Auseinandersetzung
um einen Stellplatz in Arles:
Immer neue Gesetze
für die Gipsy Kings
DIE Lebensbedingungen der Fahrenden - die Jenischen, die
Manouche, die Gitanos, die Sinti, die Roma - sind von Land zu Land sehr
unterschiedlich. Die extremste Ausgrenzung erleben sie derzeit in den
Ländern Ost- und Mittelosteuropas. In Deutschland leben die meisten der
Sinti schon seit Generationen in festen Häusern, doch mit dem Unterwegssein
im Wohnwagen ist es deshalb nicht endgültig vorbei. In Frankreich, das als
einziges europäisches Land Fahrende zwingt, eine "Wanderbuch" zu führen,
wurde die Situation in den letzten Jahren durch Gesetze immer wieder neu
geregelt. Der Status als Sesshafte, Halbsesshafte oder Nichtsesshafte hängt
auf vertrackte Weise von Bürokraten, politischen Konstellationen im Stadtrat
und der Haltung von Bürgerinitiativen ab. So ist es auch im südfranzösischen
Arles, zu dessen Einwohnern eine für ihre Musik weltbekannte Familie gehört:
die Gipsy Kings.
Von CHANTAL AUBRY, Journalistin, Paris.
Auf dem Rastplatz von Arles stehen an die sechzig Wohnwagen
hintereinander aufgereiht, auf halbem Weg zwischen dem Antikenmuseum und den
Sozialwohnungen des Stadtviertels Barriol. Es herrscht das übliche rege
Treiben: Die Frauen putzen, die Männer plaudern, Autos kommen an und fahren
weg, denn um diese Zeit werden die Kinder von der Schule abgeholt. Es gibt
nur ein Thema im Lager: Ende November 2002 wurde der Grundstein für die
zukünftige Siedlung gelegt, gleich nebenan. Und seither können die Bewohner
zuschauen, wie die Arbeiten voranschreiten.
Der Abschluss der Bauarbeiten ist für Dezember 2003 vorgesehen, dann sollen 47
Einfamilienwohnungen übergeben werden. "Sieben Jahre habe ich darum
gekämpft", erläutert stolz Pfarrer Antonio Hernandez, Präsident der
Association des Tsiganes (Zigeunerverband) von Arles und Pfarrer der
evangelischen Pfingstgemeinde Vie et Lumière (Leben und Licht), der die
meisten im Lager angehören. "Mit der Zeit schenkte man mir Gehör. Wir
mussten einen Verein gründen. Viele glaubten nicht an ein Resultat. Mit den
Sesshaften zu sprechen war nicht leicht. Mir ist es aber gelungen!"
Begonnen wurde das Projekt im Jahr 1996, als sich die Stadt Arles (damals noch
unter dem sozialistischen Bürgermeister Michel Vauzelle) nach mehreren
Jahren Verzögerung dazu durchrang, "die Sache" endlich anzugehen. "Die
Sache", das war die soziale Lage der Fahrenden und zuallererst die Umsetzung
des Besson-Gesetzes vom 31. Mai 1990, welches allen Einwohnern das Recht auf
Wohnraum garantiert. Darum kümmerten sich der kommunistische Dezernent für
Stadtplanung, Henri Tyssère, und die Umweltdezernentin Catherine Levrault
von den Grünen.
Für eine Stadt, deren Finanzlage notorisch angespannt ist, war das Ganze ein
Kraftakt, denn es ging um drei Aufgaben: die Einrichtung von Stellplätzen
für Durchreisende, die Förderung eines Mietwohnungsprogramms für die
sesshaft gewordenen Familien katalanischer Fahrensleute, die seit mehreren
Generationen in Arles leben; und schließlich die Bereitstellung von
Grundstücken für einige halbsesshafte und sozial schwache Roma- oder
Manouche-Familien.
