Importware Judenhass:
Antisemitismus und Antizionismus - Eine Begriffsklärung
Von Doron Rabinovici
Frankfurter Rundschau 26.08.2003
Ab wann darf ein Satz, der sich gegen die Juden
schlechthin richtet, antisemitisch genannt werden? In Ted Honderichs Buch
Nach dem Terror ist zu lesen: "Als Hauptopfer von Rassismus in der
Geschichte scheinen die Juden nun von ihren Peinigern gelernt zu haben. So
wie die Dinge liegen, wurde der Zionismus zu Recht von den Vereinten
Nationen als rassistisch verurteilt, gleichgültig wie man dies weiter
analysieren möchte." In seinem offenen Brief zitierte Micha Brumlik bloß den
zweiten Satz, der sich gegen den Zionismus richtet (FR v. 5.8.2003). Zudem
prangerte er an, dass Honderich die palästinensischen Selbstmordattentate
moralisch rechtfertigte. Von antisemitischem Antizionismus sprach Brumlik.
Jürgen Habermas hingegen, der das Buch dem Suhrkamp Verlag
empfohlen hatte, stolperte über den ersten Teil des Zitats, gab allein ihn
wörtlich wieder, gestand dabei ein, es fänden sich bei Honderich "auch
verallgemeinernde Sätze, die mich bei der Lektüre aufstöhnen lassen" (FR v.
6.8.2003). Im Text selbst sähe er aber für den Vorwurf des Antisemitismus
keine Bestätigung, wiewohl er Honderichs Apologie des palästinensischen
Terrorismus ablehnt. Zum Diktum von den Juden als gelehrigen Schülern ihrer
einstigen Peiniger meinte Habermas bloß: "Solche Sätze lassen sich, wenn man
sie ohne hermeneutische Nachsicht aus dem Zusammenhang der Argumente löst,
auch gegen die Intention eines Autors immer für antisemitische Zwecke
verwenden."
Wie viel Nachsicht darf üben, wer nicht nachlässig sein
will? Lassen sich solche Sätze bloß von Bösmeinenden für antisemitische
Zwecke verwenden? Macht nicht eben der Zusammenhang der Argumente klar, wie
sehr der Satz selbst, wenn auch womöglich gegen die Intention des Autors, im
antisemitischen Diskurs fußt? Habermas erklärte, beim ersten Lesen habe er
an die Stimme des britischen Wissenschaftlers gedacht; dieser wende sich an
ein anderes Publikum. Brumliks Intervention habe ihn aber an die deutsche
Rezeption des Buches denken lassen. Liest sich die Rechtfertigung von Morden
in Englisch besser? Nein, und auch deshalb war die Entscheidung von
Suhrkamp, das Buch aufzugeben, verantwortungsvoll.
Von Empfindlichkeiten sprach Habermas, von "Befürchtungen
eines offenbar größeren Teiles unserer jüdischen Bevölkerung". Solche
fürsorgliche Schonung der Juden, die im Übrigen ihrer Pathologisierung
gleichkommt, verkennt, dass es hier nicht besonderer Einfühlsamkeit bedarf,
sondern eines klaren Blicks.
Es ist intellektuell blamabel, die damalige UN-Resolution
gegen den Zionismus zu rechtfertigen. Wer sie liest, wird feststellen, dass
in ihr das Leid der Juden oder der Nationalsozialismus überhaupt nicht
erwähnt werden. Der Zionismus entstand aber nicht, um die Unterdrückung
anderer zu rechtfertigen, sondern als Antwort auf Antisemitismus und auf
Massenpogrome. Die Legitimationsideologie des israelischen Staates gründet
nicht auf biologistischen Erklärungen gegen die arabische Bevölkerung. Der
Konflikt wurzelt in einem Interessengegensatz: Zwei Nationalbewegungen
beanspruchen ein Land.
Umkehr von Tätern und Opfern
Es ist deshalb zumindest unsinnig und plump
antizionistisch, wenn auch nicht unbedingt antisemitisch, zu behaupten,
Zionismus sei Rassismus. Erst im Textfluss ergibt sich aber das ganze Bild.
