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La France
Special - - Zur Lage in Frankreich 2003

In Schulhöfen gedemütigt, aus Sozialwohnungen vertrieben, vor Synagogen bedroht:
Frankreichs Juden unter Druck

Mobbing und serienweise Gewalttaten gegen Juden durch franko-arabische Jugendliche, anti-israelische und anti-amerikanische Polarisierung der französischen Öffentlichkeit. Die Erschütterung der größten jüdischen Bevölkerung Europas, der Juden Frankreichs, wird zum Sinnbild der zunehmenden weltweiten Isolierung der jüdischen Gemeinden

VON DANNY LEDER, PARIS

Die Affäre um den, von der EU unter Verschluss gehaltenen Bericht über die anti-jüdischen Vorfälle in Europa sorgte in den letzten Wochen für Schlagzeilen. Die in Wien etablierte EU-Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hatte eine Studie beim Zentrum für Antisemitismusforschung der TU-Berlin erst in Auftrag gegeben, anschließend aber nicht publizieren wollen. Die dem EUMC nicht genehmen Studienergebnisse wurden inzwischen trotzdem bekannt: für den rasanten Anstieg anti-jüdischer Straftaten in der EU seien hauptsächlich Jugendliche aus arabischen Einwandererfamilien verantwortlich. Linke, pro-palästinensische Solidaritätsaktivisten würden stellenweise ihre Kritik an Israel mit antisemitischen Stereotypen vermengen, was wiederum anti-jüdische Ausschreitungen begünstige. Im Brennpunkt dieser Entwicklung steht Frankreich, wo die meisten Moslems (über fünf Millionen) und die meisten Juden Europas (über 600.000), vielfach Seite an Seite, leben.
Der folgende Essai schildert das Alltags-Mobbing und die serienweisen Übergriffe gegen Juden in Frankreich. Dabei werden die unterschiedlichen Interpretationsmuster und Fragestellungen erörtert ("Randerscheinungen" im Rahmen einer allgemeinen sozialen Verwahrlosung oder "antisemitische Welle"?). In diesem Kontext werden die jüdische Soziabilität im Großraum Paris beschrieben und die am deutlichsten spürbaren, jüdischen, religiösen beziehungsweise kulturell-politischen Strömungen (Maghrebinischer Traditionalismus und rechtszionistischer Neo-Hassidismus in volkstümlichen Vierteln, linker Fundamentalismus bei Einzelpersönlichkeiten, Verunsicherung einer breiten Mittelschicht orthodoxieloser und eher linksliberaler Juden).
Der Essai behandelt weiters die Entfremdung zwischen einem beträchtlichen Teil der jüdischen Bildungsschichten und ihrem traditionell linken Umfeld, vornehmlich seit dem Irak-Krieg, und die Spannungen mit der in Frankreich besonders einflussreichen globalisierungskritischen Bewegung. Darüber hinaus wird die generelle Entwicklung der jüdischen Schicksalsgemeinschaft im Schatten der anti-amerikanischen sowie anti-israelischen Polarisierung großer Teile der Weltöffentlichkeit angeschnitten.
Der Autor ist in einer jüdischen Familie in Wien aufgewachsen und lebt seit 21 Jahren als Publizist und Korrespondent der österreichischen Tageszeitung "Kurier" in Paris.

Die Tafeln sind kaum zu übersehen. Eine golden gefärbte Schrift auf einer tiefschwarzen, mit kratzsicherer Glasur überzogenen Steinplatte, fest in die Mauern geschlagen. Sie hängen inzwischen an fast allen Pariser Volksschulen, gleich neben der Eingangstür, in angemessener Höhe, um Schändungen zu erschweren. Der stets gleiche Text lautet: "Zur Erinnerung an die Schüler dieser Schule, die zwischen 1942 und 1944 deportiert wurden, weil als Juden geboren. Unschuldige Opfer der Nazi-Barbarei und der Vichy-Regierung. Sie wurden in den Todeslagern vernichtet."

Die Anbringung dieser Tafeln wurde von einer Vereinigung betrieben, der systematisch das Schicksal der deportierten Kinder recherchierte. In etlichen Pariser Bezirken, vor allem im volkstümlichen Nordosten der Stadt, wo vor dem Krieg die meisten ostjüdischen Einwandererfamilien gewohnt hatten, brachten jedes Mal vor der Tafel-Einweihung Komiteemitglieder Plakate mit Fotos der vor Ort deportierter Kinder, ihrer Namen und Alter, auf den Fassaden der Häuser an, in denen sie gewohnt hatten. Die feierliche Enthüllung wurde dann in Anwesenheit der derzeitigen Schüler, Lehrer, Eltern und Kommunalpolitiker begangen. Nach einer einwöchigen Vorbereitung an der Schule trugen Kinder aller religiösen Herkunft Gedichte und Lieder vor.

Diese Tafeln, die mir bei meinen Streifzügen durch Paris oft eine kleine Genugtuung waren, lösen jetzt bei mir auch schmerzliche Gedanken aus, die nicht mit dem Schicksal der deportierten Kinder direkt zusammenhängen.

