Special - -
Zur Lage in Frankreich 2003In
Schulhöfen gedemütigt, aus Sozialwohnungen vertrieben, vor Synagogen
bedroht:
Frankreichs Juden unter Druck
Mobbing und serienweise Gewalttaten gegen
Juden durch franko-arabische Jugendliche, anti-israelische und
anti-amerikanische Polarisierung der französischen Öffentlichkeit. Die
Erschütterung der größten jüdischen Bevölkerung Europas, der Juden
Frankreichs, wird zum Sinnbild der zunehmenden weltweiten Isolierung der
jüdischen Gemeinden
VON DANNY LEDER, PARIS
Die Affäre um den, von der EU unter Verschluss
gehaltenen Bericht über die anti-jüdischen Vorfälle in Europa sorgte in den
letzten Wochen für Schlagzeilen. Die in Wien etablierte EU-Stelle zur
Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hatte eine Studie
beim Zentrum für Antisemitismusforschung der TU-Berlin erst in Auftrag
gegeben, anschließend aber nicht publizieren wollen. Die dem EUMC nicht
genehmen Studienergebnisse wurden inzwischen trotzdem bekannt: für den
rasanten Anstieg anti-jüdischer Straftaten in der EU seien hauptsächlich
Jugendliche aus arabischen Einwandererfamilien verantwortlich. Linke,
pro-palästinensische Solidaritätsaktivisten würden stellenweise ihre Kritik
an Israel mit antisemitischen Stereotypen vermengen, was wiederum
anti-jüdische Ausschreitungen begünstige. Im Brennpunkt dieser Entwicklung
steht Frankreich, wo die meisten Moslems (über fünf Millionen) und die
meisten Juden Europas (über 600.000), vielfach Seite an Seite, leben.
Der folgende Essai schildert das Alltags-Mobbing und die serienweisen
Übergriffe gegen Juden in Frankreich. Dabei werden die unterschiedlichen
Interpretationsmuster und Fragestellungen erörtert ("Randerscheinungen" im
Rahmen einer allgemeinen sozialen Verwahrlosung oder "antisemitische
Welle"?). In diesem Kontext werden die jüdische Soziabilität im Großraum
Paris beschrieben und die am deutlichsten spürbaren, jüdischen, religiösen
beziehungsweise kulturell-politischen Strömungen (Maghrebinischer
Traditionalismus und rechtszionistischer Neo-Hassidismus in volkstümlichen
Vierteln, linker Fundamentalismus bei Einzelpersönlichkeiten, Verunsicherung
einer breiten Mittelschicht orthodoxieloser und eher linksliberaler Juden).
Der Essai behandelt weiters die Entfremdung zwischen einem beträchtlichen
Teil der jüdischen Bildungsschichten und ihrem traditionell linken Umfeld,
vornehmlich seit dem Irak-Krieg, und die Spannungen mit der in Frankreich
besonders einflussreichen globalisierungskritischen Bewegung. Darüber hinaus
wird die generelle Entwicklung der jüdischen Schicksalsgemeinschaft im
Schatten der anti-amerikanischen sowie anti-israelischen Polarisierung
großer Teile der Weltöffentlichkeit angeschnitten.
Der Autor ist in einer jüdischen Familie in Wien aufgewachsen und lebt seit
21 Jahren als Publizist und Korrespondent der österreichischen Tageszeitung
"Kurier" in Paris.
Die Tafeln sind kaum zu übersehen. Eine golden gefärbte
Schrift auf einer tiefschwarzen, mit kratzsicherer Glasur überzogenen
Steinplatte, fest in die Mauern geschlagen. Sie hängen inzwischen an fast
allen Pariser Volksschulen, gleich neben der Eingangstür, in angemessener
Höhe, um Schändungen zu erschweren. Der stets gleiche Text lautet: "Zur
Erinnerung an die Schüler dieser Schule, die zwischen 1942 und 1944
deportiert wurden, weil als Juden geboren. Unschuldige Opfer der
Nazi-Barbarei und der Vichy-Regierung. Sie wurden in den Todeslagern
vernichtet."
Die Anbringung dieser Tafeln wurde von einer Vereinigung
betrieben, der systematisch das Schicksal der deportierten Kinder
recherchierte. In etlichen Pariser Bezirken, vor allem im volkstümlichen
Nordosten der Stadt, wo vor dem Krieg die meisten ostjüdischen
Einwandererfamilien gewohnt hatten, brachten jedes Mal vor der
Tafel-Einweihung Komiteemitglieder Plakate mit Fotos der vor Ort
deportierter Kinder, ihrer Namen und Alter, auf den Fassaden der Häuser an,
in denen sie gewohnt hatten. Die feierliche Enthüllung wurde dann in
Anwesenheit der derzeitigen Schüler, Lehrer, Eltern und Kommunalpolitiker
begangen. Nach einer einwöchigen Vorbereitung an der Schule trugen Kinder
aller religiösen Herkunft Gedichte und Lieder vor.
Diese Tafeln, die mir bei meinen Streifzügen durch Paris
oft eine kleine Genugtuung waren, lösen jetzt bei mir auch schmerzliche
Gedanken aus, die nicht mit dem Schicksal der deportierten Kinder direkt
zusammenhängen.