Brumlik sprach zu Recht von antisemitischem Antizionismus, da unmittelbar
vor jenem Diktum über den Zionismus Honderich sich gegen die Juden
schlechthin wendet. Nicht bloß die Zionisten, nicht eine Fraktion, nicht die
israelische Gesellschaft, nein, die Juden, alle, hätten von ihren Peinigern
gelernt. Ohne Zweifel beinhaltet dieser Gedanke eine Umkehr von Täter und
Opfer, eine Verharmlosung der NS-Gräuel und eine Verhöhnung der Ermordeten
ebenso wie jener, die der Vernichtung entkamen. Was aber hier ausgedrückt
wird, ist auf einer viel banaleren Ebene rassistisch. Eine Gruppe, die
aufgrund ihrer Herkunft definiert ist, wird mit jenen verglichen, die eben
nicht durch Abstammung, sondern durch Untaten zu Verbrechern wurden.
Kaum einer will noch Antisemit sein. Das heutige
Ressentiment spricht selten von der Rasse oder von einem biologischen Wesen
des Juden. Der neue Antisemitismus ist schwer zu fassen, weil dem offenen
Judenhass seit Auschwitz der Leichengeruch von Millionen anhaftet. So gibt
sich, wer gegen Juden redet, kritisch, verwendet politische Begriffe, wenn
auch im ethnischen Sinn, und obgleich Vorwürfe gegen Israel nicht
antisemitisch motiviert sein müssen, sind sie es nicht selten. Erkennbar
wird diese Leidenschaft, sobald das Jüdische und die Juden schlechthin
angegriffen werden. Der klassische Antizionismus, die Ablehnung der Ideen
Herzls vor hundert Jahren, hatte mit dem klassischen Antisemitismus wenig zu
tun. Mittlerweile ist nicht mehr klar, was genau unter Antizionismus gemeint
ist. Doch seit Stalins Ärzteprozessen ist die Chiffre Zionisten längst zu
einem Schlagwort und zu einem Code verkommen, mit dem gegen alle Juden
gehetzt werden kann.
Honderichs moralischer Freispruch betrifft allein die
palästinensischen Terroristen, nicht irische, kurdische oder tamilische
Anschläge. Ist es wirklich Zufall, wenn einer den internationalen
Terrorismus überall verurteilt, aber just denjenigen gegen Israelis
gutheißt? Habermas stellt eindeutig fest, dass er Honderichs Beurteilung des
palästinensischen Terrorismus für falsch hält. Er scheint sich aber nicht an
der Annahme zu stoßen, dass der Konflikt um Israel eine der "Hauptursachen"
für den internationalen Terrorismus sei. Nach seinem Aufenthalt in den USA
habe er "aufgeatmet, als das Manuskript des angesehenen englischen Kollegen
eine ganz andere Sicht zur Geltung brachte".
Honderich sucht nach "unserem" Anteil am islamistischen
Terrorismus und schreibt: "Das Beste, was uns allen passieren könnte, wäre,
aufzuwachen, den schrecklichen moralischen Weckruf vom 11. September zu
hören und damit anzufangen, einige schlechte Leben zu ändern. Nur das und
nichts weiter." Mit der gleichen Logik hätte, ohne beides gleichsetzen zu
wollen, einer vorschlagen können, 1939 nach dem Überfall Hitlers auf Polen
damit anzufangen, die sozialen Bedingungen in Deutschland zu verbessern und
den Versailler Friedensvertrag neu zu diskutieren. "Nur das und nichts
weiter."
Es ist üblich geworden, auf die simple Darstellung des
Terrorismus durch die amerikanische Regierung mit ebenso verkürzten
Erklärungen zu antworten. Der radikale Islamismus ziehe bloß die falschen
Konsequenzen aus jener Gesellschaftskritik, die auch die Linke seit
Jahrzehnten formuliere. Doch die Fehler westlicher Politik mögen zwar die
Hinwendung zum radikalen Islamismus anheizen, sie allein erklären nicht die
Anziehungskraft dieser Ideologie. Wenn es nur um das Elend der südlichen
Hemisphäre ginge, weshalb entstammten die Attentäter des 11. September nicht
ärmeren Ländern, die nicht muslimisch sind; etwa Burkina Faso oder
Kolumbien? Warum sind viele von ihnen Söhne reicher Familien?