In der Gegenwart wurde für den elfjährigen Julien eine solche Tafel-Enthüllung nachträglich zum Verhängnis. Der Sohn einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters hatte sich vor zwei Jahren in seiner Volksschule im 20.Pariser Bezirk bei der Einweihung einer derartigen Gedenktafel zum Verlesen der Namen der deportierten Kinder gemeldet. Als er in die erste Klasse der Unterstufen-Gesamtschule überwechselte, galt er deswegen moslemischen Mitschülern als "der Jude". Sie quälten ihn unentwegt in der Schule und im nahe gelegenen Park. Schließlich empfahl die Schuldirektorin den Eltern im vergangenen Januar, also mitten im Schuljahr, Julien aus der Schule zu nehmen. Sie könne ihn nicht vor seinen Peinigern schützen, gestand die Direktorin. Julien war unter anderem als "Ariel Charogne" (letzteres bedeutet in Französisch "Aas") beschimpft worden, seine Familie habe "palästinensische Kinder ermordet", wurde ihm vorgeworfen.

Der als Anführer des Mobbing von den Lehrern identifizierte Bub wurde zwar eine Woche von der Schule suspendiert, eine nachhaltigere Bestrafung, so die Schuldirektorin, hätte aber anschließend Julien nur noch heftigeren Anfeindungen ausgesetzt. Das sah auch die Mutter ein: auch sie wünschte keine sonderliche Sanktion gegen ein elfjähriges Kind, auch sie verstand, dass es Erwachsenen nur schwer möglich ist, in ein derartiges Gruppenklima hineinzuwirken. Dazu kam der brisante soziale Hintergrund: die nämliche Schule ist ein Sammelbecken der Kinder, die aus sozial abgeschlagenen und oft besonders zerrütteten Familien des Pariser Stadtrands stammen. Man habe da schlicht keinen Zugriff auf die Vorstellungswelt dieser Kinder, gestand die Schuldirektorin. Auch dass sich Julien als aufmerksamer und erfolgreicher Schüler im Unterricht erwies, sorgte bei etlichen Mitschülern für Hass.

Die Mutter hatte anfänglich die Hetze, der ihr Sohn ausgesetzt war, grob unterschätzt und Julien eingeschärft, man dürfe sich durch antijüdische Bemerkungen nicht einschüchtern lassen. Die Frau hatte in Kenntnis der sozialen Lage ihr Kind in diese Schule in ihrem Wohnbezirk geschickt. Zwar müssen laut französischem Recht die Eltern ihre Kinder, sofern sie sie nicht in eine Privatschule geben, in die nächstgelegene öffentliche Schule schicken. Etliche, auch links eingestellte Mittelschichtler, vermeiden aber für ihre Kinder durch diverse Tricks Schulen, die einen schlechten Ruf haben. Nicht so diese Mutter, eine engagierte Anhängerin der Gleichheitsgrundsätze der Französischen Republik und der von der Linken postulierten sozialen Durchmischung.

Insofern ist der Fall Julien auch typisch für viele andere Vorfälle, bei denen Juden in Frankreich in den letzten Jahren zu Schaden kamen, und die sich genauso an der Schnittstelle unterschiedlicher Probleme ereigneten. Die meisten antijüdischen Angriffe erscheinen eingebettet in ein allgemeines Klima der Aggressivität und Jugendgewalt, das die verarmten Vorstädte und Randviertel chronisch heimsucht. Wo Attacken auf Polizisten, Busfahrer, Briefträger, Ärzte und Angehörige der Feuerwehr die Regel sind, wo Kirchen beschmiert und ältere Passanten angespuckt werden, wo zum Teil tödliche Bandenkriege zwischen Siedlungen ausgefochten werden, fällt der Schritt zur Drangsalierung der jüdischen Nachbarn nicht schwer. Alle bisher identifizierten antijüdischen Gewalttäter – ausnahmslos junge Moslems – waren bereits zuvor in Vandalismus und Kleinkriminalität abgeglitten. Sie verkehrten regelmäßig weder in religiösen noch in politischen Vereinen.

Das erschwert auf den ersten Blick die Einordnung dieser Vorfälle: Julien wurde zweifellos als "Jude" gemobbt, aber an anderen Schulen in sozialen Krisenzonen werden auch sonst Kinder, die sich als lernbegierig und aufmerksam erweisen, von Klassenkameraden ausgegrenzt. In diesem Kontext weigerten sich auch jüdische Persönlichkeiten solche Vorfälle als Ausdruck einer "antisemitischen Welle" zu betrachten. Mobbing und Gewalttaten gegen Juden, so erklärten sie, seien nur ein Phänomen unter vielen der sozialen Krise und Verwahrlosung der Jugend in den städtischen Randzonen. Eine solche Interpretation hat etwas tröstliches an sich. Besonders linke jüdische Persönlichkeiten, die gegenüber den traditionellen jüdischen Organisationen kritische Distanz wahren, klammerten sich an diese Auslegung.