In der Gegenwart wurde für den elfjährigen Julien eine
solche Tafel-Enthüllung nachträglich zum Verhängnis. Der Sohn einer
jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters hatte sich vor zwei Jahren
in seiner Volksschule im 20.Pariser Bezirk bei der Einweihung einer
derartigen Gedenktafel zum Verlesen der Namen der deportierten Kinder
gemeldet. Als er in die erste Klasse der Unterstufen-Gesamtschule
überwechselte, galt er deswegen moslemischen Mitschülern als "der Jude". Sie
quälten ihn unentwegt in der Schule und im nahe gelegenen Park. Schließlich
empfahl die Schuldirektorin den Eltern im vergangenen Januar, also mitten im
Schuljahr, Julien aus der Schule zu nehmen. Sie könne ihn nicht vor seinen
Peinigern schützen, gestand die Direktorin. Julien war unter anderem als
"Ariel Charogne" (letzteres bedeutet in Französisch "Aas") beschimpft
worden, seine Familie habe "palästinensische Kinder ermordet", wurde ihm
vorgeworfen.
Der als Anführer des Mobbing von den Lehrern
identifizierte Bub wurde zwar eine Woche von der Schule suspendiert, eine
nachhaltigere Bestrafung, so die Schuldirektorin, hätte aber anschließend
Julien nur noch heftigeren Anfeindungen ausgesetzt. Das sah auch die Mutter
ein: auch sie wünschte keine sonderliche Sanktion gegen ein elfjähriges
Kind, auch sie verstand, dass es Erwachsenen nur schwer möglich ist, in ein
derartiges Gruppenklima hineinzuwirken. Dazu kam der brisante soziale
Hintergrund: die nämliche Schule ist ein Sammelbecken der Kinder, die aus
sozial abgeschlagenen und oft besonders zerrütteten Familien des Pariser
Stadtrands stammen. Man habe da schlicht keinen Zugriff auf die
Vorstellungswelt dieser Kinder, gestand die Schuldirektorin. Auch dass sich
Julien als aufmerksamer und erfolgreicher Schüler im Unterricht erwies,
sorgte bei etlichen Mitschülern für Hass.
Die Mutter hatte anfänglich die Hetze, der ihr Sohn
ausgesetzt war, grob unterschätzt und Julien eingeschärft, man dürfe sich
durch antijüdische Bemerkungen nicht einschüchtern lassen. Die Frau hatte in
Kenntnis der sozialen Lage ihr Kind in diese Schule in ihrem Wohnbezirk
geschickt. Zwar müssen laut französischem Recht die Eltern ihre Kinder,
sofern sie sie nicht in eine Privatschule geben, in die nächstgelegene
öffentliche Schule schicken. Etliche, auch links eingestellte
Mittelschichtler, vermeiden aber für ihre Kinder durch diverse Tricks
Schulen, die einen schlechten Ruf haben. Nicht so diese Mutter, eine
engagierte Anhängerin der Gleichheitsgrundsätze der Französischen Republik
und der von der Linken postulierten sozialen Durchmischung.
Insofern ist der Fall Julien auch typisch für viele andere
Vorfälle, bei denen Juden in Frankreich in den letzten Jahren zu Schaden
kamen, und die sich genauso an der Schnittstelle unterschiedlicher Probleme
ereigneten. Die meisten antijüdischen Angriffe erscheinen eingebettet in ein
allgemeines Klima der Aggressivität und Jugendgewalt, das die verarmten
Vorstädte und Randviertel chronisch heimsucht. Wo Attacken auf Polizisten,
Busfahrer, Briefträger, Ärzte und Angehörige der Feuerwehr die Regel sind,
wo Kirchen beschmiert und ältere Passanten angespuckt werden, wo zum Teil
tödliche Bandenkriege zwischen Siedlungen ausgefochten werden, fällt der
Schritt zur Drangsalierung der jüdischen Nachbarn nicht schwer. Alle bisher
identifizierten antijüdischen Gewalttäter – ausnahmslos junge Moslems –
waren bereits zuvor in Vandalismus und Kleinkriminalität abgeglitten. Sie
verkehrten regelmäßig weder in religiösen noch in politischen Vereinen.
Das erschwert auf den ersten Blick die Einordnung dieser
Vorfälle: Julien wurde zweifellos als "Jude" gemobbt, aber an anderen
Schulen in sozialen Krisenzonen werden auch sonst Kinder, die sich als
lernbegierig und aufmerksam erweisen, von Klassenkameraden ausgegrenzt. In
diesem Kontext weigerten sich auch jüdische Persönlichkeiten solche Vorfälle
als Ausdruck einer "antisemitischen Welle" zu betrachten. Mobbing und
Gewalttaten gegen Juden, so erklärten sie, seien nur ein Phänomen unter
vielen der sozialen Krise und Verwahrlosung der Jugend in den städtischen
Randzonen. Eine solche Interpretation hat etwas tröstliches an sich.
Besonders linke jüdische Persönlichkeiten, die gegenüber den traditionellen
jüdischen Organisationen kritische Distanz wahren, klammerten sich an diese
Auslegung.
