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Juden und Muslime:
Der Mythos einer interreligiösen Utopie
Von Mark R. Cohen
Als eine idyllische, fast mythisch überhöhte Zeit
schilderten jüdische Historiker im 19. Jahrhundert die Erfahrung der Juden
des Mittelalters unter islamischer Herrschaft. Diese Erfahrung stand im
starkem Kontrast zur traurigen Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung
von Juden in der mittelalterlichen Christenheit. Man glaubte, dass die Juden
der arabischen Welt, insbesondere im muslimischen Spanien, in einem Goldenen
Zeitalter gelebt hatten, wenn nicht sogar in einer "interreligiösen Utopie".
Dieser Gegensatz bediente die politische Agenda der
jüdischen Intellektuellen im Europa des 19. Jahrhunderts. Obwohl man ihnen
nach der Französischen Revolution Emanzipation und volle politische und
kulturelle Integration versprochen hatte, wurden Juden weiterhin
diskriminiert und durften etwa an den Universitäten keine Lehrstühle
besetzen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten sich diese
Vorurteile zu einem neuen Antisemitismus politischer und rassischer
Ausprägung. Die "interreligiöse Utopie" – oder besser: der Mythos einer
interreligiösen Utopie – in Spanien und unter dem Islam im Allgemeinen
forderte die angeblich aufgeklärten Christen heraus, das Versprechen der
Emanzipation zu halten und den Juden Rechte und Privilegien einzuräumen, die
mindestens so "liberal" waren wie die "Toleranz", die die Juden unter der
Herrschaft der mittelalterlichen Muslime genossen.
Dieser anheimelnde Vergleich zwischen dem "Goldenen
Zeitalter" im Islam und der Geschichte der Verfolgung durch die Christen
wurde – vor dem Hintergrund der politischen Agenda der jüdischen
Intellektuellen in Mitteleuropa – ins 20. Jahrhundert weitergetragen. Die
brutale Verfolgung und Ermordung der Juden während des Nationalsozialismus
verfestigte den Mythos zusätzlich. Gleichzeitig brachte der Streit zwischen
Juden und Arabern um Palästina ein neues politisches Thema hervor, das sich
auf die Geschichtsschreibung über die mittelalterlichen Juden unter dem
Islam auswirkte. Entweder zehrten die Kontrahenten vom Mythos von der
„interreligiösen Utopie", oder sie revidierten ihn – jeweils im Sinne ihrer
eigenen politischen Ziele. Die Araber und die Partisanen des arabischen
Nationalismus hielten die Fahne jüdisch-muslimischer Harmonie in der
Vergangenheit hoch und schoben dem Zionismus die Schuld für die Feindschaft
der Araber in die Schuhe.
Im Gegenzug dazu ersetzten viele zionistische Autoren die
Theorie vom Goldenen Zeitalter mit etwas, das ich als "Gegenmythos der
islamischen Verfolgung" oder "Neues Lacrimosa der jüdisch-arabischen
Geschichte" bezeichnen möchte. Die Revisionisten behaupteten, dass das
jüdische Leben unter der Herrschaft des Islam seit der Zeit des Propheten
Mohammed (†632 n. Chr.) von Entbehrungen und Verfolgung gekennzeichnet war,
die fast so bitter waren wie der mörderische Leidensweg der Juden unter der
Herrschaft der Christen. Das implizierte, dass der arabische Antisemitismus
nichts Neues war, sondern eine alte Krankheit, die wahrscheinlich auch dann
nicht verschwinden würde, wenn Israel um des Friedens willen größere
politische Zugeständnisse an den Staat Palästina machen würde.
Toleranter Islam?
