Eine Erfolgsgeschichte:
Die internationale Sommeruniversität in
Beer Sheva
Von Franziska Werners
Die Schreckensbilder von
Terror und Militäraktionen, die leider viel zu häufig das Israelbild in den
europäischen Medien bestimmen, machen es einem oft schwer zu glauben, daß in
demselben Land internationale Völkerverständigung nicht nur in der Theorie
erörtert, sondern durchaus praktisch gelebt wird, zum Beispiel in Beer Sheva
an der Ben Gurion Universität des Negev, wo Professor Mark Gelber 1998 die
internationale Sommeruniversität ins Leben rief, die ein bisher
einzigartiges Programm speziell für deutschsprachige Studenten aus Europa
anbietet.
Nicht gerade eine
Selbstverständlichkeit – zumal für einen Amerikaner in Israel. 1951 in New
York geboren, durchlief Mark Gelber, wie er sagt "eine ganz typische
jüdische sowie normale Ausbildung an jüdischen und normalen Schulen und
Hochschulen." Bereits als Schüler interessierte er sich für den Holocaust,
"vor allem intellektuell", wie er betont und so begann er früh, deutsch zu
lernen, um den Holocaust besser verstehen zu können. Mit der Zeit, und
sicherlich auch bedingt durch längere Studienaufenthalte in Europa,
entdeckte Gelber mit der deutschen Sprache zugleich eine ihn faszinierende
Literatur und Kultur, die wenig mit der Shoah oder Shoahverwandten Themen zu
tun hatte.
Weitere Auslandssemester,
unter anderem in Israel, verstärkten zudem sein Engagement für jüdische
Studien und Fragen des Zionismus.
Das intellektuelle
Interesse am Geschehen des Holocaust hat Mark Gelber nie verloren, doch
beruflich suchte er vor allem einen Weg, seine jüdischen Studien zu
vertiefen und mit der Literaturwissenschaft zu verbinden. Das Studium der
Komparatistik – so die amerikanische Bezeichnung für vergleichende
Literaturwissenschaft – Kulturgeschichte und Philosophie schloß er mit einer
Doktorarbeit über den Antisemitismus in der englischen und deutschen
Literatur ab, bevor er Ende der 70er Jahre mit Frau und Kindern nach Israel
einwanderte. Dort erhielt er alsbald einen Ruf als Komparatist an die gerade
in Beer Sheva gegründete Ben Gurion Universität des Negev.
Während seiner weiteren
Forschungstätigkeit, die ihn immer wieder nach Europa - vorrangig
Deutschland und Österreich - führte, fand er insbesondere unter deutschen
Studenten ein stetig zunehmendes Interesse an Israel und Judentum, dem von
Seiten der Universitäten ein eher unzureichendes Lehrangebot gegenüberstand.
So hatten Geschichts- oder Judaistikstudenten nur sehr selten Gelegenheit,
im Rahmen ihrer akademischen Ausbildung mit Juden oder Israelis über die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder das Judentum in Mitteleuropa
bzw. Israel zu sprechen.
Genau dies wollte Mark
Gelber ändern: "Was Studenten hier in Beer Sheva erfahren können - über die
Hebräischstunden und die akademischen Vorträge hinaus - das könnte
einzigartig sein, und eben deshalb habe ich den Kurs initiiert."
Die Ben
Gurion Universität, Internationale Sommeruniversität
Für Amerikaner gab es
derartige Sommerkurse schon länger, in Beer Sheva wie auch an vielen anderen
israelischen Universitäten, und so waren die 23 europäischen Studenten, die
1998 zur ersten Sommeruniversität in den Negev kamen, zunächst noch eine
kleine deutschsprachige Minderheit. Doch sehr bald kehrte sich das
Verhältnis um. Im Sommer 2000 kamen über 70 europäische Studenten nach Beer
Sheva, die meisten aus Deutschland, aber einige auch aus Österreich, der
Schweiz, Italien, Polen, Finnland, Holland, Belgien und Frankreich. Sehr
wahrscheinlich hätte dieser Aufwärtstrend angehalten, doch dann kam die
zweite Intifada und schließlich der 11. September 2001. Im Jahr darauf ging
die Teilnehmerzahl an der Sommeruniversität auf etwa 30 Studenten zurück.