In Schulhöfen gedemütigt, aus Sozialwohnungen vertrieben, vor Synagogen bedroht

Die Mehrheit der Juden in Frankreich empfindet diese Interpretation aber als eine Art Selbsttäuschung und Verharmlosung. Nicht dass sie allesamt den sozialen Krisenrahmen leugnen würden. Aber seit Ende 2001 (parallel zur zweiten palästinensischen "Intifada") wurden in Frankreich über 500 antijüdische Angriffe registriert, wobei etliche Vorfälle, mangels Meldung, in dieser Statistik gar nicht aufscheinen. Es gab serienweise Anpöbelungen aber auch Steinwürfe und organisierte Angriffe von Schlägergruppen auf Gläubige vor Synagogen und auf Kinder vor jüdischen Schulen. Es gab Brandlegungen in jüdischen Bethäusern und Schulen, in koscheren Restaurants und Metzgerläden. Es gab Überfälle auf Wohnungen in Sozialbauten und auf Häuser in Reihenaussiedlungen, die jüdische Familien zum Auszug zwangen.

In einer Schule in der Trabantenstadt Sarcelles wurde ein junger Jude, der sich gegen eine Beleidigung zur Wehr gesetzt hatte, von hunderten Mitschülern durch den Schulhof gejagt, bevor ihn die anwesenden Aufpasser zu Hilfe kamen. Ein Mädchen aus einer jüdischen Schule, die an einer staatlichen Pariser Schule eine Prüfung ablegte, wurde von örtlichen Schülerinnen in der Pause gezwungen niederzuknien. "Wir sind hier nicht in Gaza," höhnte die Gruppe. Das Mädchen wurde schwer misshandelt, weil sie sich geweigert hatte, zu erklären, sie sei eine "dreckige Jüdin". Bei der "Weltausstellung der Fachberufe", in Lyon im vergangenen Februar, provozierten junge Franko-Araber eine Schlägerei mit den anwesenden Lehrlingen einer jüdischen Berufsschule. Diese wurden schließlich vom Sicherheitspersonal in die Toiletten und dann zum Ausgang eskortiert, um die Zusammenstöße zu beenden.

Wen wundert es da, wenn den meisten Juden der Verweis auf die sozialen Hintergründe inzwischen als eine unerträgliche Entschuldigung und ein Freibrief für weitere Attacken erscheint. "Wieso müssen wir Juden als Sündenbock für soziale Missstände und Diskriminierungen in der französischen Gesellschaft herhalten, an denen wir nicht mehr oder weniger als andere beteiligt sind?" lautet die logische Frage.

Die eher unlogische Antwort heißt: Israel und eine – relativ bedeutende – jüdische Präsenz. Neben der Strahlkraft, den der israelisch-palästinensische Konflikt auf die franko-arabische Bevölkerung ausübt, ist es die Parallelpräsenz von über fünf Millionen Moslems und 600.000 Juden, beide vorwiegend aus dem Maghreb, dem arabischen Nordwesten Afrikas stammend, und in Frankreich vielfach in den selben Wohngegenden angesiedelt, die die Vorraussetzungen für die aktuelle Situation geschaffen haben.

Zu Beginn des Schuljahrs 2003/2004 mussten die jüdischen Privatschulen in Frankreich aus Kapazitätsmangel viele neue Schüler aber auch Lehrer, die um einen Posten angesucht hatten, abweisen. Als Folge der antijüdischen Hetze versuchten Eltern, die bisher eine nicht-religiöse Erziehung vorgezogen hatten, ihre Kinder in jüdischen Schulen unterzubringen. Aber auch da besteht eine Parallele zur allgemeinen Entwicklung: zu Beginn dieses Schuljahres gab es auch einen Rekordtransfer von Kindern aller anderen Konfessionen von öffentlichen zu privaten Schulen, um der Atmosphäre der Gewalt und der mangelnden Betreuung, die an einigen staatlichen Schulen in sozialen Krisenzonen herrscht, zu entkommen.

Ähnliches gilt übrigens immer mehr für überforderte Lehrer, die ebenso in ruhigeren öffentlichen Schulen oder Privatanstalten Zuflucht suchten. Bei Lehrern mit jüdischem Background, die sich erstmals um eine Anstellung in jüdischen Privatschulen bewarben, waren freilich oft spezifische Erlebnisse ausschlaggebend: nämlich die gezielte Anmache durch mehrheitlich moslemische Klassen, die beispielsweise den im Lehrplan vorgesehenen Unterricht über die Dreyfus-Affäre oder den Holocaust verunmöglichten. Wobei auch von den Kollegen im Lehrkörper manchmal, statt Unterstützung, Teilnahmslosigkeit oder gar nur ätzende Bemerkungen über Israel kamen.