Philippe Lamotte, damals Leiter des Amtes für Stadtentwicklung und
Wohnungswesen, übertrug das Projekt einem Marseiller Planungsbüro, das im
Februar 1998, nach eingehender Information bei den Familien und nachdem ein
geeignetes Gelände gefunden war, Entwürfe vorlegte. Zwar stand Barriol
alsbald als Standort des Ansiedlungsprojektes fest, und auch
Finanzierungsmöglichkeiten waren gefunden, doch die verschiedenen für die
Stellplätze in Frage kommenden Örtlichkeiten stießen allesamt auf Widerstand
bei der Bevölkerung. Zumal die Anliegerverbände (Hoteliers,
Verbrauchermärkte) waren grundsätzlich gegen eine Ansiedlung von Fahrenden.
Im Zuge der Auseinandersetzungen innerhalb der Vereinigten Linken vor Ort
änderte sich die Zusammensetzung des Magistrats, sodass das "heiße Eisen" in
die Obhut des äußerst vorsichtigen neuen kommunistischen Bürgermeisters
Hervé Schiavetti gelangte. Die Verhandlungen zogen sich nun in die Länge,
weshalb Arles - wie so viele andere Städte in Frankreich - bis heute über
keinen Stellplatz für Durchreisende verfügt. Und das, obwohl sich die
altprovenzalische Stadt gerade mit ihrem Ansiedlungskonzept hervorgetan
hatte.
Weder den Wähler verärgern noch die Menschen, die aufgenommen werden sollen, an
entlegene Orte verbannen, wo es keinerlei wirtschaftliche und soziale
Einbindung gibt - darin besteht nach wie vor und mehr denn je die Quadratur
des Kreises. "Auch wenn wir den vom Besson-Gesetz vorgesehenen Termin zum 1.
Januar 2004 nicht einhalten können, steht doch zumindest das Gelände fest",
versichert David Grzyb, der neue Dezernent für Stadtentwicklung, der heute
für den Vorgang zuständig ist. Bleibt noch, die Anwohner zu überzeugen.
"Die Stellplätze für die Fahrenden sollten in einer möglichst normalen Umgebung
liegen", räumt Schiavetti ein. "Doch die öffentliche Meinung hat wegen der
Bräuche und des Rufs dieser Leute wenig Vertrauen. Unsere Haltung ist per
definitionem widersprüchlich, aber wir bemühen uns, die unterschiedlichen
Meinungen zusammenzubringen und jeden anzuhören."
Dieser "widersprüchlichen Haltung" kann kein gewählter Vertreter, wenn er auch
nur ein Mindestmaß an politischem Ehrgeiz besitzt, entkommen. Stärker noch
als mit dem Widerstand der Anwohner muss er sich mit dem der Hoteliers und
der großen Verbrauchermärkte auseinander setzen, die sich in den
Gewerbegebieten angesiedelt haben, in deren Nähe meist die vorgesehenen
Stellplätze für Durchreisende entstehen sollen.
In Arles werden die seit mehreren Generationen sesshaft gewordenen
katalanischen Fahrenden bereitwilliger geduldet als anderswo. Einige von
ihnen leben sogar im Stadtzentrum, in den alten Stadtvierteln La Roquette
oder in den Sozialwohnungen des Viertels Barriol. "Die Haltung der
Arlesianer ist sehr ambivalent", merkt Séverine Lhez vom Verband Yaka de
Gitana an, der eine unentbehrliche Vermittlerrolle bei allen
Umsiedlungsmaßnahmen gespielt hat und auch weiterhin spielt.(1) "Es gibt
Rassismus wie überall sonst auch, aber der musikalische Erfolg einer der
hiesigen Familien (weltbekannt als die Gipsy Kings) und die allgemeine
Freude am Flamenco dämpfen die Ablehnung teilweise. Doch auch hier bei uns
wird die Andersartigkeit als bedrohlich wahrgenommen."