"Beer Sheva ist relativ sicher, aber die Idee, nach Israel zu kommen, ist
heutzutage eine schwierige Frage", erklärt Mark Gelber, der sich trotz allem
nicht entmutigen läßt und im Sommer 2003 immerhin schon wieder 50
eingeschriebene Studenten aus Europa zählen kann. Einige von ihnen sind
bereits zum zweiten oder sogar dritten Mal dabei, so zum Beispiel die
Theologie-Professorin Julia aus Greifswald, die kurz vor ihrer Pensionierung
steht, seit vielen Jahren regelmäßig nach Israel reist und neben dem für ihr
Fach obligatorischen Althebräisch auch das moderne Ivrith lernen will. Oder
die Journalistin Eva, die auf ein ebenso langes wie international-bewegtes
Berufsleben zurückschauen kann und auch im Ruhestand nicht aufhören will, zu
lernen – was auf eine weitere Besonderheit der Sommeruniversität in Beer
Sheva verweist: Ältere "Studenten" – und von denen gibt es einige – fühlen
sich hier ebenso wohl wie ihre im Schnitt fast vierzig Jahre jüngeren
Kommilitonen. Die Atmosphäre ist freundschaftlich-familiär, man duzt sich
und hilft einander bei den Hausaufgaben.
Die individuellen
Vorkenntnisse was Land, Leute, Kultur und Sprache angeht, sind bei den
Teilnehmern höchst unterschiedlich. Manche haben vor Jahren einmal mit der
Schule eine Studienfahrt nach Israel gemacht, andere haben bereits für
längere Zeit in einer sozialen Einrichtung oder einem Kibbuz gearbeitet,
wieder andere sind zum ersten Mal in Israel. Ebenso unterschiedlich sind
auch die jeweiligen Motive, an dieser Sommeruniversität teilzunehmen. Für
Christina, die in der Schweiz Ethnologie und Völkerrecht studiert, ist
Israel "ein unglaublich spannendes Land, weil es ein typisches
Einwanderungsland ist. Ein Thema, das mich sehr interessiert, ist die
interkulturelle Interaktion. Ich habe viel zum Thema Nah-Ost gemacht, und
wollte hebräisch lernen weil an meiner Uni der Kurs nicht angeboten wird. Da
gibt es nur arabisch."
Für Alexander, den
Soziologiestudenten aus Leipzig, steht neben dem Erlernen der hebräischen
Sprache noch ein ganz anderer Aspekt im Vordergrund: "Ich habe manchmal in
Deutschland den Eindruck, daß wenn man von Juden oder über Juden redet, das
ist irgendwie immer mit ein bißchen Angst verbunden, daß man da was falsches
sagt und ich möchte das für mich klären. Ich finde, damit muß man sich
auseinandersetzen und ich glaube, wir können das zu Hause nicht, und
deswegen bin ich eigentlich hergekommen, um die Menschen hier besser zu
verstehen und mitzukriegen wie sie leben."
Ähnlich sieht das auch
Stefan, Student der Politikwissenschaften in Erlangen. Er war sieben Jahre
zuvor schon einmal zum Schüleraustausch in Beer Sheva und hatte, wie er sagt
"deutlich erfahren, daß Israel ein sehr heterogenes Land ist, daß es sehr
viele unterschiedliche Leute gibt, sehr viele Einwanderer und dann ist mir
später in meinem Studium aufgefallen – ich hatte ein Seminar besucht zu
Nationalismus im Nahen Osten – da wurde Israel nur als homogener Block
dargestellt, der als Agressor auftritt. Das fand ich ziemlich miserabel,
weil ich einfach wußte, daß es anders ist, und deswegen wollte ich wieder
herkommen. Mein Ziel ist es, mich im Studium auf Israel zu spezialisieren
und vielleicht mal eine längere Zeit in Israel zu studieren."
Auch für eine ganze Reihe
von Theologie- und Judaistikstudenten ist die Begegnung mit dem jüdischem
Alltag in Israel eine unverzichtbare Ergänzung. Alexandra, die in
Süddeutschland evangelische Theologie und Judaistik studiert, und zuvor
schon ein Jahr als Volontärin in einem israelischen Kinderheim gearbeitet
hatte, erklärt das an einem Beispiel: "Sehr vieles, was ich im Studium
lerne, erinnert mich an Erlebnisse hier. Wenn ich hier zum Beispiel am
Shabbat in einer Synagoge war und wir studieren dann im wissenschaftlichen
Sinn die Liturgie, dann habe ich dazu Bilder im Kopf, kann es mir vorstellen
und eben auch relativieren, weil ich weiß, es gibt die Theorie der Liturgie,
aber in der Praxis gibt es auch Variationen."