Diese Entwicklung ging auch an mir persönlich nicht spurlos vorüber. Aus einer Wiener jüdischen Familie stammend und in Österreich aufgewachsen, war ich vor 21 Jahren nach Paris gezogen. Das war zwar keine bewusste Flucht vor dem belastenden Klima in Österreich, nachträglich aber entdeckte ich in Frankreich einen doch viel erträglicheren atmosphärischen Rahmen für einen Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Zu meinem Wohlbefinden in Paris trug auch die verhältnismäßig massive und auffällige jüdische Präsenz bei. Ich habe keine religiöse Bindung an das Judentum und kann daher mit den rituellen Glaubensgeboten, wie etwa der "Kaschrut", nichts anfangen. Auch finde ich die bewusste Beschränkung der familiären und persönlichen Beziehungen auf Menschen, die sich ebenfalls als Juden definieren, so unsinnig, dass ich auf die Erklärung, warum ich das so sehe, nicht eine einzige geschriebene Zeile verschwenden möchte. Aber ungeachtet dieser Einstellung ist es nun mal so, dass auf mir, wie wohl den meisten Menschen aus jüdischen Familien, entnormalisierende Klischees lasten. Für die Linderung dieses Gefühl des Ausgestoßenseins und dem verinnerlichten Vorwurf der Absonderlichkeit war Paris ein guter Ort. Urlauber, die die Stadt nicht kennen, fragen meistens nach "dem" jüdischen Viertel, und meinen die Gegend um die Rue des Rosiers, wo schon im Mittelalter eine jüdische Siedlung bestand, und wo 1982 ein blutiger Anschlag der Abu-Nidal-Gruppe für weltweite Schlagzeilen sorgte. Tatsächlich aber gibt es, über die ganze Stadt und den Vorortesgürtel verstreute jüdische Viertel. Straßenzüge mit ihren Restaurants und Imbiss-Stuben, Lebensmittelläden und Zeitungskiosken, Textilgeschäften und solchen für Haushaltsgeräte, Möbelhäusern und Installateuren, in denen überwiegend Juden arbeiten und verkehren. Es gibt auch Sozialbau-Siedlungen, in denen gut die Hälfte der Einwohner Juden sind, wo einem Halbwüchsige mit Kippa immer wieder über den Weg laufen. Ich brauchte da nicht wirklich dazuzugehören oder mit diesen Menschen zu verkehren, das bloße Wissen um deren Existenz war für mich wertvoll.

Neo-Hassidismus und islamischer Rigorismus

Dass es diese jüdische Soziabilität noch nach dem Holocaust in Paris gibt, und dass heute Frankreich den größten jüdischen Bevölkerungsanteil Europas aufweist, ist auf die bereits erwähnte Masseneinwanderung der Juden aus den französischen Ex-Kolonien im Maghreb und da vor allem aus Algerien und Tunesien in den fünfziger und sechziger Jahren zurückzuführen. Freilich erlebte ich in den letzten zwei Jahrzehnten, also seit ich in Paris bin, auch wieder den steten Rückgang dieser jüdisch-maghrebinischen Präsenz. Die Juden aus Nordafrika haben, im Zeitraffer, die selben Etappen wie die jüdischen Familien aus Osteuropa durchschritten: urbane Streuung und schrittweise Auflösung in einem breiten Mittelstandsmilieu. Die kompakte und bedeutende, kollektive jüdische Präsenz in den Unterschichtsvierteln machte noch anlässlich des Sechstagekriegs, 1967, Angriffe auf Juden zu einer riskanten Angelegenheit, weil sie in Schlägereien zwischen halbwegs gleich starken Gruppen mündeten. Nunmehr aber blieben in den "jüdischen Gassen" hauptsächlich alte und/oder isolierte Personen übrig. Von denen gibt es zwar viele: Nach Erhebungen jüdischer Wohltätigkeitsvereine dürfte der Prozentsatz der in der Armutsfalle gefangenen Juden überdurchschnittlich hoch sein. Aber diese jüdisch-plebejische Restbevölkerung lebt heute, weitgehend atomisiert, in einer mit sozialen Spannungen unvergleichlich aufgeladeneren Umgebung. Außerdem ist die jüdische Einwanderung aus Nordafrika, wo es nur mehr wenige tausend Juden gibt, weitgehend versiegt. Dem steht in den pauperisierten urbanen Zonen der weitere Zustrom von Ersteinwanderern aus moslemischen Ländern gegenüber.

Auch gerät die ursprüngliche, jüdisch-maghrebinische Gruppenidentität, die selbstverständliche Traditionen mit lebenslustiger Integration in die französische Rahmengesellschaft verband, immer mehr ins Hintertreffen. Unter den jüngeren, bereits in Frankreich aufgewachsenen jüdischen Gläubigen wird sie vielfach durch den hochritualisierten Neo-Hassidismus der Chabad-Lubawitsch-Gemeinden abgelöst. Diese aus den USA ausstrahlende sektenartige Bewegung hat auch in Frankreich einen zentralen Platz unter den Organisationen und im Erscheinungsbild der Juden errungen. Zweifellos hat der missionarische Eifer der Lubawitscher und ihre buchstabengetreue Religionsinterpretation einer großen Zahl von verunsicherten jungen Juden einen stützenden, kollektiven Rahmen gezimmert.

Einen solchen festgefügten Rahmen vermochte der augenzwinkernde maghrebinische Traditionalismus ihrer Eltern nicht zu bieten. Dieser konnte sich auch schwerlich, abgeschnitten von seinem maghrebinischen Ursprung und unter den veränderten Lebensverhältnissen der neuen Generationen in Frankreich, fortsetzten.

Es ist die Suche nach sinnstiftenden Solidargemeinschaften, die die Lubawitscher so attraktiv für eine bedeutende Zahl junger Juden machen. Dabei war die ursprünglich osteuropäische Provenienz der Lubawitscher kein Hindernis bei der Rekrutierung der mehrheitlich aus maghrebinischen Familien stammenden Jugendlichen. Die europäische Prägung der Lubawitscher bot eine attraktive exotische Note. Sie bürgte auch scheinbar für eine profunde Religionsinterpretation, um sich gegenüber der Generation der Eltern und ihrem vorgeblich verwässerten Judentum zu profilieren.