Obwohl Arles in der Nähe von Les Saintes Maries de la Mer, einem bedeutenden
und traditionellen Pilgerort der Zigeuner liegt, ist es nicht der am
häufigsten aufgesuchte Rastplatz (die große Durchgangsstation der Region
liegt bei Miramas, ist allerdings sehr heruntergekommen).
Der Mikrokosmos Arles scheint von der Sicherheitshysterie, die den Rest
Frankreichs in Unruhe versetzt, fast verschont zu sein. "Natürlich müssen
sich alle Volksvertreter mit den Problemen der öffentlichen Sicherheit
auseinander setzen", versichert Schiavetti seinerseits. "Aber auch der
nationale Aufwind der Rechten ändert auf der kommunalen Ebene zunächst nicht
sonderlich viel. Arles ist ein Immigrationsgebiet, das sich durch eine hohe
Integrationsfähigkeit auszeichnet. Es absorbiert alles, auch die Fahrenden."
Auf ähnliche Integrationsbemühungen stößt man in Martigues, genauer: in der
Gemeinde Bargemont, einer Siedlung von neununddreißig im Jahr 1995 fertig
gestellten Häusern, in denen ebenfalls schon lange sesshafte
Manouche-Familien untergebracht sind. Freilich liegt der Komplex einige
Kilometer von der Innenstadt entfernt im Pinienwald, ausgestattet mit großen
Stellplätzen für Durchreisende und einem gesonderten Stellplatz für die
Wohnwagen der Dauermieter.
"Die Stadtverwaltung hat daran festgehalten, die Häuser so zu bauen ,wie alle
anderen hier' ", präzisiert der Leiter des Wohnungswesens, Pierre Cerdan,
nachdrücklich und geht damit auf Distanz zu dem Konzept des so genannten
angepassten Wohnens, wie es andernorts und vor allem bis zu einem gewissen
Grad in Arles umgesetzt wurde.
"Mit einem solchen Paternalismus erzeugt man nur neue Diskriminierung; bei uns
haben die Leute gelernt, ihre Miete, ihr Wasser, ihre Elektrizität zu zahlen
wie jedermann", bekräftigt Denis Klumpp, der Leiter der Association
régionale d'études et d'actions auprès des Tziganes (Areat(2)), die mit
einem in der Innenstadt eingerichteten Sozialzentrum den Familien als
Anlaufstelle dient und die Verwaltung der Stellplätze für Durchreisende
übernommen hat. Eine Verwaltung, die den Ruf hat, hart durchzugreifen, und
die auf diese Weise zu vermeiden sucht, dass die Stellplätze, die für
Durchreisende vorgesehen sind, beschädigt oder missbräuchlich von
Halbsesshaften in Beschlag genommen werden.
"Wir wissen ganz genau, dass vor allem die unzureichende Ausstattung der
Stellplätze und die schlechten Unterbringungsbedingungen zur Verunsicherung
eines großen Teils der umherziehenden Bevölkerung führen", erklärt Klumpp.
"Das Sarkozy-Gesetz(3) hat zumindest den Vorteil, dass die Stadtverwaltungen
nun gezwungen sind, endlich Stellplätze für Durchreisende zu schaffen. Nur
so können die Kommunen künftig die Fahrenden völlig legal fortschicken, wenn
diese außerhalb der dafür vorgesehenen kommunalen Grundstücke campieren."
Bloße Theorie? Allzu übertrieben optimistische Erwartungen? Das Gesetz vom Juli
2000 - das so genannte zweite Besson-Gesetz, benannt nach dem damaligen
Wohnungsbauminister -, das die Schaffung von Stellplätzen zwingend
vorschrieb, hatte die zögerlichen Stadtverwaltungen keineswegs dazu bewogen,
tatsächlich solche Plätze für Durchreisende zu schaffen.
