundertwende gehört.
Gleichzeitig aber wird eifrig unter den Tisch gekehrt, dass auch seitens der
Mehrheitsgesellschaft eine Form von kulturellem Partikularismus vorherrscht,
der sich in der impliziten Anerkennung allein von Festtagen christlicher
Herkunft (die allerdings für viele Bürger ihre frühere Bedeutung verloren
haben mögen) ausdrückt. Vor 200 Jahren hatten das die französischen
Revolutionäre bereits problematisiert. Deswegen hatte ein Gesetz vom 24.
November 1793 sogar den Wochenrhythmus verändern wollen: Statt des Sonntags,
der auf die Erfordernisse der christlichen Sonntagsmesse zurückgeht, sollte
ein anderer wöchentlicher Ruhetag eingeführt werden: der décadi. Dieser
Versuch blieb allerdings in nachhaltig schlechter Erinnerung. Denn für die
aufstrebende Bourgeoisie hatte die neue Einteilung in décades (statt Wochen)
nebenbei einen unerhörten praktischen Vorteil: Statt alle sieben Tage sollte
der arbeitenden Bevölkerung nur noch alle zehn Tage ein Ruhetag gegönnt
werden.
Reaktionen
und Einschätzungen
Bezüglich des
neuen Gesetzes warnen einige Beobachter davor, dass die
Einwanderungsbevölkerung muslimischer Herkunft sich in besonderer Weise
stigmatisiert fühlen könne. Tatsächlich dürfte dieser Bevölkerungsteil mit
Abstand am stärksten betroffen sein. Denn jüdische Jugendliche, die eine
Kippa tragen, besuchen ohnehin meist konfessionelle Privatschulen, deren
Netz vor allem im Einzugsraum Paris mittlerweile ziemlich dicht gewoben ist.
(Allerdings zeigen manche von ihnen sich aufgrund der Übergriffe und
Gewalttaten, die sich seit dem Jahr 2000 häufen, auf der Straße eher mit
Baseballkappe als mit einer Kippa.)
Und für die
Sprösslinge aus streng katholischen Familien gibt es die nach wie vor
katholisch geprägten Privatschulen, die nach dem Gesetz von 1905 erhalten
blieben. Sie sind in den letzten Jahrzehnten zugleich zu einem Art
Elitezweig des gesamten Schulsystems mutiert, während sie sogleich immer
noch öffentliche Subventionen erhalten ; 1984 wollte eine
sozialdemokratische Regierung diese Subventionen einschränken, sah sich
jedoch mit einer massenhaften Mobilisierung der konservativen Rechten und
der extremen Rechten konfrontiert. Ungefähr 20 Prozent eines Jahrgangs
besuchen diese, als privilegiert geltenden Privatschulen. In ihnen wird auch
künftig das (neue) Gesetz zum Laizismus nicht gelten. Deswegen schicken auch
manche, besser begüterten, muslimische Eltern ihre Zöglinge auf solche
Schulen, wo in der Regel das Ablegen des Kopftuchs nicht gefordert wird.
Seitens der Linken gilt vor allem die Aufrechterhaltung der Privilegien
dieses Schulzweigs als Widerspruch dazu, dass gleichzeitig neue Bestimmungen
zur Verstärkung des laizistischen Staatscharakters erlassen werden.
Manche
KritikerInnen des neuen Gesetzes hatten im Vorfeld moniert, es werde ohnehin
nur dazu führen, dass nunmehr auch die muslimischen Familien verstärkt die
Privatschulen in Anspruch nehmen oder auch eigene, islamische Privatschulen
gründen würden. Dagegen spricht allerdings ein materieller Grund: Aufgrund
ihrer Position in der Gesellschaft haben die meisten Einwandererfamilien aus
muslimischen Ländern schlicht und einfach nicht die finanziellen Mittel
dazu. Denn die Einschreibung in Privatschulen kostet Geld. Insofern zieht
das (Gegen-)Argument, das kommende Gesetz führe als Nebeneffekt zur
Vermehrung islamischer Schulen, an de Punkt nicht so richtig.
Als
Hauptargument der KritikerInnen bleibt eine befürchtete Stigmatisierung der
Einwandererbevölkerung, auch wenn sie vorwiegend subjektiv so erlebt werde.