All dies gilt im übrigen auch für islamische Vereine, die in den urbanen Krisenzonen Frankreichs, unter ethno-religiösem Banner ihren Einfluss ausdehnen. Bei den jungen Moslems ist eine den Lubawitschern durchaus vergleichbare Bewegung tonangebend: die UOIF ("Union der islamischen Organisationen Frankreichs") ist beseelt von der religiös-kulturellen Dogmatik der ägyptischen "Moslembrüder" und anderer, nahöstlicher Rigoristen, Diese prätentiöse Dogmatik halten die jungen Kader der UOIF ebenfalls dem überlieferten, volkstümlichen Islam der maghrebinischen Eltern entgegen.

Indirekt bekräftigten sich diese Gruppierungen gegenseitig: je stärker der Einfluss einer rigorosen islamischen Bewegung im Alltag einer Siedlung spürbar ist, desto stärker wird auch der Wunsch vieler junger Juden sein, in einem gleichwertigen Verein Halt zu finden, und umgekehrt.

Parallel zu ihrer rituellen Orthodoxie verkörpern die Lubawitscher den rechtsreligiösen Flügel des Zionismus: sie betrachten die seit 1967 von Israel besetzten Gebiete durchgehend als jüdisches Territorium und unterstützen in Israel die dermaßen orientierten politischen Kräfte. Diese Ausrichtung entspricht auch durchaus der Stimmung, die in den jüdischen Basisgemeinden, allen voran in den Vorstädten, herrscht. Seit ihrer weitgehend erzwungenen Auswanderung aus Nordafrika haben viele Juden einen heftigen, anti-arabischen Israel-Nationalismus entwickelt, der sich in den letzten Jahren, parallel zur Verschärfung des israelisch-palästinensischen Kriegs und den antijüdischen Attacken in Frankreich, nur noch radikalisiert hat.

Auf der, schematisch ausgedrückt, entgegengesetzten Seite trifft man auf etliche Persönlichkeiten aus jüdischen Familien, vorwiegend in linken bis linksradikalen Organisationen, die sich in keinster Weise durch das organisierte Judentum vertreten fühlen, und uneingeschränkt für die palästinensische Nationalbewegung Partei ergreifen.

Die Einsamkeit der Orthodoxielosen Juden

Übrig bleibt eine statistisch schwer zu fassende, aber vermutlich große Gruppe an jüdischen Franzosen, die nichts mit der bizarren Orthodoxie und dem Rechtszionismus der Lubawitscher anfangen können, die sich aber auch nicht vom Schicksal des traditionellen Judentums und Israels schlicht abzukoppeln vermögen.

Diese Personengruppe, überwiegend Angehörige der gebildeten Mittelschichten und oft engagierte Träger der linksliberalen bis ökosozialen Politkultur, haben ihr geläufiges Koordinatensystem und ihre bisherigen politischen Anhaltspunkte vorerst verloren. Ihre Isolierung kulminierte in der Phase vor dem Irak-Krieg. Selten noch hatten sie sich in derartig scharfer Weise abgeschnitten gefühlt vom Stimmungstrend ihres natürlichen (nicht-jüdischen-) Milieus, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da dieses weitgehend konform mit der überwältigenden Mehrheit der restlichen Bevölkerung zu gehen schien.

Der quasi weltweite Aufstand gegen die US-Kriegspläne trieb auch in Frankreich Menschenmassen auf die Straße. Der überwiegende Teil der Medien, die Staatsführung und die Opposition befanden sich auf der selben Wellenlänge. In den westeuropäischen Kernstaaten der EU nahmen die Proteste die Form einer spontanen Jugenderhebung an - ein Schlüsselerlebnis für den aktivierbareren Teil der jüngeren Generationen, vergleichbar mit den Demonstrationen der sechziger und siebziger Jahre gegen den Vietnam-Krieg. Nur dass diesmal weitaus weniger junge Juden mit gutem Gewissen dabei waren.

Tatsächlich wurden etliche der Anti-Irakkriegs-Demos nicht nur von Parolen gegen die israelische Besatzungspolitik mitgeprägt, sondern auch von der Brandmarkung Israels als Vollzugsgehilfe oder gar Auftraggeber der US-Regierung. Vereinzelt wurden David-Stern und Hakenkreuz auf Transparenten gleichgesetzt. Bei einer der Grossdemos in Paris droschen dutzende franko-arabische Jugendliche auf eine kleine Gruppe von Zuschauern im Spalier ein, die sie als Juden identifiziert hatten (einzelne trugen eine Kippa). Dabei handelte es sich um Mitglieder der linkszionistischen Schomer-Hatzair-Jugendbewegung. Sie verfolgten die jungen Juden bis vor das nahe Lokal des Schomer, das sie – vergeblich – zu stürmen versuchten.