Ein paar Kilometer entfernt ist der Tonfall erheblich aggressiver: "Ich habe
für diese Leute nichts übrig. Sie leben auf unsere Kosten, sie leben vom
Diebstahl, es wird Zeit, dass das aufhört." Diese Beschimpfungen an die
Adresse der Fahrenden ("Landplage" heißt es an anderer Stelle) stammen aus
dem Mund von Paul Girot de Langlade, dem Präfekten des Departements
Vaucluse. Die Worte klingen wie ein Freibrief für forcierte Vertreibungen
und spiegeln recht gut das neue politische Klima. Man erkennt den Kontext -
das Sarkozy-Gesetz. Die Tatsache, dass Innenminister Sarkozy später
versuchte, die Äußerungen von Girot de Langlade abzumildern, ändert kaum
etwas am Kern des Problems.
Nachdem den Fahrenden 1969 in Frankreich ein Rechtsstatus zugesprochen worden
war, hatte sich ihre Lage langsam verbessert, doch heute, unter dem
ökonomischen Druck und dem verschärften Sicherheitsbedürfnis der jüngeren
Zeit, hat sie sich wieder so sehr verschlechtert, dass alle Verbände zu
Recht beunruhigt sind. Seit September 2002 versuchen diese mit Anträgen und
Demonstrationen gegen die Artikel 19 und 19 a des Sarkozy-Gesetzes
vorzugehen, das - indem es besonders harte Sanktionen bei Verstößen gegen
das Rastverbot vorsieht - die bloße Existenz der Fahrenden letztlich wieder
zu einem Delikt macht - zumal wenn es keine offiziellen Stellplätze gibt.
Deshalb entstand denn auch das aus äußerst verschiedenen Verbänden
zusammengesetzte "Bündnis des 24. September", an dem sich verschiedene
gesellschaftliche Gruppen beteiligten.(4)
Am 11. und 27. Januar 2003 organisierten die Fahrenden Demonstrationen in Paris
und in mehreren Städten Frankreichs, bei denen sich über 5 000 Personen
versammelten.
Mit der besonders umstrittenen Frage der Stellplätze für Durchreisende stehen
auch die Grundrechte einer äußerst verunsicherten Bevölkerungsgruppe als
Ganzes auf dem Spiel: der Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen, zu
Wohnungen, zu Beschäftigung, der Kampf gegen Ausgrenzungen und
Diskriminierungen aller Art, letztlich die Wahrung einer Lebensweise und
Tradition, die das Frankreich des Herrn Sarkozy am liebsten von der
Bildfläche verschwinden sähe.
Seit sie als Gruppe schlicht mit Delinquenten gleichgesetzt wurden, äußern sich
die Fahrenden zunehmend besorgt: "Seit letzten Sommer fühle ich mich nicht
gut, ich sorge mich um unsere Kinder", bekundete ein Teilnehmer der
Demonstration am 11. Januar. "Wir sind nicht für die Missstände in diesem
Land verantwortlich. Wir wollen nicht den Verfolgungen ausgesetzt sein, die
unsere Eltern haben erleben müssen." Ein anderer ergänzte: "Die Sesshaften
müssen begreifen, dass die Zeichen, die hier und da aufleuchten, für
niemanden Gutes verheißen."
"Die verbalen Entgleisungen verweisen vor dem Hintergrund der eingeschränkten
Grundrechte auf ein zunehmend angespanntes Klima, und das betrifft die
Bevölkerung als Ganzes, auch wenn sie sich dessen vielleicht noch nicht
bewusst ist. Vorerst dienen lediglich die Fahrenden und einige andere so
genannte marginalisierte Bevölkerungsgruppen als Sündenbock", warnt José
Brun vom Verband "Regards", der außerdem das Projekt einer Siedlung der
Fahrenden in Indre-et-Loire leitet.
"Es wird immer schwieriger, Grundstücke zu finden und
Finanzierungsmöglichkeiten aufzutun. Kein Projekt kommt mehr durch. Alles
wird blockiert. Demnächst wird man uns nur noch dunkle Wälder,
Überschwemmungsgebiete oder Gelände, die niemand haben möchte, überlassen."