Der Mythos der interreligiösen Utopie entsprang einer
wohlwollenden jüdischen Haltung gegenüber dem Islam als einer toleranten
Religion; hier liegt aber nicht nur der Ursprung, sondern gleichzeitig auch
die Stütze dieses Mythos – ganz anders als die negative Haltung zum Islam,
die Edward Said in seiner berühmten Monographie Orientalism beschreibt. Doch
wenn man in die jüdische Geschichte die Idee islamischer Toleranz einbaut,
übersieht man eine entscheidende Tatsache: Toleranz – wie sie zumindest im
Westen seit der Zeit von John Locke verstanden wird – war in den
monotheistischen Gesellschaften des Mittelalters keineswegs eine Tugend. Ein
Wesenzug des Monotheismus ist die Ausschließung; Monotheisten erklären alle
anderen – einschließlich andere Monotheisten – zu Ungläubigen. Wenn die
mittelalterliche Christenheit sich "tolerant" gegenüber dem Judentum zeigte,
den Juden also erlaubte, ihre Religion auszuüben und zu leben, so nur
deshalb, weil die Christen seit der Zeit des Heiligen Augustinus (354-430)
glaubten, dass Gott die Juden nur als Zeugen für den Triumph des
Christentums zu erhalten wünsche. Auf muslimischer Seite gab es im
Mittelalter viele Gründe dafür, warum der Islam den Juden eine bessere
Behandlung angedeihen ließ als das Christentum.
Rechtlicher Status
In der Welt des Islam profitierten die Juden (wie auch die
orientalischen Christen) von der rechtlichen Duldung als "geschütztes Volk"
(ahl al-dhimma). Dieser Status wurde ihnen zuerkannt, weil sie als Volk des
Buches (ahl al-kitab) galten, dem sich Gott in der Heiligen Schrift
offenbart hatte. Als eine von zweien, manchmal drei oder mehr dhimmi-Gruppen
– der Islam nahm auch die persischen Anhänger des Zarathustra und die
indischen Hindus in die Kategorie der dhimmi auf – kam den Juden keine
Sonderbehandlung zu. Das bedeutete, dass die übliche (monotheistische)
Diskriminierung des Islam gegenüber Ungläubigen gleichmäßig gestreut wurde.
Der Islam entwickelte kein besonderes Gesetz für die Juden, im Unterschied
zum Christentum: hier betrachtete man die Juden im Hochmittelalter als
königliche "Kammerknechte", als den besonderen leibeigenen "Besitz" von
Königen, Fürsten oder Städten. Manchmal war es auch die Kirche, die die
ausschließliche Macht über die Juden hatte; dabei berief sie sich auf den
alten patristischen Lehrsatz von der "ewigen Knechtschaft der Juden". Die
islamischen Rechtsvorschriften, die das jüdische Leben regelten, waren zum
größten Teil im sogenannten "Pakt des Omar" – der zweite Kalif nach
Mohammeds Tod – festgehalten, der in das heilige Gesetz des Islam (die
shari'a) integriert war. Auf diese Weise wurden die Regeln über die Zeiten
dauerhaft bewahrt, und es gab von muslimischer Seite wenig Verstöße dagegen.
Das Gesetz der dhimma wies bestimmte Restriktionen auf, die ursprünglich
wohl eher die Aufgabe hatten, die zerbrechliche Identität der muslimischen
Eroberer zu schützen als die Ungläubigen zu unterdrücken.