Aber auch ohne diese Vorkommnisse wäre es vielen Juden schwergefallen mitzudemonstrieren. Zumindest bis zur Invasion Kuwaits hatte Saddam Hussein ja systematische Anstrengungen unternommen, um Massenvernichtungswaffen zu entwickeln und diese auf Israel zu richten. Während des ersten Kriegs zwischen dem Irak und dem Westen schlugen auch tatsächlich irakische Raketen in Israels urbanen Zentren ein, richteten allerdings wegen ihrer technischen Unausgereiftheit nur begrenzten Schaden an. Insofern konnten all jene, die um Israels Sicherheit besorgt sind, die Ausschaltung Saddams grundsätzlich kaum ablehnen, auch wenn einige größte Zweifel über die taktische Opportunität der US-britischen Intervention im Irak und ihrer bereits absehbaren Folgen äußerten – wie etwa der Schriftsteller und Essayist Bernard-Henri Lévy. Dieser warnte, der Atomstaat Pakistan, auf allen Ebenen von islamischen Fundamentalisten unterwandert, sei viel gefährlicher als das Saddam-Regime. (Lévy kam zu diesem Schluss nach seinen Recherchen für ein Buch über die Ermordung des US-Journalisten Daniel Pearl in Pakistan: "Wer hat Daniel Pearl ermordet?", Econ-Verlag / München 2003).

Dermaßen sensibilisiert, konnten oder wollten Juden auch nicht so leicht über die zahllosen Verbrechen hinwegsehen, die das Saddam-Regime etwa an Schiiten und Kurden begangen hatte, und die einen beträchtlichen Teil der Anti-Kriegsbewegung ziemlich kalt ließen. Die arabische und moslemische Öffentlichkeit (mit Ausnahme der Schiiten und einiger Vertreter der irakischen Linken), die in die europäische Bewegung via den jungen Euro-Arabern hineinwirkte, tendierte sogar dazu, das Saddam-Regime trotz und teilweise wegen seiner Grausamkeit und vermeintlichen Schlagkraft als unerlässliches Gegengewicht zu Israels militärischer Vormachtstellung zu preisen.

Der Riss zwischen vielen Juden aus der gebildeten Mittelschichte und ihrem, vereinfacht ausgedrückt, linksalternativen Kulturtop, hatte sich schon lange zuvor in der politischen Wende einiger der prominentesten jüdischen Intellektuellen der 68er Generation angekündigt. Selbstverständlich gibt es unvergleichlich mehr Intellektuelle, die keinen familiären Bezug zum Judentum haben, und die sich in der selben Periode ebenfalls von der Linken abgewendet hatten. Und umgekehrt, wie bereits erwähnt, blieben etliche Juden der 68er und post-68er Generationen ungebrochene Bannerträger der französischen Linken in ihren vielfältigsten Versionen.

Aber für jene jüdischen Intellektuelle, die am deutlichsten ihre Verbundenheit mit der jüdischen Schicksalsgemeinschaft äußerten (und mit ihnen konvergierende nicht-jüdische Persönlichkeiten), waren die Problemkreise Israel- und Juden-Hass zweifellos entscheidende - wenn auch nicht die einzigen - Faktoren, die sie auf Distanz zu linken, globalisierungskritischen Strömungen trieben. Faktoren, die auch dazu führten, dass sich in Frankreich eine kleine aber prominente Phalanx von Intellektuellen bildete (darunter der Philosoph André Glucksmann und der Historiker Alexandre Adler), die sich, der Unisono-Stimmung zum Trotz, gegen die Antikriegsbewegung und für die US-britische Intervention im Irak einsetzten.

Als Meilenstein in diesem Trennungsprozess wirkte schon zuvor, im September 2001, die Anti-Rassismus-Konferenz der UNO in der südafrikanischen Stadt Durban, in der Israel, grundsätzlich, also als jüdischer Staat auf der Anklagebank saß. Die Repräsentanten israelischer und allgemein jüdischer Organisationen wurden am Rande der Konferenz auch physisch angefeindet. Das war das Werk arabischer Bewegungen. Aber auch eine Vielzahl sonstiger Non-Gouvernemental-Organisationen heizten die Stimmung gegen die anwesenden Israelis an. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut, für seine krassen Formulierungen bekannt, sprach vom "Durbaner Pogrom", so wie er anschließend, nach der Welle antijüdischer Attacken in Frankreich, für das Jahr 2002 den Begriff vom "Kristalljahr" prägte. (Seine These über den "neuen Antisemitismus", der sich im Lager der "islamo-progressiven" und antirassistischen Bewegungen entwickeln würde, präzisierte Finkielkraut in einem soeben erschienenen Buch: "Au nom de l‘autre – Réflexions sur l‘antisémitisme qui vient". Gallimard / Paris 2003).

Während also Finkielkraut, einer der prägnantesten Denker unter den jüdischen Ex-68ern, die allertragischsten historischen Parallelen bemühte, um vor den heraufdämmernden Gefahren für die Juden zu warnen, äußerte sich das Idol der linksalternativen Szene Frankreichs, der Bauerngewerkschaftler José Bové, mit unglaublicher Nonchalance zu diesem Thema. Bové hatte sich im März 2002, im Rahmen eines "Internationalen Zivilschutzkomitees für das palästinensische Volk", nach Ramallah begeben, um Jassir Arafat während der Belagerung seines Amtssitz durch israelische Truppen symbolisch beizustehen. Von den israelischen Behörden ausgewiesen, kam es bei seiner Rückkehr auf dem Pariser Flughafen zu Schlägereien zwischen seinen Anhängern und rechtszionistischen Aktivisten. Bové erhob aber nicht nur Vorwürfe gegen die israelische Besatzungspolitik, sondern erging sich auch in Mutmaßungen, wonach hinter den antijüdischen Gewalttaten in Frankreich der israelische Geheimdienst Mossad stecken würde.

