Antisemitismusvorwurf:
… die Augen fest geschlossen
Von Micha Brumlik
taz vom 16.09.2003
In Jerusalem starben kürzlich einundzwanzig
unschuldige jüdische Menschen, darunter Kinder - allesamt keine Kombattanten
- eines grauenhaften Todes durch einen Bombenanschlag. Vor Wochen galten
islamistische Anschläge auch jüdischen Institutionen in Casablanca. Die neue
argentinische Regierung hat die Verstrickungen der damaligen iranischen
Regierung auf jüdische Einrichtungen in Buenos Aires offen gelegt. Ted
Honderich, ein weltfremder kanadischer Philosoph, hält derlei Mordtaten
nicht etwa für soziologisch erklärbar und verständlich, sondern ausdrücklich
für "moralisch gerechtfertigt". Diese Überlegung "antisemitisch" zu nennen,
gilt als überzogen, und auch jüdische Intellektuelle, die schon mal nervöser
waren, raten heute zur Gelassenheit. Schließlich, so Michal Bodemann in der
taz, gebe es heute andere, gefährlichere Formen von Rassismus.
Mit dieser Bemerkung mögen sie sogar Recht
haben, denn der Judenhass des radikalen Islamismus ist in der Tat nicht im
darwinistischen Sinne rassistisch. Vielleicht - ich bezweifle das - würde
al-Qaida sogar zum Islam konvertierte Juden in ihren Reihen dulden.
Geht es also nur um eine Frage der Terminologie?
Darf also nur wer aus dem Rassismus der Nazis heraus Juden hasst, schmähen,
schädigen und umbringen will, als "Antisemit" bezeichnet werden? Sollte das
die Sorge sein, schlage ich eine terminologische Änderung vor, die der
Geschichte auch eher entspricht. Sprechen wir also von Judenhass und seinen
durchaus wandelbaren Formen: von der "Judaeophobie" der paganen Antike, dem
"Antijudaismus" der christlichen Kirchen, vom "Antisemitismus" der
Völkischen und Sozialdarwinisten sowie vom "paranoiden,
radikalislamistischen Antizionismus".
Diese Weltanschauung, die - wie der israelische
Historiker Yehuda Bauer zu Recht gezeigt hat - neben Nationalsozialismus und
Stalinismus als dritte große totalitäre Ideologie des letzten und dieses
Jahrhunderts gelten darf, verfügt weder über die staatliche noch über die
militärische Macht, über die Hitler und Stalin, Pol Pot oder Mao Tse-tung
verfügten, wohl aber über ein ähnlich geschlossenes, totalisierendes,
manichäisches, antidemokratisches und paranoides Weltbild sowie über eine
ebenso starke destruktive Intention.
Matthias Küntzel hat in seinem noch zu wenig
bekannten Buch "Djihad und Judenhass" gezeigt, in welchem Ausmaß sich der
radikale Islamismus in Gestalt seiner gedanklichen Urheber, des Gründers der
Muslimbrüder, Hassan al-Banna, und Sayd Qutbs, dem judenfeindlichen
Faschismus der Dreißigerjahre verdankt - dem Umstand zum Trotz, dass sie als
Muslime Darwins Evolutionstheorie und demnach auch den Darwinismus
verwarfen.
Mancher vermag vielleicht Schadenfreude darüber
empfinden, dass das israelische Besatzungsregime im Gaza-Streifen vor Jahr
und Tag, um die PLO zu schwächen, die Anfänge von Hamas gefördert hat.
Dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, dass Hamas, als
Wohlfahrtsinstitution vielen Palästinensern behilflich, eine Organisation
ist, die sich programmatisch einem eliminatorischen Judenhass verschrieben
hat und nicht nur einem Kampf gegen die Besatzung. Die 1988 verfasste Charta
von Hamas ist u. a. mit einem Ausspruch Hassan al-Bannas überschrieben, der
hier feststellt, dass "Israel aufstehen und aufgerichtet bleiben wird, bis
der Islam es ebenso eliminieren wird wie all seine Vorläufer". Im Artikel 22
der Charta ist zu lesen, dass "sie" (d. h. Juden und "Zionisten") hinter der
Französischen und der kommunistischen Revolution standen und geheime
Organisationen wie die Freimaurer, die Rotarier, den Lions Club und Bnai
Brith gegründet haben. "Sie" hätten zudem Geld verwendet, um
imperialistische Staaten zu kontrollieren sowie um kolonisierte Länder
auszubeuten und zu korrumpieren. Sie standen hinter dem Ersten Weltkrieg und
haben das Kalifat ausgelöscht und die Balfour-Deklaration errungen, "um die
Welt mit den Mitteln ihrer Organisation" zu regieren." "Sie" hätten die
Gründung der UN und des Sicherheitsrates inspiriert und den Völkerbund
ersetzt.
Hamas versteht sich schließlich als Teil der
Muslimbrüder, und auch führende Persönlichkeiten anderer
radikalislamistischer Organisationen, etwa einige Führer der algerischen
Front Islamic du Salut, sehen sich diesem Weltbild verpflichtet - von Bin
Laden und seinem Kampf gegen Juden und Kreuzfahrer gar nicht zu sprechen.
Überreagiert also, wer die Unterstützung dieses Gedankenguts durch einen
akademischen Philosophen, der zudem den Boykott israelischer
Wissenschaftsinstitutionen ohne Ansehen ihrer politischen Meinung fordert,
folgewirksam bekämpfen möchte?
Was aber die Forderung betrifft, sich wesentlich
gefährlicheren Formen des Rassismus zuzuwenden, so beweist sie nur den
bornierten deutschen Blick. Ein Blick auf Frankreich könnte die Augen
öffnen. Dort verzeichnet die Statistik 1999 neun antisemitische Aktionen, im
Jahr 2000 aber schon einhundertundsechzehn, bis Ende des Jahres 2001 waren
es zweihundert. Im Oktober 2000 wurden dort drei Synagogen angezündet, im
November ein jüdischer Kindergarten in Paris - glücklicherweise ohne Opfer.
Im Februar 2001 explodierte ein Brandsatz in einer jüdischen Schule in
Sarcelles und so weiter und so weiter. Im Jahr 2000 waren ein Drittel der
Franzosen der Meinung, dass die Juden zu viel Macht hätten, vorher glaubte
das nur jeder Zehnte.
All das lässt sich gewiss auch durch eine
verfehlte französische Immigrationspolitik erklären. Aber warum trifft es
dann die Juden? Warum, so fragt der französische Menschenrechts- und
Rassismustheoretiker Pierre Andre Taguieff, der diese Zahlen gesammelt hat,
werden diese Angriffe radikalislamistischer Jugendlicher von vielen
wohlmeinenden Linken eigentlich nicht als "rassistisch" bezeichnet - obwohl
sie doch pauschal Menschen gelten, die mit dem Palästinakonflikt gar nichts
zu tun haben, wohl aber Juden sind?
Im radikalislamistischen Terror äußert sich von
Indonesien über Marokko und Frankreich bis nach Israel ein mörderisches
Weltbild, das davon ausgeht, dass alle Juden Zionisten sind, alle Zionisten
aber Imperialisten, Kolonialisten und Rassisten - alle Juden mehr oder
minder wie die Nazis sind. Schließlich kann kein Zweifel daran bestehen,
dass der Anschlag auf das WTC ein - mindestens auch - judenfeindlich
motiviertes Verbrechen gewesen ist. Leider hat die seitens der hiesigen
Parteigänger von George W. Bush losgetretene Debatte über
"Antiamerikanismus" diesen spezifisch antisemitischen Kern des radikalen
Islamismus verdrängt.
Zu Bodemann und Seligmann lässt sich angesichts
all dessen nur noch vermerken, dass ihre demonstrative Gelassenheit einem
doch sehr deutschen Pfeifen im inzwischen globalen Wald gleichkommt.
Antisemitismus:
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Diskussion:
Der panische Philosemitismus
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16-09-2003 |