In Schulhöfen gedemütigt, aus Sozialwohnungen vertrieben, vor
Synagogen bedroht
Die Mehrheit der Juden in Frankreich empfindet diese
Interpretation aber als eine Art Selbsttäuschung und Verharmlosung. Nicht
dass sie allesamt den sozialen Krisenrahmen leugnen würden. Aber seit Ende
2001 (parallel zur zweiten palästinensischen "Intifada") wurden in
Frankreich über 500 antijüdische Angriffe registriert, wobei etliche
Vorfälle, mangels Meldung, in dieser Statistik gar nicht aufscheinen. Es gab
serienweise Anpöbelungen aber auch Steinwürfe und organisierte Angriffe von
Schlägergruppen auf Gläubige vor Synagogen und auf Kinder vor jüdischen
Schulen. Es gab Brandlegungen in jüdischen Bethäusern und Schulen, in
koscheren Restaurants und Metzgerläden. Es gab Überfälle auf Wohnungen in
Sozialbauten und auf Häuser in Reihenaussiedlungen, die jüdische Familien
zum Auszug zwangen.
In einer Schule in der Trabantenstadt Sarcelles wurde ein
junger Jude, der sich gegen eine Beleidigung zur Wehr gesetzt hatte, von
hunderten Mitschülern durch den Schulhof gejagt, bevor ihn die anwesenden
Aufpasser zu Hilfe kamen. Ein Mädchen aus einer jüdischen Schule, die an
einer staatlichen Pariser Schule eine Prüfung ablegte, wurde von örtlichen
Schülerinnen in der Pause gezwungen niederzuknien. "Wir sind hier nicht in
Gaza," höhnte die Gruppe. Das Mädchen wurde schwer misshandelt, weil sie
sich geweigert hatte, zu erklären, sie sei eine "dreckige Jüdin". Bei der
"Weltausstellung der Fachberufe", in Lyon im vergangenen Februar,
provozierten junge Franko-Araber eine Schlägerei mit den anwesenden
Lehrlingen einer jüdischen Berufsschule. Diese wurden schließlich vom
Sicherheitspersonal in die Toiletten und dann zum Ausgang eskortiert, um die
Zusammenstöße zu beenden.
Wen wundert es da, wenn den meisten Juden der Verweis auf
die sozialen Hintergründe inzwischen als eine unerträgliche Entschuldigung
und ein Freibrief für weitere Attacken erscheint. "Wieso müssen wir Juden
als Sündenbock für soziale Missstände und Diskriminierungen in der
französischen Gesellschaft herhalten, an denen wir nicht mehr oder weniger
als andere beteiligt sind?" lautet die logische Frage.
Die eher unlogische Antwort heißt: Israel und eine –
relativ bedeutende – jüdische Präsenz. Neben der Strahlkraft, den der
israelisch-palästinensische Konflikt auf die franko-arabische Bevölkerung
ausübt, ist es die Parallelpräsenz von über fünf Millionen Moslems und
600.000 Juden, beide vorwiegend aus dem Maghreb, dem arabischen Nordwesten
Afrikas stammend, und in Frankreich vielfach in den selben Wohngegenden
angesiedelt, die die Vorraussetzungen für die aktuelle Situation geschaffen
haben.
Zu Beginn des Schuljahrs 2003/2004 mussten die jüdischen
Privatschulen in Frankreich aus Kapazitätsmangel viele neue Schüler aber
auch Lehrer, die um einen Posten angesucht hatten, abweisen. Als Folge der
antijüdischen Hetze versuchten Eltern, die bisher eine nicht-religiöse
Erziehung vorgezogen hatten, ihre Kinder in jüdischen Schulen
unterzubringen. Aber auch da besteht eine Parallele zur allgemeinen
Entwicklung: zu Beginn dieses Schuljahres gab es auch einen Rekordtransfer
von Kindern aller anderen Konfessionen von öffentlichen zu privaten Schulen,
um der Atmosphäre der Gewalt und der mangelnden Betreuung, die an einigen
staatlichen Schulen in sozialen Krisenzonen herrscht, zu entkommen.
Ähnliches gilt übrigens immer mehr für überforderte
Lehrer, die ebenso in ruhigeren öffentlichen Schulen oder Privatanstalten
Zuflucht suchten. Bei Lehrern mit jüdischem Background, die sich erstmals um
eine Anstellung in jüdischen Privatschulen bewarben, waren freilich oft
spezifische Erlebnisse ausschlaggebend: nämlich die gezielte Anmache durch
mehrheitlich moslemische Klassen, die beispielsweise den im Lehrplan
vorgesehenen Unterricht über die Dreyfus-Affäre oder den Holocaust
verunmöglichten. Wobei auch von den Kollegen im Lehrkörper manchmal, statt
Unterstützung, Teilnahmslosigkeit oder gar nur ätzende Bemerkungen über
Israel kamen.
Diese Entwicklung ging auch an mir persönlich nicht
spurlos vorüber. Aus einer Wiener jüdischen Familie stammend und in
Österreich aufgewachsen, war ich vor 21 Jahren nach Paris gezogen. Das war
zwar keine bewusste Flucht vor dem belastenden Klima in Österreich,
nachträglich aber entdeckte ich in Frankreich einen doch viel erträglicheren
atmosphärischen Rahmen für einen Sohn von Holocaust-Überlebenden.