Doch im Laufe der Zeit, gegen Ende des ersten islamischen
Jahrhunderts, wurden die Vorschriften in einem negativen Sinne
diskriminierend. Nicht-Muslime durften keine neuen Gotteshäuser errichten
und alte nicht restaurieren; sie durften ihre religiösen Riten nur in
Innenräumen und im Stillen verrichten, um die Erhabenheit des Islam nicht zu
beleidigen; sie durften keine ehrenden Beinamen annehmen (z. B. Abu 'Imran),
mussten eine bestimmte Tracht tragen, insbesondere einen speziellen Gürtel,
den zunnar; sie durften keine kriegsgefangenen Sklaven besitzen, die für
Muslime vorgesehen waren; sie mussten sich loyal gegenüber den Muslimen
zeigen; sie durften kein Schweinefleisch oder alkoholische Getränke in
muslimischen Vierteln verkaufen, da diese im Islam verboten waren. Als
Gegenleistung für die Befolgung dieser Einschränkungen und für die Zahlung
einer jährlichen Kopfsteuer (jizya) gewährte man den dhimmis
Religionsfreiheit, den Schutz von Person und Besitz und die Autonomie in
ihren Gemeinden – die Freiheit, gemäß den religiösen Gesetzen ihrer
Vorfahren zu leben. Auch war es den dhimmis nicht erlaubt, ein öffentliches
Amt zu bekleiden, doch diese Restriktion richtete sich vor allem an ihre
muslimischen Arbeitgeber und war eine Mahnung an die Adresse jener
arabischen Herrscher, die in Komplizenschaft mit den Juden die dem
dhimma-System zugrundeliegende Hierarchie verletzten.
Seit der Frühzeit des Islam und das ganze Mittelalter
hindurch wurden die restriktiven Gesetze nur unregelmäßig und sporadisch
durchgesetzt, mit Ausnahme der Kopfsteuer, die der Staatskasse der
islamischen Herrscher zukam. Juden und Christen stießen auf wenig Widerstand
z. B. beim Bau neuer Synagogen und Kirchen in neu gegründeten muslimischen
Städten, aber auch in älteren Ansiedlungen, die durch Zuwanderung wuchsen.
Als der Islam sich verbreitete und Juden auch in die abgelegeneren Teile des
Reiches wanderten, gründeten sie neue oder vergrößerten bestehende Gemeinden
und konnten ungehindert neue Gotteshäuser bauen. Wenn Probleme auftauchten,
akzeptierten die islamischen Rechtsgelehrten für gewöhnlich Zeugenaussagen
zum hohen Alter der Gebäude als ausreichenden Vorwand dafür, sie von
Zerstörung oder Konfiszierung auszunehmen. Auch Reparaturen wurden
hingenommen, wenn sie eine gesetzliche Auflage erfüllten – die Materialien
mussten „alt" sein, damit man sie bei die Renovierung verwenden durfte. Im
Unterschied zum Christentum ist der jüdische Glaube keine Religion des
öffentlichen Schauspiels; daher waren die Juden von den Restriktionen
erheblich weniger betroffen als ihre christlichen Nachbarn im Orient.
Eine Ausnahme stellten die Begräbnisprozessionen dar, zu
der sich die Juden im Freien versammelten und die manchmal von muslimischem
Pöbel angegriffen wurden. Juden nahmen ehrende Beinamen an – Abu ´Imran ist
der ehrende Beiname von Moses Maimonides – und kleideten sich wie alle
anderen, wie jüdische Handschriften des Mittelalters (Genisa in Kairo)
zeigen. Juden hielten Sklaven, überwiegend als Hausbedienstete, aber auch
als Bevollmächtigte in finanziellen Angelegenheiten, und sowohl Juden als
auch Christen hatten noch lange Regierungsposten inne, nachdem die Araber
die Kunst der Bürokratie schon längst gemeistert hatten, sogar bis ins
Spätmittelalter hinein, als die Ressentiments gegen die dhimmi wuchsen.
Juden in der Ökonomie des Islam Die Juden in Nordeuropa besetzten
überwiegend jene ökonomischen Nischen, die von den Christen verschmäht
wurden. Im Frühmittelalter waren sie z. B. überproportional im Fernhandel
vertreten.