Das Gesetz zur inneren Sicherheit (das Sarkozy-Gesetz) geht in seinen Artikeln
19 und 19 a ausdrücklich auf die umherziehende Bevölkerung und auf die
Anwendung des Besson-Gesetzes vom 5. Juli 2000 ein, das verspätet
verabschiedet und bereits umstritten war, bevor es von einer kleinen Zahl
von Bürgermeistern, vor allem in der Ile-de-France, umgesetzt wurde.
Diesem zweiten Besson-Gesetz zufolge sollten alle Departements in den folgenden
18 Monaten (spätestens also bis zum 1. Januar 2002) einen Plan für die
Stellplätze der Durchreisenden entwerfen, der dann vom Präfekten und vom
Präsidenten des Generalrats des Departements in Absprache mit den Vertretern
der betroffenen Kommunen (solchen von mehr als 5 000 Einwohnern) sowie den
Fahrenden und ihren Verbänden in einer Beratungskommission(5 )detailliert
ausgearbeitet werden sollte. Im Falle der Nichteinhaltung der Fristen war
der Präfekt theoretisch ermächtigt, eigenmächtig den Plan zu entwerfen und
das vorgesehene Gelände für Stellplätze im Namen und auf Kosten der Kommune
zu schaffen.
Nichts dergleichen ist passiert. "Die Maßnahmen für die Stellplätze für
Durchreisende sind in vollem Gange", versichert man im
Wohnungsbauministerium. "Die Absprache mit den Bürgermeistern ist dringend
notwendig, da ohne die Mitarbeit von ihrer Seite jegliche Realisierung
unmöglich wäre. Aber jetzt müssten die Pläne der Departements bis Ende
Februar unterzeichnet werden. Der Minister hat es gefordert. Es ist der
Wille der Regierung, sie zu verwirklichen." An Ort und Stelle glaubt jedoch
niemand daran - das Sarkozy-Gesetz scheint die Abneigung der Bürgermeister
gegenüber dem Besson-Gesetz noch zu verstärken.
Aber schon dieses wurde fast nirgends umgesetzt. So schuf man innerhalb von
zehn Jahren in der Region Paris lediglich 560 Rastplätze, obgleich zwischen
6.000 und 8 000 erforderlich gewesen wären. Auf dem ganzen französischen
Staatsgebiet stehen zurzeit lediglich 10.000 Rastplätze zur Verfügung (nach
Angaben von Areat 8.000), obwohl 60.000 erforderlich wären (nach Angaben von
Areat 30.000). Die Unterschiede in den Zahlen resultieren daraus, dass die
Schätzung der Anzahl der Fahrenden selbst zwischen 300.000 und 800.000
Personen schwankt - je nach Verband, denn die als diskriminierend angesehene
Volkszählung wurde nicht anerkannt.
Die unzureichende Anzahl von Rastplätzen für Durchreisende hatte zur Folge,
dass ausgerechnet jene Bürgermeister, die sich engagiert gezeigt hatten,
häufig deutlich mehr Probleme bekamen als jene, die überhaupt nichts taten
und keine Rastplätze bereitstellten. Denn auf den wenigen eingerichteten
Rastplätzen gab es einen übermäßigen Andrang, was zu Spannungen mit den
Einwohnern führte, zu Problemen mit dem Schulbesuch, wildem Anzapfen von
Wasser- und Elektrizitätsleitungen, Sachbeschädigungen: An solchen
Folgeerscheinungen ist abzulesen, wie mangelhaft die Verwaltung das Problem
der Fahrenden behandelt. Wegen fehlender Wohnwagenstellplätze können Kinder
nicht zur Schule gehen, weshalb den Familien auch das Kindergeld verloren
geht.