Auch sehr "unislamische" Frauenorganisationen von Migrantinnen, wie die in
Saint-Denis (bei Paris) ansässige feministische Gruppe "Voix d¹elles
rebelles" (ungefähr: Stimme von Ihnen weiblich , den Rebellinnen),
befürchten daher eher negative Rückwirkungen. Sie fordern stattdessen, die
öffentliche Hand solle sich viel lieber um eine bessere Vorbeugung etwa
gegen Zwangsverheiratungen von Migrantentöchtern und ähnliche praktische
Schutzmaßnahmen gegen familiäre Unterdrückung kümmern. Tatsächlich hat sie
hier einen Widerspruch benannt: Denn bisher war es das Schulsystem (in
Frankreich besteht die Ganztagesschule mit relativ umfassender Betreuung, so
weisen die meisten Schulen Krankenschwestern und soziale BetreuerInnen auf),
das es erlaubte, Anzeichen solchen familiären Drucks und eventueller Gewalt
frühzeitig zu erkennen. Doch bereits bisher hat die Sparpolitik im
öffentlichen Schulwesen, mit dem begonnen Abbau der BetreuerInnen-Stellen,
zum Rückgang dieser Schutzfunktion geführt. Würde morgen eine wachsende Zahl
von Migrantentöchtern aus dem Schulsystem ausgeschlossen, so wird
befürchtet, die Handhabe gegenüber solchen Praktiken und Risiken werde immer
geringer.
Derzeit ist die
Zahl der wirklich im Konflikt ausgetragenen "Fälle" von Schülerinnen aus
Einwandererfamilien relativ gering. Das französische Innenministerium gibt
an, dass im vorigen Jahr 1.250 Fälle signalisiert worden seien, wobei in 20
Fällen der Ausschluss diskutiert, und in 4 Fällen beschlossen worden sei.
Seitens der Mitarbeiter des Bildungssystems wird allerdings geschätzt, dass
die Zahl der Kopftuch tragenden Immigrantentöchter in öffentlichen Schulen
real fünf- bis sechsfach so hoch sei.
Dabei bestehen
allerdings sehr unterschiedliche Konstellationen. Einerseits gibt es Fälle
von offenkundigem familiärem Zwang oder Druck auf die Mädchen. Andererseits
gibt es seit einigen Jahren zunehmend Fälle, in denen die Entscheidung zu
solchen Praktiken offenkundig von den Schülerinnen selbst ausging, wobei
oftmals die Eltern sogar (um die schulische Zukunft ihrer Kinder bedacht)
gegen das Kopftuchtragen eintreten. In solchen Fällen handelt es sich um den
Ausdruck einer, wie ideologisch verzerrt auch immer vorgetragenen, Revolte
gegen die (etwa als rassistisch erlebten) Mehrheitsgesellschaft; oder in
mitunter auch um ideologisch (islamistisch) motivierten Aktivismus, der
freilich nur eine Minderheit betrifft. Oder aber diese Form von Kleidung
wird als Schutz gegen die, in den Trabantenstädten und sozialen Krisenzonen
tatsächlich sehr verbreitete, (männliche) Gewalt erlebt. Anscheinend
überwiegt in Immigrantenfamilien marokkanischer und türkischer Herkunft eher
die erstgenannte Konstellation, da sie oftmals aus einem eher ländlichen und
traditionalistischen Milieu kommen. Dagegen ist die zweitere Konstellation
eher in Familien algerischer oder tunesischer Herkunft anzutreffen. Bei den
AlgerierInnen ist eine anti-islamistische Haltung verbreite, die sich aus
der jüngeren Geschichte erklärt; und Tunesien wurde zu einem frühen
Zeitpunkt durch das Bourgiba-Regime von oben modernisiert, was zwar auf
autoritärem Wege geschah, aber schon bald zu einer recht fortschrittlichen
Stellung der tunesischen Frau geführt hat. So hatten die tunesischen Frauen
mehr als 15 Jahren vor den französischen das gesetzliche Recht auf
Schwangerschaftsabbruch.
Einen
Widerspruch sehen viele KritikerInnen darin, dass zwar das Kopftuch als
Symbol einer spezifischen Unterdrückung der Frauen dargestellt werde (das
ist der Grund, warum viele, aber nicht alle französische Feministinnen ein
solches Gesetz jedenfalls in seinem Grundsatz begrüßen), dass aber gerade
die jungen Frauen potenziell von den Ausschlussmaßnahmen betroffen seien.