Die islamistische Feinderklärung
Die radikalen Islamisten hetzen nicht gegen den
Neoliberalismus, sondern gegen das Libertäre. Der amerikanische Präsident
ist für sie zwar ein Kriegsgegner, doch jede Frau, die selbstbestimmt leben
will, ist für sie ein gleichsam natürlicher Feind. Jeder emanzipierte,
aufgeklärte oder säkulare Muslim gilt ihnen als Knecht Satans. Der
Islamismus ist das Phänomen einer Gesellschaft, die sich den Verlockungen
des Westens nicht entziehen kann, die Segnungen des Fortschritts ersehnt,
doch die feudalen Strukturen, die Privilegien der Oligarchien und die
Vormacht des Patriarchats nicht gefährden will.
Palästinensische Islamisten kämpfen gegen Israel um das
Land. Aber für einen Islamisten in Afghanistan, Iran oder Marokko ist der
Judenstaat keine Ursache, sich dem Terror zuzuwenden. Die islamistische Rage
beschränkt sich nicht auf Israel. Der europäische Judenhass wurde in den
Orient importiert, "der Jude" zum Synonym der Moderne. Für den
internationalen Terrorismus ist Israel kein Hauptgrund, sondern nur ein
populistisches Feindbild.
Wer islamistische Schriften liest, stellt fest, dass nicht
bloß die Politik Israels, vielmehr seine schiere Existenz verworfen wird.
Gewiss, die Regierung in Jerusalem trägt zur Verschärfung bei. Die
Siedlungspolitik steht jedem Kompromiss im Wege, die Okkupation verstößt
gegen Menschenrechte. Dennoch streben Hamas und Islamic Jihad nicht das Ende
der Besatzung und eine friedliche Koexistenz zweier Staaten an. Schlimmer
als der Krieg mit dem Judenstaat wäre für die islamistischen Fraktionen eine
Einigung. Daher setzten die ersten Selbstmordanschläge 1994 ein, kurz
nachdem der Friedensprozess begonnen worden war. Die Attentäter suchen meist
nicht Siedlungen im Westjordanland auf, sondern Städte jenseits der grünen
Linie von 1967. Die Sprengsätze werden insbesondere vor Diskotheken,
Strandbars und Pizzerias gezündet, an Treffpunkten aufgeschlossener
Jugendkultur und liberaler Urbanität. Gekämpft wird nicht für einen
palästinensischen Staat neben Israel, sondern für einen muslimisch
theokratischen an seiner statt.
Honderichs Schlussfolgerungen, die Attentate gegen
Israelis seien moralisch gerechtfertigt, werden von vielen abgelehnt, doch
seine falschen Prämissen über die Hauptgründe des internationalen
Terrorismus, seine abstrusen Erläuterungen zum Nahostkonflikt stoßen auf
breite Zustimmung. Jürgen Habermas schreibt: "Wer die Politik einer
abwählbaren Regierung für falsch - und im Falle ihrer Fortsetzung für
verhängnisvoll - hält, wird schnell des Antiamerikanismus verdächtigt. Und
dieser Verdacht führt über die Verbindung von Bush mit Scharon schnell zu
einem weiteren Verdacht." Das Gegenteil ist wahr: Wer vor Antiamerikanismus
warnt, wird sogleich unter Verdacht gestellt, jegliche Kritik an Washington
diffamieren zu wollen. Dabei ist es kein Wagnis, hierzulande gegen Bush oder
Scharon zu schreiben. Die Ablehnung der amerikanischen und mehr noch der
israelischen Politik gehört zum guten Ton, und nicht selten wird auf das
Vorgehen der israelischen Regierung verwiesen, um antijüdische Vorfälle in
Europa zu beschönigen.
Zweifellos wird der Vorwurf des Antisemitismus von manchen
israelischen Politikern missbraucht, um jede Kritik an Jerusalem zu
diffamieren. Die ganze Welt wird dann von israelischen Nationalisten zum
Feindesland erklärt. Der antisemitische Antizionismus dient im israelischen
Kontext der Rechten. Wer wirklich an intellektuell redlicher Kritik der
Scharon-Regierung interessiert wäre, müsste sich vor allem von jeglichem
Ressentiment abgrenzen.
Der Autor ist Schriftsteller und Historiker in Wien,
zuletzt ist erschienen "Credo und Credit. Einmischungen" (Suhrkamp 2001).
hagalil.com
16-10-2003 |