Theoretisch wäre es
natürlich auch in Deutschland möglich, jüdische Gottesdienste zu besuchen,
oder oder ganz allgemein einen Kontakt zu Juden und jüdischen Gemeinden
aufzunehmen, doch im offiziellen Lehrplan der Universitäten scheint das nach
wie vor nicht vorgesehen zu sein. Eher wird per Aushang auf Studienreisen
nach Israel verwiesen als daß man sich um Kontakte zu Juden in der
unmittelbaren Nachbarschaft bemüht. "Das ist schon sehr der Eigeninitiative
der Studenten überlassen," stellt Alexandra nüchtern fest, und bestätigt
damit einmal mehr den Grundgedanken des Sommerkurses von Mark Gelber.
Neben intensivem
Hebräischunterricht bietet das tägliche deutschsprachige Vorlesungsprogramm
den Studenten dann auch wirklich eine breite Themenpalette, angefangen von
biblischer Archäologie über jüdische Kunst in Antike und Mittelalter,
jüdischer Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland und Israel, bis zur
aktuellen Politik in Israel und der Nahost-Region. Wöchentliche Exkursionen
zu historischen Stätten wie Massada, aber auch Besuche in Dörfern der
beduinischen Bevölkerung des Negev sorgen in jeder Hinsicht für zusätzliche
Horizonterweiterung.
Die Festung Massada
In diesem Jahr wurde das
Vortragsprogramm erstmals noch um einige englischsprachige Vorlesungen
erweitert, die die europäischen Studenten gemeinsam mit ihren amerikanischen
Kommilitonen besuchen konnten – ein Angebot, das reichlich genutzt wurde,
wie überhaupt gerade die amerikanisch-deutschen Kontakte unter den Studenten
im Laufe der Jahre immer enger geworden sind. Während aus den USA fast nur
jüdische Studenten nach Beer Sheva kommen, sind es aus Deutschland und
Europa fast nur Nichtjuden. Unter den Amerikanern sorgte diese Entdeckung
zunächst für einige Verwunderung, aber bald darauf auch für einen
intensiveren Gedankenaustausch, was wiederum für Mark Gelber spricht, den
diese Entwicklung sichtlich freut: "Es ist sehr interessant für die
Amerikaner zu sehen, daß es deutsche Studenten gibt, die Hebräisch lernen -
und können und manchmal besser als sie, und sie sagen 'Wieso...?' – Das ist
eine tolle Gelegenheit für Amerikaner aber auch für die deutschen Studenten,
mit amerikanischen Juden in Kontakt zu kommen, was in Deutschland, naja
nicht so selten ist, aber für die meisten immer noch kaum realisierbar."
Neben Vorträgen über "The
Americanization of the Holocaust", "International Terrorism after the War in
Iraq" oder "The Shoah in Israeli Society", für die Mark Gelber eine ganze
Reihe renommierter Referenten gewinnen konnte, sorgte in diesem Jahr vor
allem der Auftritt der Autorin June Leavitt für reichlich Zündstoff in der
Diskussion. Seit Anfang der 80er Jahre lebt die gebürtige Amerikanerin mit
ihrem Mann und fünf Kindern in der Westbank-Siedlung Quiryat Arba bei
Hebron. In Beer Sheva las sie nun aus ihrem jüngsten Buch Storm of
Terror. A Hebron Mothers's Diary, in dem sie ihre Sicht der Ereignisse
zwischen September 2000 und Frühjahr 2002 schildert. Ein relativ dünnes
Bändchen ist das, ein teils verklärender, teils erschreckend einseitiger
Bericht aus der Feder einer Amerikanerin, die einmal Journalistin werden
wollte, dann aber auszog, um Indianer-Tipis zu suchen, dabei ihren späteren
Ehemann und mit ihm ihre religiösen Wurzeln als Jüdin entdeckte, bevor sie
schließlich nach Israel einwanderte.
