Die Station Wannsee
Elijahu Salpeter, haArez
Am Sonntag jährt sich zum 60. Mal das Stattfinden der
Konferenz am großen Wannsee bei Berlin, bei der 15 Staatsbeamte und die
Spitze der Nazipartei über die „Endlösung der Judenfrage“ beraten haben.
Der 20. Januar 1942 ging als der Tag in die Geschichte ein, an dem die
Deutschen die Vernichtung der „jüdischen Rasse“ beschlossen haben.
Der bevorstehende Jahrestag wirft wieder eine Reihe
philosophischer und technischer Fragen bei Juden und Deutschen auf.
Deutsche Intellektuelle suchen vergeblich eine Erklärung dafür, wie es
passieren konnte, dass das kultivierteste Volk des europäischen
Kontinents dazu fähig war, das schrecklichste Verbrechen der modernen,
vielleicht sogar der gesamten westlichen Geschichte zu verüben. Und
jeder gläubige Jude muss sich, ob er will oder nicht, fragen, wie der
Gott Israels die Vernichtung von sechs Millionen Angehörigen seines
auserwählten Volkes zulassen konnte.
Gibt es eine besondere Charaktereigenschaft des
deutschen Volkes, die die mörderischen Instinkte zu einem derartigen
Höhepunkt treiben konnte? Und gibt es eine besondere
Charaktereigenschaft des jüdischen Volkes, die es zum Opfer dieses
einzigartigen Bösen werden ließ?
Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dass es
dem Volk, aus dem die Mörder stammen, leichter fällt, solche Fragen
unter der Geschichte der Zerstörung und des Wiederaufbaus zu begraben,
als dem Volk der Opfer. Aber sie tauchen immer wieder auf, bei beiden
Seiten. In Israel wurden die Wunden nach Äußerungen von Orthodoxen
wieder aufgerissen, wie zum Beispiel von Rabbiner Ovadia Josef, der vor
einiger Zeit sagte, die Holocaustopfer seien auf die Welt gekommen, um
für die Sünden zu sühnen, die in einem früheren Leben begangen wurden.
Oder auch durch die Äußerungen des Ministers Nissim Dahan, der sagte,
Assimilation, nicht der Holocaust, sei die größte Katastrophe in der
Geschichte des jüdischen Volkes.
Auf der deutschen Seite ist der Versuch, sich mit dem
Holocaust und der Schuld auseinander zu setzen, noch immer ein zentrales
Thema, sowohl im politischen Leben, als auch in Diskussionen über Moral
und Philosophie. Die Zahlungen, die Mahnmale zum Andenken an den
Holocaust und die Museen für die Dokumentation der jüdischen
Vergangenheit sind eine Seite des anhaltenden Konflikts. Die andere
Seite sind die neonazistischen Demonstrationen gegen die Bewahrung der
Schuld. Zum Beispiel gegen die Ausstellung über die Verbrechen der
Wehrmachtssoldaten.
Ein anderer Aspekt ist die Diskussion, die in den
letzten Wochen über die Frage entstanden ist, wann, durch wen und wie
über die „Endlösung“ entschieden wurde. Wurde die Entscheidung
tatsächlich im Januar 1942 getroffen, und wirklich von den
Staatsbeamten, die in der Villa am Wannsee zusammengetreten sind? Und
erneut die faszinierende Frage: Warum wurde kein schriftliches Dokument
aufgefunden, das beweist, dass Hitler selbst die ausdrückliche Anweisung
zur Judenvernichtung erteilt hat? Hat irgendein unbewußter Zweifel ihn
daran gehindert, seine Unterschrift unter ein solches Dokument zu
setzten?
Gemäß des Protokolls der Wannsee-Konferenz haben an ihr
Vertreter vom Rang eines Staatsministers teilgenommen, jedoch nicht die
üblichen Personen - weder Hermann Göring oder Heinrich Himmler, noch
Alfred Rosenberg oder Adolf Hitler selbst. Viele Historiker zweifeln
daran, dass die Vertreter bei der Wannsee-Konferenz überhaupt befugt
waren, über die Vernichtung der Juden zu entscheiden.
Die „Säuberung“ Deutschlands und danach ganz Europas
vollzog sich in drei Phasen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lag die
Betonung auf der Förderung der Emigration der Juden aus dem Staatsgebiet
Deutschlands. Danach folgte die Verbannung in die Gebiete, die von der
deutschen Armee erobert wurden, vor allem in Osteuropa. In der letzen
Phase erfolgte der Massenmord, der in eine präzedenzlose
Vernichtungsindustrie ausartete. Die Massenvernichtung der Juden der
UdSSR begann jedoch schon Monate vor der Wannsee-Konferenz. Vernichtung
in Gaskammern wurde dort schon im Dezember 1941 vorgenommen, und es
wurde zwischen „Verbannung“ in Ghettos und Lager, und „Entfernung“ oder
„Endlösung“ differenziert, was ein Synonym für allgemeine Vernichtung
war.
Aus dem Protokoll der Konferenz lässt sich entnehmen,
dass Heinrich Heydrich dort einen Vortrag über die Notwendigkeit
„richtiger Koordination“ bei allem, was für die „Festlegung einer
umfassenden Lösung der Judenfrage“ erforderlich ist, gehalten hat. Aus
seinen Äußerungen kann man verstehen, dass die „Lösung“ noch nicht
gefunden wurde. Aus den Tagebüchern Himmlers, die nach dem Krieg
entdeckt wurden, geht jedoch hervor, dass schon im November 1941 - zwei
Monate vor der Konferenz- Treffen zwischen Himmler und Heydrich
stattgefunden haben, bei welchen Beratungen über die „Vernichtung der
Juden“ auf der Tagesordnung standen.
Die Diskussion über die Frage, was genau bei der
Wannsee-Konferenz entschieden wurde und wie man zu der Entscheidung über
die Vernichtung der Juden gelangt ist, ist nicht nur eine Debatte für
die Historiker. Die Geschichte von heute ist die Politik von gestern,
und die Geschichte von morgen ist die Politik von heute. Fast jedes neue
Buch zu diesem Thema (Bücher über den Holocaust erscheinen ständig, und
viele von ihnen werden zu Bestsellern) gibt Aufschluss über den
„flexiblen“ Charakter der Wannsee-Beschlüsse.
Der Holocaust hat sich stufenweise entwickelt, ohne
einen großen Plan, der von vorneherein in allen Details festgelegt
worden war. Er entstand aus einer Vielzahl mörderischer Initiativen, die
sich auf die Bereitschaft eines großen Teils des deutschen Volkes
stützten, dabei mitzumachen. Die Wannsee-Konferenz war nur eine Station
- vielleicht die wichtigste - auf dem Weg zur Vernichtung des
europäischen Judentums.
Weitere Informationen:
Haus der Wannsee-Konferenz
haGalil onLine
20-01-2002 |