Zu meinem Wohlbefinden in Paris trug auch die
verhältnismäßig massive und auffällige jüdische Präsenz bei. Ich habe keine
religiöse Bindung an das Judentum und kann daher mit den rituellen
Glaubensgeboten, wie etwa der "Kaschrut", nichts anfangen. Auch finde ich
die bewusste Beschränkung der familiären und persönlichen Beziehungen auf
Menschen, die sich ebenfalls als Juden definieren, so unsinnig, dass ich auf
die Erklärung, warum ich das so sehe, nicht eine einzige geschriebene Zeile
verschwenden möchte. Aber ungeachtet dieser Einstellung ist es nun mal so,
dass auf mir, wie wohl den meisten Menschen aus jüdischen Familien,
entnormalisierende Klischees lasten. Für die Linderung dieses Gefühl des
Ausgestoßenseins und dem verinnerlichten Vorwurf der Absonderlichkeit war
Paris ein guter Ort. Urlauber, die die Stadt nicht kennen, fragen meistens
nach "dem" jüdischen Viertel, und meinen die Gegend um die Rue des Rosiers,
wo schon im Mittelalter eine jüdische Siedlung bestand, und wo 1982 ein
blutiger Anschlag der Abu-Nidal-Gruppe für weltweite Schlagzeilen sorgte.
Tatsächlich aber gibt es, über die ganze Stadt und den Vorortesgürtel
verstreute jüdische Viertel. Straßenzüge mit ihren Restaurants und
Imbiss-Stuben, Lebensmittelläden und Zeitungskiosken, Textilgeschäften und
solchen für Haushaltsgeräte, Möbelhäusern und Installateuren, in denen
überwiegend Juden arbeiten und verkehren. Es gibt auch Sozialbau-Siedlungen,
in denen gut die Hälfte der Einwohner Juden sind, wo einem Halbwüchsige mit
Kippa immer wieder über den Weg laufen. Ich brauchte da nicht wirklich
dazuzugehören oder mit diesen Menschen zu verkehren, das bloße Wissen um
deren Existenz war für mich wertvoll.
Neo-Hassidismus und islamischer Rigorismus
Dass es diese jüdische Soziabilität noch nach dem
Holocaust in Paris gibt, und dass heute Frankreich den größten jüdischen
Bevölkerungsanteil Europas aufweist, ist auf die bereits erwähnte
Masseneinwanderung der Juden aus den französischen Ex-Kolonien im Maghreb
und da vor allem aus Algerien und Tunesien in den fünfziger und sechziger
Jahren zurückzuführen. Freilich erlebte ich in den letzten zwei Jahrzehnten,
also seit ich in Paris bin, auch wieder den steten Rückgang dieser
jüdisch-maghrebinischen Präsenz. Die Juden aus Nordafrika haben, im
Zeitraffer, die selben Etappen wie die jüdischen Familien aus Osteuropa
durchschritten: urbane Streuung und schrittweise Auflösung in einem breiten
Mittelstandsmilieu. Die kompakte und bedeutende, kollektive jüdische Präsenz
in den Unterschichtsvierteln machte noch anlässlich des Sechstagekriegs,
1967, Angriffe auf Juden zu einer riskanten Angelegenheit, weil sie in
Schlägereien zwischen halbwegs gleich starken Gruppen mündeten. Nunmehr aber
blieben in den "jüdischen Gassen" hauptsächlich alte und/oder isolierte
Personen übrig. Von denen gibt es zwar viele: Nach Erhebungen jüdischer
Wohltätigkeitsvereine dürfte der Prozentsatz der in der Armutsfalle
gefangenen Juden überdurchschnittlich hoch sein. Aber diese
jüdisch-plebejische Restbevölkerung lebt heute, weitgehend atomisiert, in
einer mit sozialen Spannungen unvergleichlich aufgeladeneren Umgebung.
Außerdem ist die jüdische Einwanderung aus Nordafrika, wo es nur mehr wenige
tausend Juden gibt, weitgehend versiegt. Dem steht in den pauperisierten
urbanen Zonen der weitere Zustrom von Ersteinwanderern aus moslemischen
Ländern gegenüber.
Auch gerät die ursprüngliche, jüdisch-maghrebinische
Gruppenidentität, die selbstverständliche Traditionen mit lebenslustiger
Integration in die französische Rahmengesellschaft verband, immer mehr ins
Hintertreffen. Unter den jüngeren, bereits in Frankreich aufgewachsenen
jüdischen Gläubigen wird sie vielfach durch den hochritualisierten
Neo-Hassidismus der Chabad-Lubawitsch-Gemeinden abgelöst. Diese aus den USA
ausstrahlende sektenartige Bewegung hat auch in Frankreich einen zentralen
Platz unter den Organisationen und im Erscheinungsbild der Juden errungen.
Zweifellos hat der missionarische Eifer der Lubawitscher und ihre
buchstabengetreue Religionsinterpretation einer großen Zahl von
verunsicherten jungen Juden einen stützenden, kollektiven Rahmen gezimmert.
Einen solchen festgefügten Rahmen vermochte der
augenzwinkernde maghrebinische Traditionalismus ihrer Eltern nicht zu
bieten. Dieser konnte sich auch schwerlich, abgeschnitten von seinem
maghrebinischen Ursprung und unter den veränderten Lebensverhältnissen der
neuen Generationen in Frankreich, fortsetzten.
Es ist die Suche nach sinnstiftenden
Solidargemeinschaften, die die Lubawitscher so attraktiv für eine bedeutende
Zahl junger Juden machen. Dabei war die ursprünglich osteuropäische
Provenienz der Lubawitscher kein Hindernis bei der Rekrutierung der
mehrheitlich aus maghrebinischen Familien stammenden Jugendlichen. Die
europäische Prägung der Lubawitscher bot eine attraktive exotische Note. Sie
bürgte auch scheinbar für eine profunde Religionsinterpretation, um sich
gegenüber der Generation der Eltern und ihrem vorgeblich verwässerten
Judentum zu profilieren.