Zu einer Zeit, da der überwiegende Teil der Gesellschaft
sesshaft und agrarisch war, da die christliche Verachtung des Handels und
die feudale Abneigung gegen das städtische Leben überwog, waren die
jüdischen Händler stigmatisiert. Gleichzeitig hatten die deutschen Herrscher
und die Oberschicht Interesse an der Anwesenheit jüdischer Kaufleute, denn
sie brachten kostbare Konsumgüter wie etwa Gewürze aus dem Osten nach
Europa. Um ihre Handelstätigkeit zu unterstützen, boten die Könige den
jüdischen Händlern sogar Reiseerleichterungen (z. B. Zollnachlässe) und
günstige Bedingungen, wenn sie sich niederlassen wollten. Später jedoch
befassten sich die Juden im romanischen Westen mit Kreditgeschäften, was
ihnen den Hass und die Verachtung der Christen, die Verurteilung durch die
Kirche und insbesondere im Norden die Gewalttätigkeiten des Pöbels eintrug –
denn der überwiegende Teil der Juden verdiente auf diese Weise seinen
Lebensunterhalt.
Die neuesten Forschungen des israelischen Historikers
Michael Toch stellen die These von der jüdischen Vorherrschaft im Handel
(und im Sklavenhandel) im Europa des Frühmittelalters in Frage. Dennoch
können sie den wahren Kern hinter dem mittelalterlichen – und modernen –
Stereotyp vom jüdischen Händler nicht zum Verschwinden bringen,
gleichgültig, ob diese Bilder auf einem antijüdischen Vorurteil oder auf
übertriebenen Thesen der wissenschaftlichen Literatur beruhen. Das
Wichtigste ist jedoch, dass dieser Revisionismus den entscheidenden Kontrast
im Vergleich zur muslimischen Welt gar nicht berührt: hier sorgte die
ökonomische Rolle der Juden eher für ihre Sicherheit als in der christlichen
Welt, wo ihnen aus dieser Rolle eine Bedrohung erwuchs. Andere Versuche,
ökonomische Gründe für den muslimischen „Antisemitismus" im Mittelalter zu
finden, waren bisher wenig überzeugend. Das liegt daran, dass die Juden im
Islam – anders als ihre Glaubensbrüder in der römisch-katholischen
Christenheit – in das wirtschaftliche Leben der Gesellschaft gut integriert
waren.
Dass eine ökonomische Diskriminierung im Wesentlichen
ausblieb, insbesondere während der klassischen Jahrhunderte (7- 12. Jh.),
ist ziemlich beeindruckend und ruft nach einer Erklärung. Zunächst
begegneten die islamischen Schriften und Traditionen im Unterschied zur
frühen christlichen Literatur dem Handel mit Wohlwollen, und diese positive
Haltung übertrug sich auch auf das islamische Gesetz, das in den
Jahrhunderten nach der Gründung der neuen Religion langsam Gestalt annahm.
Profitables Wirtschaften war mit dem islamischen Gesetz und der Theologie zu
vereinbaren, was zum „Aufstieg einer Bourgeoisie des Nahen Ostens im frühen
Islam" (S. D. Goitein) entscheidend beitrug – Jahrhunderte vor einer
vergleichbaren Entwicklung in Europa. Der von lebhaftem Unternehmergeist
getragene Handel des frühen Islam war zum großen Teil ein Ergebnis der
Schaffung eines riesigen Reiches mit vielen Ressourcen und einem ungeheuren
Bedarf an Gütern. Im 9. Jahrhundert erntete die islamische Welt – ihrem
Wesen nach eine urbane Zivilisation, denn nur in einer Stadt kann man den
grundlegendsten religiösen Verpflichtungen des Islam wie etwa dem
wöchentlichen Gemeindegebet nachkommen – die Wohltaten eines blühenden
Handels; und man bediente sich dazu im Kreditwesen äußerst ausgefeilter
Instrumente, um Kapital in Profit zu verwandeln. Der Westen blieb bis zum
Hochmittelalter von solchen Entwicklungen unberührt.