Die Väter, aber auch die schulpflichtigen Brüder trifft es ja nicht. Aber
auch wegen anderer Symbole, die einen religiösen oder politisch-religiösen
(d.h. islamistischen) Sinngehalt haben können, freilich nicht müssen, wie
etwa des Barttragens seien keine Schulausschlüsse geplant. Bisher jedenfalls
war noch nie von einem Ausschluss aus solchen Motiven die Rede. Damit sei
die Wirkung eines solchen Gesetzes "doppelt diskriminierend", monieren
manche auf der Linken: Gegen Angehörige der muslimischen Minderheit, und
einseitig gegen die Frauen gerichtet. Die Kommunisten und die Mehrheit der
französischen Trotzkisten kritisiert deswegen das Gesetzesvorhaben (eine
trotzkistische Partei, Lutte Ouvrière / LO, tritt dagegen grundsätzlich für
ein Kopfuchverbot ein).
Ferner stellt
sich mitunter die Frage der Praktikabilität: Wann könnte etwa gegen die
soziale Praxis des Ramadan-Machens vorgegangen werden, an der problematisch
ist, dass sie seit wenigen Jahren immer jüngere Kinder trifft ? (Theoretisch
wird der Fastenmonat erst ab 13 oder 14 praktiziert, doch aufgrund des
Anwachsens kommunitaristischer Verhaltensregeln wetteifern mancherorts schon
Kinder im Grundschulalter um die Einhaltung des Ramadan.) Wenn man von einer
Schülerin verlangen kann, dass sie ihr Kopftuch ablegt, kann man sie auch
dazu zwingen, zu essen? Oder was soll man tun, wenn religiöse Symbole auf
die Hand tätowiert wurden, wie ein Kommentator von Libération ein wenig
spitzfindig fragt? Jedenfalls bleibt der Eindruck einer nur selektiv
wirksamen Verbotsregel.
Dagegen sehen
andere sehen eine Errungenschaft darin, dass nunmehr das Individuum stärkere
Emanzipationsmöglichkeit gegenüber seiner Herkunft und Familie erhalte, da
nicht mehr zu befürchten sei, dass Mädchen und junge Frauen zum Tragen einer
Kopfbedeckung gezwungen werden könnten. Das gilt für eine Mehrheit der
französischen feministischen Gruppen (etwa die Revue ProChoix, die für das
Recht auf Abtreibung und Verhütung kämpft; die Gegenposition wird von der
ebenfalls feministischen Gruppe "Femmes publiques" bezogen).
Auch die
Mehrheit der Lehrergewerkschaften und bildungspolitischen Organisationen
bezieht ähnliche Positionen, wobei viele Lehrergewerkschaften in ihrem
Inneren von heftigen Diskussionen zum Thema erschüttert werden. Die
französische Sozialdemokratie teilt ebenfalls mehrheitlich diese Position,
wobei eine Minderheit (etwa der frühere Kulturminister Jack Lang) gern das
Symbol aller sichtbaren religiösen Symbole an öffentlichen Schulen gesehen
hätte. Auf konservativer Seite dagegen, wo man natürlich mehrheitlich das
Gesetzesvorhaben unterstützt, überwiegt wohl eher der Wunsch nach
Konformität (der Minderheiten) über jenen nach Beförderung von Emanzipation.
Für manche ein
wenig überraschend kommt, dass die extreme Rechte hörbar gegen das kommende
Gesetz eintritt. Dabei bleibt diese sich allerdings nur selbst treu. Denn
sie erklärt, ein solches Verbot sei von geringem Interesse, weil es bedeute,
nur an einem Symptom herumzudoktern. Statt der kleinen Trennung (in Form des
schulischen Ausschlusses) will die extreme Rechte nämlich gewissermaßen
lieber die große Trennung vorbereiten. Anders ausgedrückt: Die "ethnische
Reinheit" der Nation. Zugleich beharrt sie so auf ihrer Oppositionsrolle,
als vermeintliche "Alternative zum abgewirtschafteten System".
hagalil.com
18-12-2003 |