Filmtipps für haGalil-Leser:
Viennale 2003 - Urlaub im Kino
Von Erika Wantoch
Es soll ja Leute geben, die ihren Urlaub im Kino
verbringen. Wiener reisen in diesem Monat besonders billig, weit und extra
bequem, wenn sie ihr Quartier im Metro-, Gartenbau-, Stadtkino sowie in den
restaurierten Filmsälen der Urania und des Österreichischen Filmmuseums
aufschlagen: Bis zum 29. Oktober zeigt die Viennale im Hauptprogramm 63
Spielfilme, 39 Dokumentarfilme und 39 Kurzfilme der jüngsten Zeit,
ausgewählt vom Festivalleiter Hans Hurch und seinen Mitarbeitern aus
mehreren hundert, darunter auch bereits aus jenen, die erst Ende
August/Anfang September bei den Filmfestspielen von Venedig präsentiert
worden sind.
Die Filme stammen aus 44 Ländern und allen Kontinenten bis
auf Australien. Viele werden zweimal gespielt, und eine Reihe davon
untertags - dies als Hinweis für Studenten, denen die Hörsäle auf den
Universitäten zu voll sind. Weil die populärsten Filme sehr rasch
ausverkauft waren, verlängert sich die Viennale um einen Tag - 17 Filme
werden am 30.Oktober wiederholt. Trost für jene, die auch an diesem Tag leer
ausgehen: Die meisten der festival-geeichten Kunstwerke kommen noch heuer
ins normale Kinoprogramm.
Die Viennale dient aber nicht nur dem Bedürfnis des
Kinopublikums, aktuelle "Weltlinien" (Hurch) mitzuvollziehen, sondern
bedient auch Sonderinteressen: Tradition sind neben dem Hauptprogramm die
Spezialprogramme - heuer u.a. neun Filme von bzw. mit der kontroversiellen
Kinofigur Vincent Gallo, dessen neuer Film "The Brown Bunny" als der
"schlechteste Film in der Geschichte von Cannes" charakterisiert worden ist
- , weiters die Tributes, von denen "Tribute to Emile de Antonio", dem
unabhängigen amerikanischen Polit-Dokumentaristen der frühen 60er- bis zu
den späten 80erjahren (umfassende Werkschau mit insgesamt 14 Filmen)
gewidmet ist. Dies mag jenes Publikum am meisten interessieren, das sich
sorgenvoll-nachdenklich mit den USA befaßt: De Antonios Filme sind ein
beispielloses Patchwork aus amerikanischer Geschichte und Kultur - radikale
Interventionen und ironischer Kommentar, spekulative Kompilation und scharfe
Analyse zugleich.
Schließlich, gemeinsam mit dem Österreichischen
Filmmuseum, eine Retrospektive der wichtigsten Filme, die die japanische
Produktionsgesellschaft "Art Theatre Guild" zwischen Ende der 60er- und
Anfang der 80erjahre produzierte und verlieh. Darunter sind zahlreiche
Meisterwerke; allesamt sind sie Beispiele für den unabhängigen Autorenfilm
und Ausgangspunkt des japanischen unabhängigen Kinos von heute.
Zurück nach Europa. Weil haGalil-lesende Freunde des
jüdischen Kinos auf ein Revival der traditionellen Wiener Jüdischen
Filmfestwoche bis mindestens November 2004 warten müssen - Österreichs
christlichsozialer Kultur-Staatssekretär Franz Morak verweigert derzeit
nämlich die Finanzierung -, stillen sie ihr spezielles Interesse am besten
mit den folgenden Dokumentar- und Kurzfilmen aus dem Viennale-Programm:
Die
Verwandlung des guten Nachbarn (Deutschland 2002, 85 Minuten). Peter
Nestler, den die Viennale 2001 mit einer umfassenden Werkschau präsentierte,
wählte als Protagonisten dieses Films den 1928 im polnischen Izbica als Sohn
eines jüdischen Geschäftsmannes zur Welt gekommenen Thomas "Toivi" Blatt. Er
wurde mit 15 Jahren in das Todeslager Sobibor deportiert und hat es
überlebt. Während Claude Lanczmann sich vor wenigen Jahren mit dem Aufstand
hunderter Häftlinge gegen ihre Bewacher befasste, geht Nestler der Frage
nach, wieso von mehr als 500 Geflohenen nur 53 Männer, Frauen und Kinder das
Kriegsende erlebten - wieso also ein Bauer den Verfolgten half, während
schon dessen Nachbar sie denunzierte.