All dies gilt im übrigen auch für islamische Vereine, die
in den urbanen Krisenzonen Frankreichs, unter ethno-religiösem Banner ihren
Einfluss ausdehnen. Bei den jungen Moslems ist eine den Lubawitschern
durchaus vergleichbare Bewegung tonangebend: die UOIF ("Union der
islamischen Organisationen Frankreichs") ist beseelt von der
religiös-kulturellen Dogmatik der ägyptischen "Moslembrüder" und anderer,
nahöstlicher Rigoristen, Diese prätentiöse Dogmatik halten die jungen Kader
der UOIF ebenfalls dem überlieferten, volkstümlichen Islam der
maghrebinischen Eltern entgegen.
Indirekt bekräftigten sich diese Gruppierungen
gegenseitig: je stärker der Einfluss einer rigorosen islamischen Bewegung im
Alltag einer Siedlung spürbar ist, desto stärker wird auch der Wunsch vieler
junger Juden sein, in einem gleichwertigen Verein Halt zu finden, und
umgekehrt.
Parallel zu ihrer rituellen Orthodoxie verkörpern die
Lubawitscher den rechtsreligiösen Flügel des Zionismus: sie betrachten die
seit 1967 von Israel besetzten Gebiete durchgehend als jüdisches Territorium
und unterstützen in Israel die dermaßen orientierten politischen Kräfte.
Diese Ausrichtung entspricht auch durchaus der Stimmung, die in den
jüdischen Basisgemeinden, allen voran in den Vorstädten, herrscht. Seit
ihrer weitgehend erzwungenen Auswanderung aus Nordafrika haben viele Juden
einen heftigen, anti-arabischen Israel-Nationalismus entwickelt, der sich in
den letzten Jahren, parallel zur Verschärfung des
israelisch-palästinensischen Kriegs und den antijüdischen Attacken in
Frankreich, nur noch radikalisiert hat.
Auf der, schematisch ausgedrückt, entgegengesetzten Seite
trifft man auf etliche Persönlichkeiten aus jüdischen Familien, vorwiegend
in linken bis linksradikalen Organisationen, die sich in keinster Weise
durch das organisierte Judentum vertreten fühlen, und uneingeschränkt für
die palästinensische Nationalbewegung Partei ergreifen.
Die Einsamkeit der Orthodoxielosen Juden
Übrig bleibt eine statistisch schwer zu fassende, aber
vermutlich große Gruppe an jüdischen Franzosen, die nichts mit der bizarren
Orthodoxie und dem Rechtszionismus der Lubawitscher anfangen können, die
sich aber auch nicht vom Schicksal des traditionellen Judentums und Israels
schlicht abzukoppeln vermögen.
Diese Personengruppe, überwiegend Angehörige der
gebildeten Mittelschichten und oft engagierte Träger der linksliberalen bis
ökosozialen Politkultur, haben ihr geläufiges Koordinatensystem und ihre
bisherigen politischen Anhaltspunkte vorerst verloren. Ihre Isolierung
kulminierte in der Phase vor dem Irak-Krieg. Selten noch hatten sie sich in
derartig scharfer Weise abgeschnitten gefühlt vom Stimmungstrend ihres
natürlichen (nicht-jüdischen-) Milieus, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da
dieses weitgehend konform mit der überwältigenden Mehrheit der restlichen
Bevölkerung zu gehen schien.
Der quasi weltweite Aufstand gegen die US-Kriegspläne
trieb auch in Frankreich Menschenmassen auf die Straße. Der überwiegende
Teil der Medien, die Staatsführung und die Opposition befanden sich auf der
selben Wellenlänge. In den westeuropäischen Kernstaaten der EU nahmen die
Proteste die Form einer spontanen Jugenderhebung an - ein Schlüsselerlebnis
für den aktivierbareren Teil der jüngeren Generationen, vergleichbar mit den
Demonstrationen der sechziger und siebziger Jahre gegen den Vietnam-Krieg.
Nur dass diesmal weitaus weniger junge Juden mit gutem Gewissen dabei waren.
Tatsächlich wurden etliche der Anti-Irakkriegs-Demos nicht
nur von Parolen gegen die israelische Besatzungspolitik mitgeprägt, sondern
auch von der Brandmarkung Israels als Vollzugsgehilfe oder gar Auftraggeber
der US-Regierung. Vereinzelt wurden David-Stern und Hakenkreuz auf
Transparenten gleichgesetzt. Bei einer der Grossdemos in Paris droschen
dutzende franko-arabische Jugendliche auf eine kleine Gruppe von Zuschauern
im Spalier ein, die sie als Juden identifiziert hatten (einzelne trugen eine
Kippa). Dabei handelte es sich um Mitglieder der linkszionistischen
Schomer-Hatzair-Jugendbewegung. Sie verfolgten die jungen Juden bis vor das
nahe Lokal des Schomer, das sie – vergeblich – zu stürmen versuchten.
Aber auch ohne diese Vorkommnisse wäre es vielen Juden
schwergefallen mitzudemonstrieren. Zumindest bis zur Invasion Kuwaits hatte
Saddam Hussein ja systematische Anstrengungen unternommen, um
Massenvernichtungswaffen zu entwickeln und diese auf Israel zu richten.