Später entschuldigte sich Bové, wenn auch in etwas unpräziser Manier, für diese Äußerungen. Das änderte freilich wenig an der Signalwirkung dieser Erklärung für die jüdische Öffentlichkeit Frankreichs. Bové, ein Intellektueller der 68er Generation, der sich als Ziegenzüchter auf dem Hochplateau des Larzac in Südfrankreich niedergelassen hatte und zum Wortführer der globalisierungskritischen Ökobauern wurde, ist vermutlich kein Judenhasser. Aber der zurzeit wohl populärste Hoffnungsträger der rührigeren Teile der französischen Linken hatte, aus Anteilnahme für die Palästinenser, die Angriffe auf Frankreichs Juden heruntergespielt.

Globaler Hofjudenstatus?

Das gilt bekanntlich nicht nur für Frankreichs globalisierungskritische linke Szene. Unter den Solidaritätsaktivisten, die sich im Frühjahr 2002 um den belagerten Arafat scharten, befanden sich neben Bové ja auch andere Galionsfiguren der Bewegung für eine alternative Globalisierung, die in den letzten Jahren zu einem der imposantesten internationalen Politphänomene heranwuchs.

Ähnlich wie einst das südafrikanische Apartheid-Regime oder das Serbien von Milosevic, weckt die Erwähnung Israels inzwischen in der internationalen Parasprache Reflexartige Negativ-Assoziationen. Wie sehr der jüdische Staat und seine Symbole als Synonym für Unrecht bereits wirken, lässt sich aus einem marginalen aber nicht minder bezeichnenden Vorfall ablesen: bei der diesjährigen Gedenkfeier in Armenien für den türkischen Völkermord an den Armeniern von 1915 verbrannten die Kundgebungsteilnehmer eine türkische Fahne, auf die ein Davidstern gemalt war – die Gleichsetzung mit Israel also als geeigneteste Brandmarkung der Türkei, die offiziell noch immer den Genozid leugnet, dem eineinhalb Millionen Armenier zum Opfer fielen, und der als Vorbote des Holocausts gilt.

Gemessen an der jüdischen Leidensgeschichte, die die Juden aus Europa aber auch aus dem Orient nach Palästina und in die Staatsgründung trieb, ist obige Charakterisierung Israels schweres Unrecht. Im Vergleich mit den ungemein grausameren Vorgangsweisen anderer Regime und Bewegungen, etwa im arabischen Raum, erscheint die universelle Diabolisierung des Zionismus heuchlerisch. In Voraussicht der mehr als wahrscheinlichen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Israels bei auch nur einem einzigen, entscheidenden arabischen Militärsieg, wirken die europäischen Solidaritätsbezeugungen für die palästinensische Nationalbewegung wie ein Luxus, den sich Juden kaum leisten können.

Aber umgekehrt ist in dem Streben nach einem jüdischen Staat auf palästinensischen Boden von Anfang an ein spätkolonialer Verdrängungskonflikt angelegt gewesen, der die jüdische und palästinensische Bevölkerung zwangsläufig in einen Dauerkrieg um die Souveränität über dieses Territorium treiben musste. Die Kamikaze-Attentate der letzten Jahre gegen die israelische Bevölkerung mögen einen Teil der pro-palästinensischen Sympathieträger in Europa stutzig gemacht haben, sie konnten aber nicht die Reportagen über die laufende Demütigung, Entrechtung und Abschnürung der palästinensischen Bevölkerung von den Bildschirmen verdrängen. Diese aktuellen Vorgänge erschüttern die internationale Öffentlichkeit naturgemäß mehr als die, im Laufe der Zeit, immer abstrakter und komplexer wirkenden historischen Verweise auf die Ursachen der jüdischen Staatsgründung.

Wir, namentlich die auf dem Tatort Europa verbliebenen Juden, leben mit der familiengeschichtlichen Gewissheit des Holocausts als ständigen Begleiter. Für die meisten anderen Menschen, auch jene, denen es um keine historisch-identitäre Schuld-Abwehr, wie so häufig in Deutschland oder Österreich, geht, verblasst der humanpolitische Zusammenhang zwischen Holocaust und Israel. Er tritt angesichts der aktuellen Leiden der Palästinenser in den Hintergrund. So wie ja auch die aktuelle israelische Besatzungspolitik einen Teil der intellektuellen Eliten Israels moralisch zermürbt.

So könnten die Aufbauleistungen und militärischen Siege Israels, aus denen wir Juden, ob eingestandenermaßen oder nicht, unser Post-Holocaust-Selbstwertgefühl zehren, und die uns ein Zipfelchen Symbolik der so genannten Normalität erhaschen ließen, uns jetzt erst recht in ein globalisiertes Abseits drängen. Die Polarisierung eines überwiegenden Teils der Weltöffentlichkeit gegen die US-Intervention im Irak hat diese Optik noch verschärft. Ansatzweise entsteht der Eindruck, Israel würde, wenn auch in abgewandelter Form, die tragische Partitur des Hofjuden beziehungsweise Hofjudentums übernehmen. Also jener jüdischen Persönlichkeiten und Gruppen, die im engsten Kreis der Mächtigen toleriert wurden und, in Ermangelung sonstiger Absicherung, den Schutz der jüdischen Gemeinden gewährleisteten.