June Leavitt definiert sich
selbst als Linke unter den radikalen Siedlern ihrer Nachbarschaft, und
möglicherweise hat sie damit sogar recht. Immerhin hält sie die Forderung
nach einem unabhängigen Palästinenserstaat für nicht unberechtigt. Dennoch
reagieren die meisten ihrer studentischen Zuhörer verständnislos bis
schockiert, als sie die politische Zukunft Hebrons und Quiryat Arba's mit
den Worten beschreibt: "May the best man win."
Auf die Frage, was ihn
bewogen hat, eine ausgewiesene Vertreterin der Siedler als Referentin für
europäische und amerikanische Studenten einzuladen, antwortet Mark Gelber
zurückhaltend. Natürlich war ihm die Brisanz dieses Auftritts bewußt. Ebenso
sicher war er sich aber auch, daß wohl die wenigsten je die Gelegenheit
hatten, aus erster Hand etwas über das Leben in einer Siedlung im
Westjordanland zu hören – wie auch immer man zu diesem speziellen
Erlebnisbericht schließlich stehen mag.
Daß June Leavitt mit ihrem
Vortrag Verständnis oder gar Sympathien für die Siedlerbewegung in den
besetzten Gebieten geweckt hätte, war kaum zu erkennen. Nicht unter den
Europäern, nicht unter den israelischen Studenten, von denen ebenfalls
einige zur Lesung gekommen waren und auch nicht unter den Amerikanern. Und
was das hierzulande gerne verbreitete Klischee von der bedingungslosen
Solidarität amerikanischer Juden mit Israel angeht, so sei an dieser Stelle
auf die Initiative
The Call verwiesen, eine stetig wachsende Gruppe amerikanischer
Juden, die sich unter dem Slogan "Bring them home" für die Räumung der
umstrittenen Siedlungen im Westjordanland engagieren.
Doch zurück nach Europa,
das für Mark Gelber nach wie vor im Zentrum seiner umfangreichen
Forschungsarbeit steht. Seine stete wissenschaftliche Neugier und
Kontaktfreude bringen ihn regelmäßig auch mit interessanten Autoren
zusammen, von denen er einige als Gastdozenten für die Sommerkurse an der
Ben Gurion Universität gewinnen konnte. Im vergangenen Jahr war es Ruth
Klüger, in diesem Jahr der österreichische Schriftsteller und Historiker
Doron Rabinovici, dessen Vorlesungen sich unter den Studenten in Beer Sheva
schnell größter Beliebtheit erfreuten.
Doron Rabinovici (l.) und Mark Gelber
Geboren 1961 in Tel Aviv
kam er 1964 mit seinen Eltern nach Wien, wo er bis heute lebt. Bekannt
geworden war er zunächst mit Kurzgeschichten, die 1994 unter dem Titel
Papirnik-Stories herauskamen. 1997 erschien Suche nach M., ein
Roman in zwölf Episoden. Drei Jahre später folgte Instanzen der Ohnmacht
eine hoch anerkannte Studie über die Arbeit der Wiener Judenräte in den
Jahren 1938 bis 1945. Unter dem Titel Credo und Credit. Einmischungen
erschien 2001 ein Band mit 11 Essays zu Literatur, Kultur und Politik.
Alleine diese Bücherliste läßt schon
aufhorchen: Ein Schriftsteller, promovierter Historiker und ebenso
brillanter wie mehrfach ausgezeichneter Essayist - davon gibt es, zumal in
dieser Altersgruppe und im deutschen Sprachraum, wohl nur sehr wenige. Wäre
außerdem noch ein Preis für Vortragsstil zu vergeben, Doron Rabinovici hätte
zweifellos beste Aussichten, auch diese Auszeichnung zu gewinnen. Ob er nun
Passagen aus seiner historischen Studie über die Wiener Judenräte las, oder
den ersten Teil eines Essays zum Thema Gedenken und Erinnerung, die
Transparenz und Eleganz seiner Sprache, der geprochenen wie der
geschriebenen, sorgen an allen drei Abenden für einen gut gefüllten
Vorlesungsraum.