Man kann die Bedeutung der positiven islamischen Haltung
zum Stadtleben und zum Handel für die überwiegend urbanen Juden gar nicht
genug hervorheben. Hier genossen sie einen höheren Status und mehr
Integration als in Nordeuropa, wo die urbanen jüdischen Händler vom
Vorurteil gegen den Handel und das Stadtleben auf die Position des
marginalen Fremden verbannt wurden. Auch aus anderen wichtigen Gründen wurde
reisenden jüdischen Kaufleuten in der islamischen Welt nicht das Stigma des
„Anderen" aufgedrückt, unter dem die Juden in Nordeuropa litten. Der Nahe
Osten war ihre Heimat – sie waren keine Einwanderer wie im romanischen
Westen – und zum überwiegenden Teil physiognomisch nicht von ihren
arabisch-muslimischen Nachbarn zu unterscheiden.
Hier zeigt sich auch der ursprüngliche Sinn hinter der
Kleiderordnung und anderen Unterscheidungssymbolen des islamischen
dhimmi-Gesetzes. Darüber hinaus war ihre geographische Bewegung ein
wesentlicher Bestandteil eines allgemeinen Phänomens – die muslimischen (und
orientalischen christlichen) Händler reisten mit ihren Waren über weite
Strecken auf der Suche nach finanziellem Gewinn, oft auch in Partnerschaft
mit den Juden. Die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Juden und
Nicht-Juden im alltäglichen Wirtschaftsleben findet ihr Echo quer durch alle
jüdischen Quellen für diesen Zeitraum. Die relativ entspannte Atmosphäre in
den interreligiösen Beziehungen auf den islamischen Märkten schaffte
Vertrauen und Bindungen, die die allzeit präsente religiöse Geringschätzung
gegenüber Juden als Ungläubige milderte.
Der Platz der Juden in der gesellschaftlichen
Ordnung
Im Laufe des 11. Jahrhunderts – mit dem aufkommenden Geist
der Kreuzzüge und der Vertiefung christlichen Bewusstseins und christlicher
Frömmigkeit in der breiten Bevölkerung – wurden den Juden die günstigen
Lebensbedingungen allmählich entzogen. Diese Bedingungen hatten für ihre
Sicherheit und ihren Wohlstand im frühen Mittelalter gesorgt. Langsam, aber
sicher wurden die Juden aus der Hierarchie der christlichen
Gesellschaftsordnung ausgeschlossen. Im 13. Jahrhundert empfanden die
Christen die jüdische Bevölkerung als Bedrohung und Schwächung ihrer
Gesellschaft. Der Universalismus eines umfassenden Ganzen, in dem die Juden
einen Platz hatten – wie gering auch immer – , erfuhr eine Abschwächung
„durch einen christlichen Partikularismus, durch primitive
Gruppensolidarität und eine Politik der Apartheid in Bezug auf
Außenseitergruppen" (Jacques Le Goff). In keinem der komplexen Modelle, die
die Christenheit in Stände unterteilte und die die Gesellschaftsordnung seit
Anfang des 13. Jahrhunderts zunehmend prägte, war Platz für die Juden. Der
Ausschluss war sozusagen die „Endlösung" für die Juden im Katholizismus des
Mittelalters; sie wurde auf drei Arten umgesetzt, die alle mit Gewalt
verbunden waren: Zwangskonversion, Massaker und – das war die
wirkungsvollste Methode – die Vertreibung der meisten westeuropäischen Juden
aus christlichen Landen. Man kann den Pakt des Omar als Dokument des
Ausschlusses der dhimmis lesen, denn er fordert von ihnen Unterscheidbarkeit
von den Muslimen durch spezielle Kleidung und anderes Verhalten. In
Wirklichkeit ging es in dem Pakt nicht um den Ausschluss der dhimmis,
sondern um die Bekräftigung einer hierarchischen Unterscheidung zwischen
Muslimen und Nicht-Muslimen innerhalb einer einzigen, umfassenden
Gesellschaftsordnung. Nicht-Muslime sollen „an ihrem Platz" bleiben und
alles unterlassen, insbesondere jede religiöse Handlung, die den überlegenen
Status der Muslime oder des Islam in Frage stellen könnte. Also bekleiden
die dhimmis einen bestimmten Rang in der islamischen Gesellschaft – einen
geringen zwar, aber immerhin einen Rang. Und obwohl marginal, besetzten die
jüdischen (und christlichen) dhimmis eine anerkannte und gesicherte Nische
innerhalb der Hierarchie der islamischen Gesellschaftsordnung. Sie hatten
"eine Art Bürgerrechte" (Bernard Lewis), wenn auch als Bürger zweiter
Klasse.