Dieser Sonderstatus im Schatten der Obrigkeit, auf den nicht nur Juden sondern etliche andere Minderheiten in den Großreichen des Okzidents und Orients logischerweise angewiesen waren, kehrte sich immer wieder in sein Gegenteil: mal wurden die Juden von den Mächtigen betrogen und geopfert, mal durch den Sturz der Mächtigen ins Verderben mitgezogen, meistens von der Mehrheitsbevölkerung für den vorgeblichen Einfluss auf die Mächtigen beneidet und für die ihnen zugewiesenen Funktionen im Sozialgefüge gehasst. Die Gründung Israels sollte in der Vision der zionistischen Bewegung gerade diese gefährliche Abhängigkeit der Juden von den jeweiligen Machtträgern beseitigen und durch eine eigene, jüdische Souveränität ersetzten. Das Paradox könnte darin liegen, dass Israel, heute mehr denn je, wegen seiner unabdingbaren strategischen Allianz mit den USA, in einer ähnlichen Weise auf die aktuelle Weltmacht angewiesen ist, wie es einst die jüdischen Gemeinden auf Fürst, König oder Sultan waren. Das bedeutet, dass die Ablehnung, die den USA zurzeit entgegenschlägt, und die internationalen Misserfolge, die die USA namentlich im Orient verbuchen, auch und teilweise sogar stärker Israel belasten könnten als Amerika selber.

Natürlich wird dieser hier nur oberflächlich dargestellte historische Status weder der Komplexität und Vielfalt der jüdischen Diasporageschichte noch der Eigendynamik und Potentialitäten Israels gerecht. Aber die Tendenz zur Reproduktion eines derartigen Musters ist der jüdischen Staatsgründung inmitten des arabischen Orients immanent: man denke nur an die von Anfang an, notgedrungen, angestrebte Allianz zwischen der zionistischen Bewegung und den europäischen Kolonialmächten. Diese Problematik ist umso schmerzhafter, weil sie zurzeit wieder von Scharlatanen und Judenhassern ausgeschlachtet wird, um so unsinnige wie perfide Verschwörungstheorien zum Themenkreis Juden und USA mit Erfolg in Umlauf zu bringen.

Zu diesem Zerrbild Israels als eine Art kollektiver Hofjude von Amerikas Gnaden fügt sich auch die aktuelle Außenerscheinung der jüdischen Gemeinden, die in immer krasserer Weise auf Schutz von oben angewiesen sind. Das führt auch zu dem eingangs erwähnten kleinen Julien zurück, obwohl er und seine Mutter ja eine derartige Stellung unbedingt vermeiden wollten. Von seinen Klassenkameraden verstoßen, vermied er die längste Zeit, tapfer, den Appell an die schützende Hand der Schulobrigkeit, die ihm ja dann auch keine Hilfe erteilen konnte. Spätestens seit dieser Affäre hat mich in Paris ein Gefühl des Ausgestoßenseins wieder eingeholt. Statt der Zufriedenheit, die mir zuvor die Elemente jüdischer Soziabilität im Straßenbild, als kleiner aber akzeptierter Teil dieser Stadt, vermittelten, beschleichen mich jetzt Sorgen: wie riskant ist der Fortbestand dieser jüdischen Treffpunkte? Können etwa die Kartenspielrunden jüdischer Pensionisten in den Bistros des Migrantenviertels Belleville unversehens von Jugendlichen aus der Umgebung überfallen werden, so wie kürzlich Kinder einer jüdischen Schule, in der selben Gegend, von einem regelrechten Rollkommando blutig geschlagen wurden? Und was droht den Autokonvois, die am Sonntag durch Paris hupend fahren, und bei denen es sich fast immer um jüdische Hochzeitsgesellschaften handelt (die anderen heiraten meistens am Samstag)? Wie soll und kann ich mich verhalten, wenn ich Zeuge eines Angriffs werde?

Wenn ich, was häufig vorkommt, Erstklässler aller Hautfarben bei Schulausflügen in der Pariser U-Bahn, einander die Hand haltend, tratschend und lärmend sehe, ein Erlebnis das mich früher in Hochstimmung versetzte, frage ich mich jetzt: können sich unter ihnen noch problemlos Kinder aus jüdischen Familien befinden? Werden uns die neuen Generationen Frankreichs und Europas, deren ethnische Abstammung noch nie so vielfältig war, wieder verstoßen? Wird ausgerechnet jetzt, da sich gegenseitige Akzeptanz und Verständnis bei beträchtlichen Teilen der Heranwachsenden erhöhen, dieser breite Konsens ausgerechnet um uns einen Bogen machen?

Von Djerba bis Paris:
Das maghrebinische Judentum im Visier
Das maghrebinische Judentum stellt den zweiten, großen Strang der jüdischen Weltbevölkerung der Neuzeit dar - ein oft kulturell unterschätzter Quasi-Zwilling des osteuropäischen Judentums...

La France
Special - - Zur Lage in Frankreich 2003

hagalil.com 08-12-2003

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