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Ein politisches Gedicht mit "Flamingo":
Esther Dischereit liest ihre jüdischen Gedichte in Wales

Von Jenny Warnecke

"Die Literatur wird zum Nachschlagewerk, nachdem die Deutschen alles Lebendige in die Geschichte gegraben haben. Forschungszweige entstehen, und Nicht-Juden forschen über die Juden. Eine interessante Arbeit", konstatiert Esther Dischereit das gegenwärtige akademische Interesse an Jüdischem in ihrer Essay-Sammlung "Übungen jüdisch zu sein".

An der Universität in Wales fand ein Kolloquium über die in jeder Hinsicht widerspenstig zu lesende Autorin statt. Sie fällt aus allen Schubladen heraus, die über jüdische Deutsche nach der Shoah existieren. Sie ist die 1952 geborene Tochter einer in Deutschland überlebenden Jüdin, die der deutschen Vernichtungssystematik zum Trotz gelebt hat. In ihren Texten amalgamiert Dischereit Themen, die in Deutschland nicht vermischt werden dürfen und betritt damit eine Tabuzone: Die Protagonistin ist jüdisch und brutal gegen die Tochter gleichzeitig. Wie kann man bei Maut an Mauthausen denken? Der Kassierer an der Grenze findet das in dem Gedicht "geschmacklos" . Frausein wird mit der Existenz nach der Shoah, mit der nicht ausreichenden Sozialhilfe vermengt und wiederum mit Mahnmaldebatten, DDR-Dissidenten und roten Schuhen.

Das Schreiben ist der Weg aus der antisemitisch gefärbten 1968er Linken heraus ein Jüdisch-Sein zu (er)finden. Jüdisch Sein ist ein "Zustand" und, das ergibt die Lektüre, in Deutschland ein politischer. In ihren Prosastücken Joëmis Tisch (1988) und Merryn (1992) beginnt die Bestandsaufnahme: "Sie holten mich ein, die Toten der Geschichte, und ließen mich teilhaben. Ich wollte nicht teilhaben, partout ein normaler Linker sein. Der Versuch ist mir gründlich mißlungen. Ich stehe auf der Straße, werbe, Klassenkampf, und einer fragt mich nach der Nationalität. ... Soll ich Deutsche sagen? Deutsch müßte man wohl sagen, ABER käme dann... was ABER? Aber Jude."

In den Lyrikbänden "Als mir mein Golem öffnete" (1996) und "Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten" (2001) werden diese Übungen verdichtet. Seit 1993 hat Esther Dischereit 13 Hörstücke geschrieben, um zwei zu nennen: "Ich ziehe mir die Farben aus der Haut" (Regie: Christine Ohaus, Saarländischer Rundfunk 1992) und "die Roten Schuhe" (Regie: Stefanie Hoster, SR 1993). Das Zusammenklauben der eigenen "Scherben" bleibt eine unvollständige Annäherung an eine eigene "Jüdischkeit": "Es ist dann kein Gefäß nicht mehr aus mir geworden." In den Essaybänden "Übungen jüdisch zu sein" (1998) und "Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten" (2001) - gemischt mit Prosastücken – wird der historische Auftrag wahrgenommen, über linguistische und andere Situationen, in denen die Schoah präsent ist, zu berichten – und über das, was dann nicht gesagt wird. In Filmen und Ansprachen an "Bürger und jüdische Mitbürger", in der deutschen Normalität. Das deutsch-jüdische Verhältnis ist Mittelpunkt der kritischen Analyse. Die Suche nach jüdischer Identität verläuft über haarfeine Stolpersteine, die Dischereits Figuren im Alltag mit einer beharrlichen Kontinuität im Weg liegen, bis sie hochplötzlich politisch aufgeladen werden. "Wer isst mit meinen Gabeln und löffelt aus der Terrine meiner Großmutter?" fragt sich die Ich-Erzählerin. Raumspendende Auslassungen sind die Spezialität der Autorin, um die nachhaltige Unschuld der Deutschen zu skandalisieren.

An der Universität in Swansea in Wales fand am 5./6. September 2003 ein Kolloquium im Centre for Contemporary German Literature statt, mit dem Titel des in der Zeitschrift Die Philosophin erschienenen Interviews Gelebte Zeit - aufgeschriebene Zeit. Das Zentrum hat in zwölf Jahren wichtige deutschsprachige AutorInnen zu sich eingeladen, darunter Sarah Kirsch, Uwe Timm, Peter Bichsel, Jurek Becker und Herta Müller.

Esther Dischereit trägt persönlich "rauhreifige", taufrische - und Golem-Gedichte vor und liest den Text Auguststraße 14/16 aus ihrem Buch "Mit Eichmann an der Börse". Außerdem gibt's vom Band die neusten Klanggedichte, die Dischereit mit ihrer eigenen Stimme färbt. "Mellie" (Ursendung: August 2003/Bayern 3) -ein Gedichtzyklus- erweitert sich in jeder Wiederholung durch eine kleine Differenz um Raum, Klang und Sinn. Ganz neue Monotöne. Als Fortsetzung des Projektes "Wordmusic", kann das Trio als Klangperformance engagiert werden (www.tonbuero.com).