Für die verhältnismäßig gute Position der jüdischen
Minderheit im mittelalterlichen Islam bieten sich weitere Erklärungen an,
wenn man das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen durch die Brille der
Ethnizität betrachtet. Historisch gesehen ist der mittelalterliche Orient
viel stärker durch ethnische (und religiöse) Vielfalt gekennzeichnet als der
mittelalterliche Okzident. Araber, Perser, Türken, Kurden, Berber, Juden,
Christen, Anhänger des Zarathustra und viele andere bevölkerten die soziale
Landschaft; sie bildeten ein Mosaik, das der Gesellschaft eine menschliche
und kulturelle Textur mit vielen Schattierungen bescherte. Darüber hinaus
war auch die Gruppe der dhimmi heterogen und in sich differenziert, mit
zwei, an manchen Orten mit drei Religionen, die neben einander
existierten.Diese anthropologischen und soziologischen Einsichten erklären,
was das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen im Nahen Osten des
Mittelalters „tolerant" erscheinen ließ. Gleichzeitig beleuchten sie die
fehlende Toleranz und das Anwachsen antijüdischer Gewalt im Christentum.
Denn seit dem 12. Jahrhundert wurde Europa von einer Haltung der
Ausschließung geprägt, die aus der religiösen und proto-nationalen
Homogenität im mittelalterlichen Katholizismus entsprang; es mangelte der
nordeuropäischen Christenheit an ethnischer Ausdifferenzierung. Das
verschärfte die antijüdischen Ressentiments und führte zu einem Anstieg
antijüdischer Gewalt. In der islamischen Welt wurde die jüdische Minderheit
durch die gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Einbettung vor dem
totalen Ausschluss aus der islamischen Gesellschaftsordnung geschützt: man
nahm die Juden nicht als Fremde wahr. Das bewahrte sie vor der schrecklichen
Gewalt, der die Juden vor allem im christlichen Nordeuropa während des Hoch-
und Spätmittelalters ausgesetzt waren.
Die Erinnerung an die Verfolgung
Es ist keine Überraschung, dass die Juden im islamischen
Mittelalter nur sehr wenige muslimische Gewaltakte, geschweige denn
Antisemitismus in ihrem kollektiven Gedächtnis bewahrten, ganz im Gegensatz
zu ihren Brüdern in christlichen Landen, die ihre Geschichte als eine lange
Kette des Leidens konstruierten. Nur eine Episode blieb im kollektiven
Gedächtnis haften – die Massaker und Zwangskonversionen in Nordafrika und
Spanien während des 12. Jahrhunderts. Sie gingen von der fanatischen Sekte
der Almohaden aus und richteten sich gegen Juden, Christen und sogar
nichtkonforme Muslime. Es war diese Verfolgung, die die Familie des
Maimonides aus Spanien hinaus ins Exil trieb. Zu Zeiten des ersten
Kreuzzugs, insbesondere nach den Judenmassakern im Rheinland und an anderen
Orten in Europa verfassten aschkenasische Juden unzählige Gedichte,
Klagelieder und Chroniken, die von Verfolgung und Märtyrertod handelten.