Während des ersten Kriegs zwischen dem Irak und dem Westen schlugen auch
tatsächlich irakische Raketen in Israels urbanen Zentren ein, richteten
allerdings wegen ihrer technischen Unausgereiftheit nur begrenzten Schaden
an. Insofern konnten all jene, die um Israels Sicherheit besorgt sind, die
Ausschaltung Saddams grundsätzlich kaum ablehnen, auch wenn einige größte
Zweifel über die taktische Opportunität der US-britischen Intervention im
Irak und ihrer bereits absehbaren Folgen äußerten – wie etwa der
Schriftsteller und Essayist Bernard-Henri Lévy. Dieser warnte, der Atomstaat
Pakistan, auf allen Ebenen von islamischen Fundamentalisten unterwandert,
sei viel gefährlicher als das Saddam-Regime. (Lévy kam zu diesem Schluss
nach seinen Recherchen für ein Buch über die Ermordung des US-Journalisten
Daniel Pearl in Pakistan: "Wer hat Daniel Pearl ermordet?", Econ-Verlag /
München 2003).
Dermaßen sensibilisiert, konnten oder wollten Juden auch
nicht so leicht über die zahllosen Verbrechen hinwegsehen, die das
Saddam-Regime etwa an Schiiten und Kurden begangen hatte, und die einen
beträchtlichen Teil der Anti-Kriegsbewegung ziemlich kalt ließen. Die
arabische und moslemische Öffentlichkeit (mit Ausnahme der Schiiten und
einiger Vertreter der irakischen Linken), die in die europäische Bewegung
via den jungen Euro-Arabern hineinwirkte, tendierte sogar dazu, das
Saddam-Regime trotz und teilweise wegen seiner Grausamkeit und
vermeintlichen Schlagkraft als unerlässliches Gegengewicht zu Israels
militärischer Vormachtstellung zu preisen.
Der Riss zwischen vielen Juden aus der gebildeten
Mittelschichte und ihrem, vereinfacht ausgedrückt, linksalternativen
Kulturtop, hatte sich schon lange zuvor in der politischen Wende einiger der
prominentesten jüdischen Intellektuellen der 68er Generation angekündigt.
Selbstverständlich gibt es unvergleichlich mehr Intellektuelle, die keinen
familiären Bezug zum Judentum haben, und die sich in der selben Periode
ebenfalls von der Linken abgewendet hatten. Und umgekehrt, wie bereits
erwähnt, blieben etliche Juden der 68er und post-68er Generationen
ungebrochene Bannerträger der französischen Linken in ihren vielfältigsten
Versionen.
Aber für jene jüdischen Intellektuelle, die am
deutlichsten ihre Verbundenheit mit der jüdischen Schicksalsgemeinschaft
äußerten (und mit ihnen konvergierende nicht-jüdische Persönlichkeiten),
waren die Problemkreise Israel- und Juden-Hass zweifellos entscheidende -
wenn auch nicht die einzigen - Faktoren, die sie auf Distanz zu linken,
globalisierungskritischen Strömungen trieben. Faktoren, die auch dazu
führten, dass sich in Frankreich eine kleine aber prominente Phalanx von
Intellektuellen bildete (darunter der Philosoph André Glucksmann und der
Historiker Alexandre Adler), die sich, der Unisono-Stimmung zum Trotz, gegen
die Antikriegsbewegung und für die US-britische Intervention im Irak
einsetzten.
Als Meilenstein in diesem Trennungsprozess wirkte schon
zuvor, im September 2001, die Anti-Rassismus-Konferenz der UNO in der
südafrikanischen Stadt Durban, in der Israel, grundsätzlich, also als
jüdischer Staat auf der Anklagebank saß. Die Repräsentanten israelischer und
allgemein jüdischer Organisationen wurden am Rande der Konferenz auch
physisch angefeindet. Das war das Werk arabischer Bewegungen. Aber auch eine
Vielzahl sonstiger Non-Gouvernemental-Organisationen heizten die Stimmung
gegen die anwesenden Israelis an. Der französische Philosoph Alain
Finkielkraut, für seine krassen Formulierungen bekannt, sprach vom "Durbaner
Pogrom", so wie er anschließend, nach der Welle antijüdischer Attacken in
Frankreich, für das Jahr 2002 den Begriff vom "Kristalljahr" prägte. (Seine
These über den "neuen Antisemitismus", der sich im Lager der
"islamo-progressiven" und antirassistischen Bewegungen entwickeln würde,
präzisierte Finkielkraut in einem soeben erschienenen Buch: "Au nom de
l‘autre – Réflexions sur l‘antisémitisme qui vient". Gallimard / Paris
2003).
Während also Finkielkraut, einer der prägnantesten Denker
unter den jüdischen Ex-68ern, die allertragischsten historischen Parallelen
bemühte, um vor den heraufdämmernden Gefahren für die Juden zu warnen,
äußerte sich das Idol der linksalternativen Szene Frankreichs, der
Bauerngewerkschaftler José Bové, mit unglaublicher Nonchalance zu diesem
Thema. Bové hatte sich im März 2002, im Rahmen eines "Internationalen
Zivilschutzkomitees für das palästinensische Volk", nach Ramallah begeben,
um Jassir Arafat während der Belagerung seines Amtssitz durch israelische
Truppen symbolisch beizustehen. Von den israelischen Behörden ausgewiesen,
kam es bei seiner Rückkehr auf dem Pariser Flughafen zu Schlägereien
zwischen seinen Anhängern und rechtszionistischen Aktivisten. Bové erhob
aber nicht nur Vorwürfe gegen die israelische Besatzungspolitik, sondern
erging sich auch in Mutmaßungen, wonach hinter den antijüdischen Gewalttaten
in Frankreich der israelische Geheimdienst Mossad stecken würde.