(18.10., 20:30, Stadtkino. 19.10., 13:00, Stadtkino)
Das
wirst Du nie verstehen (Österreich 2003, 52 Minuten). "In meinem Film
geht es um drei Frauen, die dem, was in der Geschichtswissenschaft als
Täter- und Opfergeneration bezeichnet wird, angehören. Mit ihren
unterschiedlichen Lebensgeschichten, unterschiedlichen Erzählungen und
Erinnerungen leben sie alle in einer Familie, in meiner Familie", sagt Anja
Salomonowitz, die 26jährige Autorin und Regisseurin über ihr Portrait
einander widersprechender Erinnerungen und Erfahrungen. Sie hat ein enges
Verhältnis zu diesen drei Frauen - zur Großmutter, die behauptet, sich an
die NS-Zeit nicht erinnern zu können, zur Großtante, die Auschwitz überlebt
hat und außerstande ist, davon zu sprechen, und zum Kindermädchen aus
sozialdemokratischem Haus. Und sie legt ihre familiäre Verbundenheit ebenso
offen wie die Abwehr der Interviewten, das Verleugnen und das Schweigen.
(19.10., 21:00, Metro. 20.10., 16:00, Urania)
Andri
1924-1944 (Österreich 2003; 19 Minuten). Der Viennale-Text zu diesem
kurzen Erstlingswerk der 23jährigen Kärntner Slowenin Andrina Mracnikar
liest sich wie eine Variation zum Film von Anja Salomonowitz - Andri, der
Großonkel der Filmautorin, war ein von der Gestapo gesuchter Partisan und
wurde hingerichtet. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sammelt Mracnikar
die Puzzlesteine nicht, um ein historisch vollständiges Bild zu
konstruieren, sondern um im arrangiertern Ineinandergreifen von
Motivumrissen und Leerrämen den Prozeß der Geschichtsbildung zu entfalten.
(19.10., 18:00, Stadtkino)
And
then...
(USA 2002, 6 Minuten) Der Filmautor Abraham Ravett, aufgewachsen in Israel
und seit 1955 in den Vereinigten Staaten, befaßt sich mit dem Phänomen
Erinnerung auf experimentelle Weise: Bilder blitzen auf, sind verfärbt,
beschädigt, zerkratzt - Bruchstücke, die sich angesammelt haben und
rätselhaft bleiben.(19.10., 18:00, Stadtkino)
Mutter
(Schweiz 2002; 100 Minuten). Und noch ein Beispiel für politischen
biographischen Film - der 1950 in Budapest geborene Miklos Gimes erzählt das
bewegte Leben seiner 80jährigen jüdischen Mutter Alice. Als junge Frau war
sie Auschwitz entkommen und hatte sich dann als Kommunistin für den Aufbau
einer neuen, menschlicheren Gesellschaft in Ungarn engagiert. Doch 1956
stand ihr Mann auf seiten der aufständischen Opposition. Er wurde
hingerichtet; Alice flüchtete mit dem 6jährigen Sohn in die Schweiz. Die
innere Ruhe hat sie auch heute noch nicht: Sie fragt sich noch immer, wie
hoch der Preis dafür ist, im Leben die richtige Seite zu finden. (21.10.,
13:00, Stadtkino. 23.10., 21:00, Metro)
Schwarz
auf Weiss (Österreich 2003, 5 Minuten) "Klub zwei", ein
steirisch-deutsches Künstlerduo, fragt in seinem kurzen Video, was man wie
und wie man die Shoa erinnert - und zwar mittels radikalen Entzugs jener
Bilder, von denen im Off die Rede ist. Zu sehen sind nur Texttafeln auf
Schwarz und Weiß. (23.10., 20:30 Stadtkino. 25.10., 23:00 Stadtkino)
Strange
Fruit (USA 2002. 57 Minuten). Der Filmtitel folgt dem Titel eines
Protestliedes aus den 30erjahren über die Lynchjustiz an Farbigen in den
amerikanischen Südstaaten. Er wurde weltberühmt in der Interpretation Billie
Holidays aus 1939, jedoch kaum jemand kennt den eigentlichen Autor: Worte
und Musik sind vom russisch-jüdischen Immigranten Abel Meeropol, der seine
Kompositionen unter dem Namen Lewis Allan veröffentlicht hat. Mit der
Geschichte dieses Songs widerspiegelt der New Yorker Filmemacher und
Videokünstler Joel Katz das Leben von Afroamerikanern, jüdischen
Immigranten, antikommunistischen Beamten, radikal linken Organisatoren,
Musikverlagen und Jazzmusikern. (24.10., 18:00 Gartenbaukino. 25.10., 13:30
Urania).
Capturing
the Friedmans (USA 2003, 107 Minuten). Regisseur Andrew Jarecki
rekapituliert einen 15 Jahre zurückliegenden Kriminalfall auf Long Island,
der grundlegende Fragen zu Gerechtigkeit, Familie, Gemeinschaft und Wahrheit
aufwirft: Ein pensionierter Lehrer und dreifacher Familienvater wird von
Schülern des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt. (26.10., 21:30 Urania. 27.10.,
18:00, Gartenbaukino)
Tickets unter: 0800 664 003
hagalil.com
17-10-2003 |