Der zweite wichtige Aspekt, der der Ansiedlung, hängt zur Zeit, wie man in
Arles gesehen hat, einzig und allein vom politischen Willen vor Ort ab, die
einzige Finanzierungsmöglichkeit ist das Gesetz für Solidarität und
Stadterneuerung (das so genannten Gayssot-Gesetz, das am 13. Dezember 2000
verabschiedet wurde(6)), auf das man insbesondere in der Region von Paris
rekurriert.
In allen bereits realisierten Projekten taucht die Frage nach "vertrautem
Gelände" und gemischter Siedlungsweise auf. "Das ist ein neuer Plan, um
gegen die Marginalisierung zu kämpfen", erläutert man im
Wohnungsbauministerium. "Während einer gewissen Übergangszeit müssen die
Fahrenden sesshaft werden, dann können sie verschiedene Rechte, den
Schulbesuch und medizinische Versorgung einfordern. Doch es geht nicht um
eine vollständige Sesshaftwerdung, bei der man sich nicht mehr vom Fleck
rühren darf, sondern um einen Anlegehafen, einen geografischen Ankerpunkt,
den man bei Bedarf ansteuern kann. Eine Wohnung zu haben bedeutet nicht, das
Fahren aufgeben zu müssen."
Der unabhängige Architekt und Planer eines der ersten Projekte einer
erfolgreichen Ansiedlung in Toulouse (Ramonville, 1989), Luc Monnin, ist
weit radikaler: "Die Sesshaftigkeit ist eine räumliche, jedoch keine soziale
Realität", versichert er. "Sie ist die Antwort auf eine Pathologie, auf eine
psychologische Stresssituation, auf mangelnde Hygiene, auf schlechte
Lebensbedingungen. Ist diese besondere pathologische Reaktion auf den
Zustand der Gefährdung ausgeheilt und hat man sie korrekt wieder
angesiedelt, finden die Fahrenden zu ihrer Gewohnheit des Fahrens zurück.
Sobald das Problem des Überlebens überwunden ist, sind sie wieder in der
Lage, mehrere Monate im Jahr herumzureisen."
Mithin: jene Nomadenkultur aufrechtzuerhalten, die an vielfältige Tätigkeit und
jahreszeitliche Rhythmen gebunden ist - auch wenn manche der traditionellen
Tätigkeiten (Alteisenhandel, Korbflechterei und Berufe, die im Zusammenhang
mit der Obsternte stehen) verschwinden und durch neue Tätigkeiten wie
Fassadenreinigung, Malerarbeiten, Reparatur von Werkzeugen und chirurgischen
Geräten etc. abgelöst werden.
Letztlich bleibt jedoch bestehen, dass entgegen dem republikanischen
Staatsbürgerbegriff die Nomaden als eine Minderheit im Staat behandelt
werden. Und dass Frankreich fast das einzige westliche Land ist, das den
Umherziehenden Verwaltungsdokumente wie den alle drei Monate zu erneuernden
Wanderpass bzw. das Wanderbuch aufzwingt, die besondere Informationen wie
die Hautfarbe oder den Namen der Eltern enthalten.
Eine Diskriminierung in der Diskriminierung, die, wie die Soziologin Jacqueline
Charlemagne erläutert, "Unterschiede innerhalb dieser Population selbst
schafft: zwischen denen, die in einem Status extremer Unsicherheit leben
(Saisonarbeiter, fliegende Händler) und einen Wanderpass besitzen, und
denjenigen, die weniger marginalisiert sind (und einen Gewerbeschein haben
oder Lohn empfangen) und die in den Genuss des Wanderbuches kommen."
Erschwerend kommt hinzu: die Lage der Roma-Minderheiten in den künftigen
EU-Mitgliedstaaten, die durch Hunger und Armut gekennzeichnet ist, wie eine
jüngst vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Auftrag
gegebener Studie aufdeckte (siehe Kasten). Der Zustrom dieser Menschen hat
den ohnehin fragilen Status der Fahrenden in Frankreich weiter angekratzt.