Später entschuldigte sich Bové, wenn auch in etwas
unpräziser Manier, für diese Äußerungen. Das änderte freilich wenig an der
Signalwirkung dieser Erklärung für die jüdische Öffentlichkeit Frankreichs.
Bové, ein Intellektueller der 68er Generation, der sich als Ziegenzüchter
auf dem Hochplateau des Larzac in Südfrankreich niedergelassen hatte und zum
Wortführer der globalisierungskritischen Ökobauern wurde, ist vermutlich
kein Judenhasser. Aber der zurzeit wohl populärste Hoffnungsträger der
rührigeren Teile der französischen Linken hatte, aus Anteilnahme für die
Palästinenser, die Angriffe auf Frankreichs Juden heruntergespielt.
Globaler Hofjudenstatus?
Das gilt bekanntlich nicht nur für Frankreichs
globalisierungskritische linke Szene. Unter den Solidaritätsaktivisten, die
sich im Frühjahr 2002 um den belagerten Arafat scharten, befanden sich neben
Bové ja auch andere Galionsfiguren der Bewegung für eine alternative
Globalisierung, die in den letzten Jahren zu einem der imposantesten
internationalen Politphänomene heranwuchs.
Ähnlich wie einst das südafrikanische Apartheid-Regime
oder das Serbien von Milosevic, weckt die Erwähnung Israels inzwischen in
der internationalen Parasprache Reflexartige Negativ-Assoziationen. Wie sehr
der jüdische Staat und seine Symbole als Synonym für Unrecht bereits wirken,
lässt sich aus einem marginalen aber nicht minder bezeichnenden Vorfall
ablesen: bei der diesjährigen Gedenkfeier in Armenien für den türkischen
Völkermord an den Armeniern von 1915 verbrannten die Kundgebungsteilnehmer
eine türkische Fahne, auf die ein Davidstern gemalt war – die Gleichsetzung
mit Israel also als geeigneteste Brandmarkung der Türkei, die offiziell noch
immer den Genozid leugnet, dem eineinhalb Millionen Armenier zum Opfer
fielen, und der als Vorbote des Holocausts gilt.
Gemessen an der jüdischen Leidensgeschichte, die die Juden
aus Europa aber auch aus dem Orient nach Palästina und in die Staatsgründung
trieb, ist obige Charakterisierung Israels schweres Unrecht. Im Vergleich
mit den ungemein grausameren Vorgangsweisen anderer Regime und Bewegungen,
etwa im arabischen Raum, erscheint die universelle Diabolisierung des
Zionismus heuchlerisch. In Voraussicht der mehr als wahrscheinlichen
Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Israels bei auch nur einem einzigen,
entscheidenden arabischen Militärsieg, wirken die europäischen
Solidaritätsbezeugungen für die palästinensische Nationalbewegung wie ein
Luxus, den sich Juden kaum leisten können.
Aber umgekehrt ist in dem Streben nach einem jüdischen
Staat auf palästinensischen Boden von Anfang an ein spätkolonialer
Verdrängungskonflikt angelegt gewesen, der die jüdische und palästinensische
Bevölkerung zwangsläufig in einen Dauerkrieg um die Souveränität über dieses
Territorium treiben musste. Die Kamikaze-Attentate der letzten Jahre gegen
die israelische Bevölkerung mögen einen Teil der pro-palästinensischen
Sympathieträger in Europa stutzig gemacht haben, sie konnten aber nicht die
Reportagen über die laufende Demütigung, Entrechtung und Abschnürung der
palästinensischen Bevölkerung von den Bildschirmen verdrängen. Diese
aktuellen Vorgänge erschüttern die internationale Öffentlichkeit naturgemäß
mehr als die, im Laufe der Zeit, immer abstrakter und komplexer wirkenden
historischen Verweise auf die Ursachen der jüdischen Staatsgründung.
Wir, namentlich die auf dem Tatort Europa verbliebenen
Juden, leben mit der familiengeschichtlichen Gewissheit des Holocausts als
ständigen Begleiter. Für die meisten anderen Menschen, auch jene, denen es
um keine historisch-identitäre Schuld-Abwehr, wie so häufig in Deutschland
oder Österreich, geht, verblasst der humanpolitische Zusammenhang zwischen
Holocaust und Israel. Er tritt angesichts der aktuellen Leiden der
Palästinenser in den Hintergrund. So wie ja auch die aktuelle israelische
Besatzungspolitik einen Teil der intellektuellen Eliten Israels moralisch
zermürbt.
So könnten die Aufbauleistungen und militärischen Siege
Israels, aus denen wir Juden, ob eingestandenermaßen oder nicht, unser
Post-Holocaust-Selbstwertgefühl zehren, und die uns ein Zipfelchen Symbolik
der so genannten Normalität erhaschen ließen, uns jetzt erst recht in ein
globalisiertes Abseits drängen. Die Polarisierung eines überwiegenden Teils
der Weltöffentlichkeit gegen die US-Intervention im Irak hat diese Optik
noch verschärft. Ansatzweise entsteht der Eindruck, Israel würde, wenn auch
in abgewandelter Form, die tragische Partitur des Hofjuden beziehungsweise
Hofjudentums übernehmen. Also jener jüdischen Persönlichkeiten und Gruppen,
die im engsten Kreis der Mächtigen toleriert wurden und, in Ermangelung
sonstiger Absicherung, den Schutz der jüdischen Gemeinden gewährleisteten.