Ganz besonders gilt das für
die Lesung aus seinem Roman Suche nach M., über dessen Aufnahme beim
Publikum Rabinovici zuvor schrieb: "Werde ich nach einer Lesung gebeten zu
erklären, weshalb mein Roman in der nationalsozialistischen Vergangenheit
spiele, weise ich darauf hin, daß er doch gar nicht in diese Zeit gesetzt
ist. Nie in meinem Leben verfaßte ich eine einzige Erzählung, die in einem
Lager oder einem Getto angesiedelt ist. Ich schreibe über den Umgang mit der
Vernichtung, und selbst wenn ich von den Verhältnissen in den litauischen
Gettos erzählen wollte, das Buch meiner Mutter
kopierte, meine Protagonisten durch eine Selektion triebe, sie ermorden
ließe, von den Strategien des Entrinnens phantasierte, zu schildern
versuchte, was sie empfänden, würde ich nicht die Vergangenheit aufarbeiten,
weil sie sich ja nicht mehr aufarbeiten läßt. Es geht allemal bloß um die
Gegenwart. Was erörtert, aufgedeckt und verhandelt wird, bestimmen allein
die aktuellen Machtverhältnisse, nie die früheren."
Suche nach M.
handelt, wie Rabinovici auch den Studenten in Beer Sheva einleitend erklärt,
eher von den Nachkommen, einem Sohn bzw. einem Enkel der Überlebenden:
"Beide entwickeln merkwürdige Phänomene bzw. werden jeweils zu einem
Phänomen: Der eine, Dani, muß jede Schuld, die uneingestanden um ihn herum
existiert, an Stelle des Schuldigen bekennen, muß sich als Schuldiger
ausgeben. Er weiß auch genau, wie es passiert ist und fühlt sich in die Tat
und in den Täter hinein. Der andere hingegen, Arieh, kann Schuldige finden,
ohne deren Namen, deren Aussehen oder Adresse zu kennen."
Die beiden seien von
"Schuld" gewissermaßen fasziniert, sagt Rabinovici und liest zur
Illustration eine entsprechende Passage aus dem Kapitel "Dani":
"Dani konnte den
vielfältigen Erwartungen nicht nachkommen: Er sollte ein Bursche sein wie
alle anderen seiner Klasse, doch durfte er sein Herkommen nicht vergessen,
sollte den anderen seine Gleichwertigkeit und die der Juden schlechthin
beweisen, sollte mithalten in der deutschen Sprache, ja besser noch als all
die übrigen sein, und gleichzeitig Hebräisch studieren, sollte die Dichter
und Denker herbeten können, doch nie an sie glauben, sollte das Fremde sich
aneignen, ohne sich dem Eigenen zu entfremden. Wurde er gelobt, so konnte er
sich nicht freuen und sah sich bloß überschätzt. Die Großmutter sagte: "Wie
Onkel Marek, der konnte sich alles merken, was er je gehört hatte, weshalb
ihn niemand etwas zu fragen wagte, weil er einem genau vorrechnete, wie oft
man schon die Anwort gehört, wann man ihn bereits darum gefragt hatte." Aber
er bezweifelte ihr Lob, entzog sich der Umarmung, mißtraute den
Liebesbezeugungen. Er glaubte, ja wußte, den Anforderungen nicht zu genügen.
In der Schule war er bloß mittelmäßig. Wenn er einmal eine gute Note nach
Hause brachte, so war es nicht die beste, und wenn es die beste war, schämte
er sich vor seinen Mitschülern, auf deren Kosten er zu triumphieren meinte.
Fragte ein Lehrer: "Von wem stammt 'Der zerbrochene Krug' ", oder "Wer
schleuderte den Speer gegen Siegfried", stand Dani auf und sagte: "Ich
war's. Ich bin schuld. Ich hab's getan."
Zu Hause sorgten sich die Eltern, und der Vater schüttelte den Kopf, schien
nicht mehr stolz auf seinen kleinen Jungen, seufzte. Die Großmama klagte:
"Ich weiß nicht, von wem er das hat. Aus unserer Familie bestimmt nicht",
worauf die Mutter seitlich feixte, die Brauen hob, sich an die Wand lehnte
und weit aus dem Fenster sah. Sogar Manfred Schaunder, der treueste
Bewunderer Danis, zündete sich eine Filterlose an, blickte hinweg über den
Jungen aus dem ersten Stock und sagte: "selbst wenn ich's gewesen wär – nie
würd' ich es zugeben. Was geht Dich dieser Siegfried an? Wer immer auf ihn
schoß, ist doch nicht deine Sache.""