Einige dieser Werke wurden in die Liturgie aufgenommen und werden bis heute
in den Synagogen rezitiert. Unter den Tausenden von hebräischen Gedichten,
die während der klassischen islamischen Jahrhunderte entstanden, kenne ich
dagegen nur ein Gedicht aus dem Mittelalter, das die Verfolgung in einem
arabischen Land beklagt– ein Klagegesang über die Vernichtung mehrerer
jüdischer Gemeinden in Nordafrika und Spanien unter dem Terrorregime der
Almohaden. Alle anderen hebräischen Elegien der Verfolgung, die von Dichtern
im muslimischen Spanien geschrieben wurde, beziehen sich auf Gewaltakte von
Christen gegen Juden, nicht von Muslimen. Im Jahre 1066 wurde ein jüdischer
Wesir im Berber-Königreich Granada (Spanien) durch einen Attentäter
ermordet, danach wurde die gesamte jüdische Gemeinde von muslimischem Pöbel
ausradiert. Oft wird dieser Vorfall herangezogen, um das antisemitische
Wesen der islamischen Gesellschaft im Mittelalter zu belegen. Es handelte
sich dabei aber nur um eine Ausnahme, die die Regel bestätigt:
bezeichnenderweise fehlt den zwei Elegien zum Tod des Wesirs aus der Feder
eines zeitgenössischen hebräischen Dichters jeder Hinweis auf den Umstand,
dass der Wesir das Opfer eines antijüdischen, politischen Attentats geworden
war, und ebenso gibt es keinen Hinweis auf das darauf folgende Pogrom.
Interreligiöse Utopie?
Betrachtet man also das hier entworfene Bild des jüdischen
Lebens im mittelalterlichen Islam – warum sollte man das Kind nicht beim
Namen nennen und den Ausdruck "interreligiöse Utopie" beibehalten? Zunächst
waren die Juden im Islam zu gewissen Zeiten Verfolgungen ausgesetzt, obwohl
sie in dieser Hinsicht unbehelligter und weniger in Angst als ihre
europäischen jüdischen Brüder lebten, die glaubten, die Christenheit wolle
sie vernichten oder vertreiben, oder zumindest ihre religiösen und anderen
Freiheiten stark einschränken. Die Juden im Islam hatten – sogar in den
klassischen Jahrhunderten, der Zeit größter Sicherheit und wirtschaftlicher
wie kultureller Blüte – das Gefühl, ihre Existenz im Exil zu fristen, in der
galut. Seit biblischen Zeiten mögen sie die Schuld dafür bei sich selbst
gesucht haben, weil sie die galut als Strafe Gottes für ihre Sünden
verstanden. Doch sie spürten die Qual des Exils, und diese Realität kehrte
mit jeder Phase der Verfolgung wieder. Dennoch war die Verfolgung
vergleichsweise gering und vereinzelt. Und in der galut von Ishmael, anders
als in der galut von Edom – Eponym für die symbolischen Vorgänger der
Christen im Midrasch – waren die Juden nicht so weitgehend ausgeschlossen,
was das Exil etwas erträglicher erscheinen ließ. Das soll nicht heißen, dass
sich die Juden im Islam mit Unterdrückung abfanden oder sie gleichmütig
hinnahmen. Ganz im Gegenteil. Aber sie erwarteten nicht, als Gleiche
behandelt zu werden (anders als die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts).
Sie glaubten, dass man sie schützen würde, solange sie sich nur an die
Restriktionen hielten, die das muslimische Gesetz ihnen auferlegte. Das
bewahrheitete sich, wenn Juden Regeln übertraten, z. B. prachtvolle Kleidung
trugen oder Regierungsposten annahmen, in denen sie Macht über Muslime
ausübten. Eigentlich bestraften die islamischen Behörden sie dafür, dass sie
eine bilaterale Vereinbarung nicht einhielten, den Pakt des Omar.
Paradoxerweise bestätigte die sporadische Unterdrückung durch die Regierung
die grundsätzliche Stabilität des dhimma-Systems; daher hatten die Juden
weniger Angst vor einer unberechenbaren Verfolgung irrationalen Gepräges.
Und das genau ist es, was neben der ökonomischen Integration dazu führte,
dass sich die Juden der Teilhabe an der Kultur ihrer arabisch-muslimischen
Nachbarn öffnen konnten – in der bemerkenswertesten Phase jüdischer
Geschichte vor der europäischen Renaissance.