Er liefert den Vorwand, dass die verschiedenen Gruppen der Fahrenden mittels
althergebrachter Klischees in einen Topf geworfen werden: In den Stereotypen
erkennen sich weder die Umherziehenden noch die Sesshaften noch die
Halbsesshaften, die allesamt seit Generationen französischer Nationalität
sind. Hinzu kommen durch den Zustrom auch Konflikte zwischen den
Gemeinschaften - und dies in einem Moment, in dem es wichtig wäre, sich
miteinander zu verbünden.
Öffnung nach außen
EBENSO hat das Phänomen der Pfingstbewegung,(7 )die in den letzten zwanzig
Jahren an Bedeutung gewann, die früheren Gewichte stark verschoben. "Der
Verband Vie et Lumière hat eine enorme Macht", räumt José Brun ein. "Er ist
als einziger in der Lage, 70 000 Personen bei einer einzigen Versammlung
zusammenzubringen. Seine Macht besteht im Unterschied zur katholischen
Kirche, die den Zug verpasst hat, darin, dass alle ihre Pfarrer Fahrende
sind." Vie et Lumière hat in Frankreich nicht weniger als 1 300 Pfarrer (von
denen keiner sesshaft ist), die alle von der protestantischen Föderation
Frankreichs anerkannt sind. Die einen halten sie für sektiererisch, die
anderen für mafios; eine derartige Polarisierung bringt in jedem Fall eine
Gefahr mit sich: die des kulturellen und geistigen Rückzugs - dort, wo die
Öffnung notwendiger wäre denn je.
So misstrauen die Pfarrer dem öffentlichen Schulsystem - auch wenn sie
vorgeblich zum Schulbesuch ermutigen -, denn sie fürchten, dass dadurch die
Öffnung zur Außenwelt begünstigt wird. Die meisten möchten ihren Einfluss
auf die Gruppen unter ihrer Obhut nicht geschmälert wissen. Gegenüber der
jungen und offeneren Generation gebärden die Pfarrer der alten Generation
sich häufig fortschrittsfeindlich. Sie hüten sorgfältigst die eigenen
Bräuche und ihre Kultur und fürchten, dass die Frauen und die jungen Mädchen
durch den Schulbesuch zu viel Selbstständigkeit gewinnen könnten, was für
die Gruppe eine große Herausforderung wäre.
Auf der anderen Seite repräsentieren junge Leute wie Vincent Ritz und José
Brun, 31, vom Verband "Regards" oder Céline Larrivière von dem nur aus
Fahrenden bestehenden Verband Les gens du voyage (Menschen auf Reisen) eine
wenn auch unsichere, so doch reale Zukunft. "Wir wollen zeigen, dass es uns
gibt, einen anderen Blick befördern, unsere Sichtweise ausdrücken, auch wenn
unsere Auffassungen mitunter unbequem sind." Die häufigste Kritik an diesen
jungen, nicht subventionierten Verbänden ("Das garantiert unsere
Unabhängigkeit") lautet, sie seien nicht repräsentativ: "Wir reden von
Legitimität, nicht von Repräsentativität", antworten sie. "Es ist an uns,
die Planer und Führungspersönlichkeiten von morgen zu erziehen."
Trotz der vielen Hindernisse sind sie optimistisch, dass ein gemeinsames
Vorgehen sinnvoll ist, auch gemeinsam mit Vie et Lumière. "Man darf sich an
dem zunehmenden Protestantismus nicht stören. Das wichtigste ist, dass die
wesentlichen Merkmale unserer Kultur erhalten bleiben, dass wir unsere
Identität bewahren und uns gleichzeitig der Außenwelt öffnen. Die
Unterschiede auf sich beruhen zu lassen, gemeinsam voranzukommen, alle
Rassenmischungen zuzulassen, alle Zigeuner zu vereinigen, ob sie nun
Fahrende, Sesshafte oder Halbsesshafte sind, ob sie Manouches, Roma,
Gitanos, Jenische oder Sinti sind, ob sie im Norden oder im Süden
Frankreichs wohnen, ob sie katholisch, protestantisch oder areligiös sind.