Doron Rabinovici im Gespräch mit
Studenten |
Zweifellos gibt es
Parallelen zwischen Doron Rabinovicis eigener
Lebensgeschichte und der seiner Helden im Roman (wie auch in der
einen oder anderen Kurzgeschichte – z.B. "Der richtige Riecher" aus
Papirnik), und so entwickeln sich denn auch nach den Lesungen lebhafte
Gespräche zwischen den Studenten und dem Autor, der neben seiner
schriftstellerischen Arbeit auch als durchaus kämpferischer Vetreter der
österreichischen außerparlamentarischen Opposition gegen Jörg Haider bekannt
ist.
Zufällig und doch wie auf's
Stichwort erschien zur selben Zeit in der Frankfurter Rundschau
Rabinovicis Beitrag zur Diskussion über
Ted Honderichs umstrittenes Buch Nach dem Terror. Auch dies lieferte
reichlich Gesprächsstoff. Immerhin hatte Honderichs mißlungener Versuch, die
palästinensischen Selbstmordattentate in Israel zu rechtfertigen, schon in
Deutschland für einigen Aufruhr gesorgt – zumindest in den Feuilletons.
In Israel dagegen rückte
das Thema Terror für viele der europäischen Studenten nicht nur geographisch
in eine bis dahin kaum gekannte Nähe. Der Sommerkurs hatte gerade erst
begonnen, als am 19. August ein Selbstmordattentäter in Jerusalem 23
Menschen in den Tod riß. Überall klingelten Handys, besorgte Freunde und
Angehörige aus Europa wollten sichergehen, daß ihre Lieben nicht gerade an
diesem Tag einen Ausflug nach Jerusalem gemacht hatten.
Und umgekehrt: Die
Studenten aus Europa erleben mit, wie einige ihrer israelischen Kommilitonen
zu Hause anrufen, sich vergewissern wollen, daß ihren Freunden und Familien
nichts geschehen ist. Im Computerraum des Studentenwohnheims drängen sich
Israelis, Amerikaner und Europäer um die Zugänge zum Internet. Wo es
Fernsehgeräte in den Studentenwohnungen gibt, finden sich alsbald
internationale Gruppen zum Nachrichtenschauen und Diskutieren. Zwei
Israelis, Einwanderer aus Russland, sind fest überzeugt, daß die einzige
Lösung des Konflikts die Einmauerung des Westjordanlandes sei. Andere halten
vehement dagegen oder beschuldigen Sharon und dessen Regierung. "Du kannst
fragen wen Du willst", erklärt eine israelische Studentin. "Jeder wird das
gleiche sagen: Diese Regierung ist einfach nur korrupt. Sie tut nichts für
die Menschen in diesem Land!" In anderen Wohnungen des Studentenwohnheims
fließen Tränen, nicht weil ein naher Freund oder Verwandter bei diesem
mörderischen Anschlag gestorben wäre, nein - nur ein Stück Hoffnung, wieder
einmal.
Der Hebräischunterricht am
Morgen danach beginnt zumindest in den fortgeschrittenen Kursen mit
Zeitungslektüre. In einem Informationsplenum erläutert ein sichtlich
bedrückter Mark Gelber gewisse Sicherheitsmaßnahmen, die vor allem jene
beachten sollen, die an den freien Wochenenden selbständig durch's Land
reisen wollen.
Die Stimmung ist gedämpft
in den ersten Tagen nach dem Anschlag, doch abreisen will niemand. Dafür
geht man man regelmäßiger ins Internet, um nur ja keine Nachrichten zu
versäumen. Und es gibt viele Gespräche mit den israelischen Kommilitonen,
mit denen man im Studentenwohnheim die Wohnung teilt. Selbst wer im
Hebräisch noch zu den Anfängern gehört, findet zumindest über das Englische
den Weg zum Gedankenaustausch – und das nicht nur über die große Politik.
Der Studienalltag, die Probleme der Studienfinanzierung wie auch der
Berufsaussichten, Freunde, Familie ... – die Aufgeschlossenheit und das
gastfreundliche Interesse, mit der fast alle israelischen Studenten auf die
vorübergehende Einquartierung der europäischen Kommilitonen reagieren, sind
beeindruckend und sicherlich werden viele, die jetzt zum Wintersemester
wieder an ihre europäischen Heimatuniversitäten zurückkehren, über eine
ganze Reihe neuer Kontakte nach Israel verfügen.