Dem "Call for Papers" - ausgeschrieben von Dr. Katharina Hall vom German Department der Universität Swansea sind fünf Akademikerinnen aus den USA, Canada und England gefolgt, um ihre Forschung unter Beisein der Autorin in einem exklusiven Zirkel zu diskutieren. Dabei hat die ganze Wortform-Palette der Schriftstellerin Beachtung gefunden: Erzählungen, Interviews, Hörstücke und Lyrik. Die prominente Autorin des Standartwerks über deutsch-jüdische Literatur der zweiten Generation nach der Shoah Karen Remmler vom Mount Holyoke University (Massachussets) war "keynote"-Sprecherin dieser Veranstaltung. Philosophisch-filigran fokussiert sie Dischereits Kunst als eine Arbeit am Schweigen. Die Texte von Dischereit falten einen Territorium auf, in dem die Marginalisierten und Toten einen Raum finden. "Wir leben ja alle nur einmal, wie ich höre. - Ich nicht. Ich lebe zweimal, dreimal, sechs Millionen mal. Hört ihr: sechs Millionen mal." Zuhören was Dinge und die Toten zu sagen. Die Offenheit der Sprache, die an sich nicht ausreicht, um das menschliche Leiden zu beschreiben im Lärm der Literatur, erreicht eine neue Dimension. Das Schweigen zeigt auf den Zwischenraum der Worte.

Anette Seidel-Arpac kommt von den Jewish Studies der Universität Leeds und klopft den provokantesten Dischereit-Satz ab: Vor dem deutsch-deutschen Publikum jüdisch zu schreiben hat einen lästerlichen, einen prostituierenden Zug auf die Begriffe- jüdisch schreiben, - "deutsch-deutsches Publikum" und das auf Englisch.

Die Golem-Figur in dem Gedichtband "Als mir mein Golem öffnete", ist eine Metapher für Erinnerung und Wiedergeburt und baut für die säkulare Schriftstellerin eine Brücke zur ausgerotteten jüdischen Kultur. "Ich wurd/als Golem/euch geboren ..." Cathy Gelbin von der Universität Manchester analysiert in den von ihr ins Englische übertragenen Gedichten den Golem als Zeichen der Schoah-Erinnerung. Immer wiederkehrend deutet er anstelle der Toten auf das monströse Verbrechen, das nicht-jüdische Deutsche noch heute angeht. "Jetzt sind die aus der Klasse so alt wie ich und erben... von meiner Großmutter."

Brigitte Bachmann untersucht den Roman Joëmis Tisch komparativ mit Barbara Honigmanns Soharas Reise - beides konzentrische Identitätsentwürfe - auf ihre unterschiedlichen Erzählperspektiven hin. Katharina Hall geht der Frage nach, inwiefern das Schreiben von Esther Dischereit autobiografisch ist, und welchen Zweck diese Kategorisierung hat. Erstaunlicherweise erhält dieser Sachverhalt bei Frauen ein pejoratives Moment. Ihr Resumee ist, das Werk als fortgesetzte Erfahrungen der Autorin zu betrachten, eine Art 'postmemory'. Die Sozialisation, im Schatten des Traumas ihrer Mutter aufgewachsen zu sein, ist der Anker für diese Literatur. Jurek Becker verneinte 1995 in dem Interview des Zentrums für deutsche Gegenwartsliteratur 1995 in Swansea die Frage, ob seine Werke autobiografisch seien und Vergangenheitsbewältigung darstellten. Er stellte klar: Wir sind die Vögel und ihr seid die Ornithologen. Die Ornithologen dürften sich alles zurecht schustern. Aber sie dürften nicht von ihm, dem Vogel verlangen, dass er "ornithologisch" spreche.

Esther Dischereit nennt sich eine "handwerkliche Dichterin", die das Wie der Herstellung interessiert. Wenn sie ein politisches Gedicht schreibt, kann sogar – der Farbe wegen - ein Flamingo drin vorkommen. Von Deutschland aus gelesen bleibt Esther Dischereit eine politische Dichterin. Ihr gelingt der inhaltliche Spagat zwischen Politik und Schreib-Kunst mühelos. Und dass dieses Kolloquium in Wales und nicht irgendwo in Deutschland stattgefunden hat, ist an sich schon ein politisches Ereignis. Die Veröffentlichung des ersten wissenschaftlichen Sammelbandes, der sich ausschließlich mit Literatur von Esther Dischereit beschäftigt, kann demnächst über das Centre for Contemporary German Literature in Swansea/Wales bezogen werden.

Zum Weiterlesen:

Esther Dischereit - Die Geschichte hinter der Geschichte von Aimée und Jaguar:
Zwischen Abhängigkeit, Prostitution und Widerstand


Jüdische Frauen in Berlin

Textstellen:

Esther Dischereit: Übungen jüdisch zu sein: S 63.
Unveröffentlicht: vorgetragen auf der Lesung in Swansea/Wales am 6.Sept. 2003.
Esther Dischereit: Joëmis Tisch, S 9.
Esther Dischereit: Als mir mein Golem öffnete, S 12.
Esther Dischereit: Mit Eichmann an der Börse, S 74.
Esther Dischereit: Die Roten Schuhe. Hörstück.
Esther Dischereit: Als mir mein Golem öffnete, S 6.
Esther Dischereit: Mit Eichmann an der Börse, S 74.
Nachzulesen in Esther Dischereit: Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten, S 64.

hagalil.com 21-10-2003

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