Dieser Sonderstatus im Schatten der Obrigkeit, auf den
nicht nur Juden sondern etliche andere Minderheiten in den Großreichen des
Okzidents und Orients logischerweise angewiesen waren, kehrte sich immer
wieder in sein Gegenteil: mal wurden die Juden von den Mächtigen betrogen
und geopfert, mal durch den Sturz der Mächtigen ins Verderben mitgezogen,
meistens von der Mehrheitsbevölkerung für den vorgeblichen Einfluss auf die
Mächtigen beneidet und für die ihnen zugewiesenen Funktionen im Sozialgefüge
gehasst. Die Gründung Israels sollte in der Vision der zionistischen
Bewegung gerade diese gefährliche Abhängigkeit der Juden von den jeweiligen
Machtträgern beseitigen und durch eine eigene, jüdische Souveränität
ersetzten. Das Paradox könnte darin liegen, dass Israel, heute mehr denn je,
wegen seiner unabdingbaren strategischen Allianz mit den USA, in einer
ähnlichen Weise auf die aktuelle Weltmacht angewiesen ist, wie es einst die
jüdischen Gemeinden auf Fürst, König oder Sultan waren. Das bedeutet, dass
die Ablehnung, die den USA zurzeit entgegenschlägt, und die internationalen
Misserfolge, die die USA namentlich im Orient verbuchen, auch und teilweise
sogar stärker Israel belasten könnten als Amerika selber.
Natürlich wird dieser hier nur oberflächlich dargestellte
historische Status weder der Komplexität und Vielfalt der jüdischen
Diasporageschichte noch der Eigendynamik und Potentialitäten Israels
gerecht. Aber die Tendenz zur Reproduktion eines derartigen Musters ist der
jüdischen Staatsgründung inmitten des arabischen Orients immanent: man denke
nur an die von Anfang an, notgedrungen, angestrebte Allianz zwischen der
zionistischen Bewegung und den europäischen Kolonialmächten. Diese
Problematik ist umso schmerzhafter, weil sie zurzeit wieder von Scharlatanen
und Judenhassern ausgeschlachtet wird, um so unsinnige wie perfide
Verschwörungstheorien zum Themenkreis Juden und USA mit Erfolg in Umlauf zu
bringen.
Zu diesem Zerrbild Israels als eine Art kollektiver
Hofjude von Amerikas Gnaden fügt sich auch die aktuelle Außenerscheinung der
jüdischen Gemeinden, die in immer krasserer Weise auf Schutz von oben
angewiesen sind. Das führt auch zu dem eingangs erwähnten kleinen Julien
zurück, obwohl er und seine Mutter ja eine derartige Stellung unbedingt
vermeiden wollten. Von seinen Klassenkameraden verstoßen, vermied er die
längste Zeit, tapfer, den Appell an die schützende Hand der Schulobrigkeit,
die ihm ja dann auch keine Hilfe erteilen konnte. Spätestens seit dieser
Affäre hat mich in Paris ein Gefühl des Ausgestoßenseins wieder eingeholt.
Statt der Zufriedenheit, die mir zuvor die Elemente jüdischer Soziabilität
im Straßenbild, als kleiner aber akzeptierter Teil dieser Stadt,
vermittelten, beschleichen mich jetzt Sorgen: wie riskant ist der
Fortbestand dieser jüdischen Treffpunkte? Können etwa die Kartenspielrunden
jüdischer Pensionisten in den Bistros des Migrantenviertels Belleville
unversehens von Jugendlichen aus der Umgebung überfallen werden, so wie
kürzlich Kinder einer jüdischen Schule, in der selben Gegend, von einem
regelrechten Rollkommando blutig geschlagen wurden? Und was droht den
Autokonvois, die am Sonntag durch Paris hupend fahren, und bei denen es sich
fast immer um jüdische Hochzeitsgesellschaften handelt (die anderen heiraten
meistens am Samstag)? Wie soll und kann ich mich verhalten, wenn ich Zeuge
eines Angriffs werde?
Wenn ich, was häufig vorkommt, Erstklässler aller
Hautfarben bei Schulausflügen in der Pariser U-Bahn, einander die Hand
haltend, tratschend und lärmend sehe, ein Erlebnis das mich früher in
Hochstimmung versetzte, frage ich mich jetzt: können sich unter ihnen noch
problemlos Kinder aus jüdischen Familien befinden? Werden uns die neuen
Generationen Frankreichs und Europas, deren ethnische Abstammung noch nie so
vielfältig war, wieder verstoßen? Wird ausgerechnet jetzt, da sich
gegenseitige Akzeptanz und Verständnis bei beträchtlichen Teilen der
Heranwachsenden erhöhen, dieser breite Konsens ausgerechnet um uns einen
Bogen machen?
Von Djerba bis Paris:
Das
maghrebinische Judentum im Visier
Das maghrebinische Judentum stellt
den zweiten, großen Strang der jüdischen Weltbevölkerung der Neuzeit dar -
ein oft kulturell unterschätzter Quasi-Zwilling des osteuropäischen
Judentums...
Special - -
Zur Lage in Frankreich 2003
hagalil.com
08-12-2003 |