Darüber hinaus gibt es an
der Ben Gurion Universität viele israelische Studenten, die europäische
Geschichte mit Hauptfach Deutschland belegt haben, und hervorragend deutsch
sprechen.
Auch hier erweist sich Mark
Gelber als unermüdlicher Vermittler. Nicht nur, daß er bereits am zweiten
Tag fast alle Namen seiner europäischen und amerikanischen Sommerstudenten
kennt, er organisiert darüber hinaus zusätzliche Gesprächsrunden mit
israelischen Kommilitonen.
Kobi (li.) aus Beer Sheva und Ulrich aus Berlin im Gespräch
über linke und rechte Ansichten in Deutschland und in Israel. |
Auch eine Initiative von Mark
Gelber: Amer Abu-Hani vermittelt europäischen Studenten einen Eindruck
von der Lebensituation und den Problemen der Beduinen im Negev (siehe
auch
http://www.arabhra.org). |
Mit seinem schier
unerschöpflichen Adress- und Notizbuch ist er außerdem noch all jenen
behilflich, die Kontakt zu anderen israelischen Universitäten, Instituten
oder Dozenten aufnehmen wollen, und so hat wohl kaum jemand diese
Sommeruniversität in Beer Sheva besucht, ohne von Gelbers vielseitigen
Kenntnissen und Verbindungen profitiert zu haben.
Mark Gelber und einige seiner Studenten
Wie sehr die Studenten
diesen außerordentliche Sommerkurs der Ben Gurion Universität zu schätzen
wissen, zeigte sich auch beim Abschlussfest am Abrahamsbrunnen in der
historischen Altstadt Beer Shevas. Die begeisterten Dankesworte an Mark
Gelber und sein Team, ganz besonders an die wirklich herausragenden
Sprachlehrerinnen, kamen ebenso von Herzen wie das Versprechen einiger
Teilnehmer, im nächsten Jahr ganz sicher wieder dabei sein zu wollen.
Fotos © F. Werners -
haGalil onLine
Literaturtipps:
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Doron Rabinovici:
Papirnik. Stories
Suhrkamp Verlag 1994
Euro 8,50
Bestellen?
Ob sie Papirnik beschreiben
könne, fragt eine Kritikerin. Lola Varga sagt: "Er war vielseitig."
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Doron Rabinovici:
Suche nach M.
Roman in zwölf 12 Episoden
Suhrkamp Verlag 1999
Euro 8,50
Bestellen?
'Halb kriminal - halb
surreal' erzählt Doron Rabinovicis Roman die phantastisch-reale Geschichte
von Dani Morgenthau und Arie Scheinowitz, den Söhnen jüdischer Überlebender
aus Krakau. Ihr Leben in Wien bewegt sich im Bannkreis der Schuld: Dani
nimmt zwanghaft jegliche Schuld auf sich, Arieh besitzt die intuitive Gabe,
Schuldige aufzuspüren.
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Doron Rabinovici:
Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938 - 1945. Der Weg zum Judenrat
Jüdischer Verlag 2000
Euro 25,80
Bestellen?
Spätestens seit Hannah
Arendts Eichmann-Buch und ihrer Kritik an der Rolle der Judenräte wird die
Frage der Zusammenarbeit von jüdischen Repräsentanten mit dem NS-Regime in
der Zeit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden äußerst
kontrovers diskutiert. Wie konnten Menschen gezwungen werden, an ihrer
eigenen Vernichtung mitzuwirken? Wer verstehen will, wie die Judenräte
entstanden, muss sich mit den Wiener Verhältnissen auseinandersetzen. In
Wien entwickelte und erprobte Eichmann ab 1938 erstmals sein "Modell"
nationalsozialistischer Judenpolitik. Die Wiener jüdische Gemeindeleitung
wurde zum Prototyp aller späteren Judenräte. Doron Rabinovici versucht in
seiner Studie der Situation der Verfolgten gerecht zu werden. Er lenkt immer
wieder den Blick auf einzelne jüdische Repräsentanten und zeigt, wie alle
ihre Strategien, sich und andere zu schützen, letztlich scheiterten. Die
jüdischen Verwaltungsapparate waren unter den vorgegebenen Bedingungen des
nationalsozialistischen Herrschaftssystems nichts als Instanzen der
Ohnmacht.