Epilog
Es ist bedauerlich, dass der Islam heute einige
Charakteristika des europäischen Antisemitismus angenommen hat. Die ersten,
die den Antisemitismus christlicher Ausprägung im Nahen Osten verbreitet
haben, waren die christlichen Araber im 19. Jahrhundert. Dieser Judenhass
wurde später islamisiert und unterfüttert mit judenfeindlichen Passagen aus
islamischen Schriften, die doch in den Jahrhunderten davor kaum Einfluss auf
die Behandlung der Juden gehabt hatten. Und es ist mehr als bedauerlich,
dass der sogenannte islamische "Fundamentalismus" den Staat Israel zu einem
seiner wichtigsten Angriffsziele erkoren hat. Was wir heute "Islamismus"
oder "radikalen Islam" nennen – die Rückkehr zu den Grundlagen des Islam –,
hat seine Wut seit den Anfängen im 18. Jahrhundert gegen die scheinbar
ungläubigen, westlich orientierten muslimischen Regierungen und Herrscher
gerichtet, nicht auf die Juden.
Den Juden jedoch erscheint dies wie eine Kopie des
traditionellen europäischen Judenhasses. Ein ausgewogeneres Verständnis des
authentischen Islam der Vergangenheit, seiner eher duldsamen Haltung und
Politik gegenüber Juden und anderen nicht-muslimischen Minderheiten wird
dadurch erschwert. Viele Juden nicht nur in Israel, sondern auch in der
Diaspora glauben jetzt, dass der Antisemitismus ein Geburtsfehler des Islam
ist, dass die Muslime seit den Zeiten Mohammeds Juden gehasst und verfolgt
haben, und dass der Islam der ewige Feind des jüdischen Volkes ist. Viele –
aber nicht alle – Juden aus arabischen Ländern, die jetzt in Israel leben,
haben die Erinnerung an die islamische Akzeptanz und an eine Zeit der
Harmonie zwischen Muslimen und Juden in der Vergangenheit durch eine
vehement anti-islamische Haltung ersetzt. Gleichgültig, ob sie im Nahen
Osten, in Europa oder Amerika unternommen wird – jede Anstrengung, um
Moslems und Juden (einschließlich der Israelis) zur Erkundung ihrer
gemeinsamen Vergangenheit zusammen zu bringen, ist nur zu begrüßen. Ein
ausgewogeneres Bild der jüdisch-muslimischen Beziehungen im Mittelalter ist
nicht zuletzt auch ein Beitrag zur Verständigung. Wie Wolf Lepenies und
Navid Kermani jüngst hervorgehoben haben, kann Deutschland hier eine
wichtige Rolle spielen, sei es durch die Programme, die es schon gibt (wie
etwa am Wissenschaftskolleg zu Berlin und anderen Institutionen), oder mit
anderen Projekten, die erst noch entstehen sollen.
Wenn der Konflikt zwischen Juden und Arabern einmal
wirklich befriedet ist, wird es hoffentlich wieder möglich sein, die
gemeinsame Vergangenheit sichtbar zu machen – nicht als interreligiöse
Utopie, sondern als eine Zeit, in der jüdisches Leben in die islamische
Gesellschaft eingebettet und im Wesentlichen vor den antisemitischen
Exzessen geschützt war, denen die Juden in christlichen Ländern ausgesetzt
waren: ein Leben, in dem Juden und Moslems eine schöpferische Koexistenz
geteilt haben.
Mark R. Cohen ist Professor für Nahost-Studien und
jüdische Geschichte an der Princeton University (USA) und war Fellow am
Wissenschaftskolleg zu Berlin 2002-2003. Sein Buch Under Crescent and Cross:
The Jews in the Middle Ages wurde ins Hebräische und ins Türkische
übersetzt. Die Übersetzung dieses Artikels wurde von Sophia Pick
(Wissenschaftskolleg zu Berlin) besorgt.
Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, Samstag 25. Oktober 2003
Text in English
hagalil.com
04-11-2003 |