Ohne die Nützlichkeit jener Verbände zu verkennen, die seit langem unter den
Fahrenden arbeiten. Aber auch nicht ohne deren Neopaternalismus in Frage
stellen zu dürfen." Niemand soll es zukünftig wagen, die Fahrenden als
"Hühnerdiebe" zu bezeichnen - außer sie tun es selbst, zum Spaß.
deutsch von Petra Willim
Fußnoten:
(1) Der Fotograf Mathieu Pernot, der mehrere Bücher über die Roma von Arles und
das Lager von Saliers veröffentlicht hat, gründete 1996 den Verband, der
viel zur Sensibilisierung für die Probleme jener Roma-Familien beigetragen
hat, die völlig mittellos sind. Der Verband ist in den Bereichen Bildung,
Gesundheits- und Wohnungswesen aktiv.
(2) Dieser Verband, im Jahr 1968 gegründet, kümmert sich vor allem um die
Unterbringung von Fahrenden und um die Ausstattung und Verwaltung von
Stellplätzen für Durchreisende. Darüber hinaus führt er Bildungs-,
Forschungs- und Beratungsmaßnahmen im sozioedukativen Bereich durch.
(3) Das Gesetz wurde am 13. Februar 2003 endgültig verabschiedet. Es sieht eine
große Anzahl von Einschränkungen fundamentaler Grundrechte vor - unter dem
Vorwand, die innere Sicherheit zu stärken und den Anstieg der Kriminalität
zu verhindern.
(4) ANGVC, Arpomt, ARTNF, ASDT, Centre culturel gitan, Etudes tziganes, Les
Français du voyage, ONAT, Regards, Unisat, Uravif.
(5) Für die Verwirklichung dieser Pläne, die die Schaffung von kommunalen oder
auch interkommunalen Stellplätzen für Durchreisende festlegen, hatte die
Regierung Jospin über einen Zeitraum von vier Jahren eine Haushaltssumme von
1,7 Milliarden Francs als staatliche Investitionshilfe vorgesehen und den
Anteil von 35 auf 70 Prozent der Kosten erhöht. Die Hilfe für die Verwaltung
der Gelände soll 1 660 Euro pro Jahr und Platz, das heißt circa 50 Millionen
Euro pro Jahr betragen. Die Kommunen haben nach der Veröffentlichung der
Pläne zwei Jahre Zeit, um die Stellplätze anzulegen.
(6) Dessen Artikel 55 verpflichtet die Kommunen mit mehr als 50 000 Einwohnern,
innerhalb der nächsten zwanzig Jahre 20 Prozent ihrer Siedlungsfläche mit
Sozialwohnungen zu bebauen, und droht im Falle der Nichteinhaltung mit
Geldstrafen. Die Regierung Raffarin hat vor allem diese Anordnung in Frage
gestellt.
(7) Die Pfingstbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den schwarzen
Methodisten der Vereinigten Staaten aufkam, zählt mittlerweile 150 Millionen
Gläubige weltweit. Die Besonderheit ihres Glaubens besteht darin, die Gaben
des Heiligen Geistes - in "fremden Zungen" (das heißt in dem Sprechenden
selbst unbekannten Sprachen) reden, Wunderheilungen, Prophetie, Exorzismus
etc. -, wie sie in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte enthalten
sind, für real und gegenwärtig zu halten und zu praktizieren.
Le Monde diplomatique Nr. 7055 vom 16.5.2003, 599 Zeilen,
CHANTAL AUBRY
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Der von dem Entwicklungsprogramm der Vereinten
Nationen (UNDP) veröffentlichte "Roma Regional Development Report"
ist die erste umfassende Studie über die Roma in Mittel- und
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haGalil onLine 09-07-2003
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