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Doron Rabinovici:
Credo und Credit. Einmischungen
Suhrkamp Verlag 2001
Euro 9,00
Bestellen?
Eine Sammlung von Essays,
Aufsätzen und Betrachtungen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit
Fragen von Literatur und Politik beschäftigen. So erzählt Rabinovici vom
Aufwachsen zwischen den Sprachen, der Muttersprache Hebräisch und der
Adoptivsprache Deutsch und dem Zauber des ersten Lesens in der elterlichen
Bibliothek . Der Band enthält eine Abhandlung über den jüdischen Witz ebenso
wie eine Hommage an Leo Perutz. Im Beitrag "Warum die Milch vom Fleisch
getrennt werden mußte oder 'Die gerettete Zunge' und das drohende Messer"
spürt der Autor den frühkindlichen, jüdischen Einflüssen auf Elias Canetti
nach. Scharf setzt er sich auch mit den aktuellen Entwicklungen in
Österreich auseinander und stellt die Frage: Brauchen wir ein europäisches
Verbot der sogenannten Auschwitzlüge?
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Schoschana Rabinovici:
Dank meiner Mutter
Fischer Verlag 2002
Euro 9,90
Bestellen?
Klar, eindringlich und ohne
Haß erzählt Schoschana Rabinovici von ihrer Vertreibung aus dem Wilnaer
Ghetto und von ihren Leidensstationen in den Konzentrationslagern
Kaiserwald, Stutthof und Tauentzin. Mit ihren Kindheitserinnerungen setzt
sie ihrer Mutter Raja ein Denkmal, ohne deren Stärke, Lebensklugheit und
Willenkraft sie diese Zeit nicht überlebt hätte.
Schoschana Rabinovici, 1932 in Paris geboren, kehrt 1937 mit ihren Eltern
ins heimatliche Wilna zurück. 1943 wird sie zusammen mit ihrer Mutter ins KZ
Kaiserwald geworfen, 1944 ins KZ Stutthof bei Danzig verlegt. Sie überleben
den Todesmarsch nach Tauentzin im Februar 1945, wo sie im April von der
Roten Armee befreit werden. 1950 wanderten Mutter und Tochter nach Israel
aus. Die Autorin lebt als Physio-Therapeutin in Wien. Siehe auch:
Interview mit Shoshana Rabinovici in:
AUFBAU, 30.
November 2000
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June Leavitt:
Storm of Terror. A Hebron Mother's Diary
Ivan R. Dee Publisher 2002
Euro 20,51
Bestellen?
Tagebuchaufzeichnungen
einer amerikanisch-israelischen Siedlerin in Quiryat Arba bei Hebron. June
Leavitt beschreibt hier die Ereignisse zwischen September 2000 und Frühjahr
2002. Ihr erstes Tagebuch über die Jahre 1992 - 1995 erschien auch in
deutscher Übersetzung: Hebron Westjordanland: Im Labyrinth des Terrors
(Claassen Vlg., Hildesheim 1996).
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Frank Stern, Maria
Gierlinger (Hg.):
Die deutsch-jüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dialog.
In Kooperation mit dem Zentrum für deutsche Studien an der Ben-Gurion
Universität des Negev in Beer Sheva
Aufbau-Verlag 2003
Euro 17,50
Bestellen?
Mit dieser Anthologie über
ein Jahrtausend deutsch-jüdischer Kultur überschreiten die Herausgeber die
Grenzen des traditionell fast ausschließlich auf die Shoa bezogenen Zugangs
zur deusch-jüdischen Geschichte und öffnen den Blick kultur- und
geistesgeschichtlich. Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen aus
Deutschland, den USA, Israel, Belgien, Kanada und Frankreich, unter ihnen
Guy Stern, Susanne Heschel, Gabriela Hermer, Andreas Huyssen, Jeffrey Peck,
Mark Gelber, Lily Gardner Feldman und Atina Grossmannn, gehen der Frage
nach, welchen Einfluß die "deutsch-jüdische Erfahrung", die kulturellen und
geistesgeschichtlichen Wechselwirkungen zwischen Juden und Nichtjuden, auf
die westliche Kultur hatten. Sie beschäftigen sich mit Themen wie der
jüdischen "Kultur der Andersdenker", dem Bildergeboten der visuellen Kultur
sowie dem deutsch-amerikanisch-israelischen Dreieck.
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hagalil.com
16-10-2003 |