Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob
es mehr als eine Kultusgemeinde geben soll. Ich persönlich finde, dass die
Nachteile überwiegen, aber gleichzeitig fürchte ich, dass die Politik und
Haltung der I.K.G. sehr schnell zu einer Spaltung führen könnten. Ein viel
größeres Problem scheint mir jedoch, dass sich immer mehr Mitglieder von der
Israelischen Kultusgemeinde (IKG) abwenden.
Angesichts unserer Jahrtausende alten
Tradition beim geringsten Anlass sofort eine neue Schule, eine neue
Gemeinde, eine neue Partei zu gründen, grenzt es an ein Wunder, dass es in
Wien nur eine jüdische Gemeinde gibt.
Der unter uns Juden weit verbreitete Hang zum
Nonkonformismus hat ja durchaus etwas Erfrischendes, Lebendiges. Waren die
Menschen in der nichtjüdischen Welt untergeordnet, in ihrer Meinungsäußerung
und sogar Gedankenfreiheit eingeschränkt, ergab sich für uns Juden schon aus
dem Talmudlernen die Notwendigkeit, alles und jeden zu hinterfragen. So gab
es immer genug Raum für Kontroverse. "Tomer doch" (falls schon?) oder
"Efscher Nischt" (vielleicht nicht?) sind nicht zufällig sehr geläufige
jiddische Redewendungen.
Doch die Gründung weiterer Kultusgemeinden,
also eine Spaltung der IKG, ist derzeit ein Minderheiten-, ja ein
Außenseiterprogramm. Die Bruchlinien gehen nicht durch die Mitte der
Gemeinde.
Vorerst ist es nur Moishe Arye Friedman, der
die Gründung einer Konkurrenz zur I.K.G. anstrebt (siehe auch den
ausführlicheren Artikel von Alexia Wernegger in dieser Ausgabe von NU). Er
bezeichnet sich selbst als Rabbiner und hat sich noch dazu mit der FPÖ
eingelassen. Sein Anliegen ist ein völlig sinnloses und aussichtsloses
Unterfangen.
Etwas schwieriger könnte die Situation durch
die Reformgemeinde "Or Chadash" werden. Inspiriert durch die neu engagierte
Rabbinerin Goodman-Thau könnte diese Gemeinde den mühsam ausgehandelten
Ausgleich in der I.K.G. gefährden. Die Orthodoxie, ohnehin unglücklich mit
dem Stil der I.K.G. seit der Wahl von Dr. Ariel Muzicant, hat vor zwei
Jahren bereits einen eigenen Dachverband - vorerst nur auf
vereinsrechtlicher Basis - gegründet und steht Gewehr bei Fuß.
So flexibel die orthodoxen Gruppen in vielen
Fragen, vor allem angesichts ihnen gewährter, finanzieller Kompensationen
sind, lassen sie in der Frage von Reformgemeinden keinen Spielraum offen.
Tritt also etwa "Or Chadasch" bei den Kultuswahlen als eigene Liste an (was
ihnen unter Einhaltung der Erfordernisse der Wahlordnung ja nicht verwehrt
werden könnte), verlassen die Orthodoxen die I.K.G. und gründen - sicherlich
mit mehr Erfolg als der zwielichtige Friedman - eine eigene Kultusgemeinde.
Gäbe es in Wien zwei oder mehrere jüdische
Gemeinden würde sich allerdings einiges klären, könnten und müssten sich die
jeweiligen Gemeinden ein schärferes Profil geben, entsprechende Aktivitäten
setzen, sich in einen Wettbewerb begeben. Die Juden Wiens könnten davon nur
profitieren. Dem entgegen steht vor allem die österreichische Politik mit
ihrem unwillkürlichen Bestreben, die jüdische Gemeinschaft durch Spaltung -
"divide et impera" - gegeneinander auszuspielen und damit insgesamt zu
schwächen. Das vor allem macht Abspaltungsüberlegungen derzeit so
gefährlich.
Doch die Neigung der derzeitigen Führung der
I.K.G., sich dieses Argument zunutze zu machen und alle Andersdenkenden und
Kritiker hinter sich zu zwingen oder zum Schweigen zu bringen, wird
spätestens mittelfristig gravierende Folgen haben: Bei steigendem Innendruck
wird eine Spaltung irgendwann unvermeidlich. Doch das aktuellere Problem
ist, wie gesagt, dass sich nicht mehr Mitglieder von der Gemeinde abwenden.
Allen voran mangelt es der I.K.G. derzeit
völlig an einer Vision für die Zukunft der Juden in Wien. Noch bevor sie
sich mit der Frage beschäftigen können, wie sie ihr Judentum leben wollen,
wird ihnen schon die Frage gestellt: "Ja, dürfen die das überhaupt?"
Selbstverständlich ist es langfristig sehr
schwer, die unterschiedlichen Strömungen im Judentum unter einem Hut zu
halten. Anstatt aber das Problem als Bedrohung zu begreifen und die
verschiedenen Richtungen und dahinterstehenden Menschen zu bekämpfen, wäre
es Aufgabe, diese Verschiedenheit im Gegenteil als Chance, als Bereicherung
zu erfassen.
Warum kann die I.K.G. nicht die verschiedenen
Richtungen, in ihrer Unterschiedlichkeit bei ihrer Entfaltung unterstützen?
Ohne eine Uniformität einzufordern, ja sogar zu erpressen, die eben nicht
vorhanden ist. Juden, nicht nur in Wien, begreifen sich nun mal sehr
unterschiedlich in ihrer Identität und das ist vorerst einmal kein Fehler.
"Als Jude war ich dafür vorbereitet, in die
Opposition zu gehen und auf das Einverständnis mit der "kompakten Majorität"
zu verzichten", sagte Sigmund Freud in einer Rede vor der B'nai B'rith.
Dieser Freiraum, diese Beweglichkeit im Denken, war für Freud eine der
Gründe, die ihm ermöglichten, die Welt mit der Entwicklung der Psychoanalyse
zu revolutionieren. Eine Freiheit im Denken, die nicht nur gegenüber der
Welt draußen, sondern umso mehr nach innen zu gelten hat.
Geben wir doch zuerst einmal den Religiösen
Raum und jenen, die sich überhaupt nicht über die Religion als Juden
definieren. Lassen wir doch zu, dass sich wegen eines nicht eindeutig
bestimmbaren, aber dennoch nicht minder starken Gefühls als Juden fühlen -
oder als "psychologische Juden", wie sie Yosef Hayim Yerushalmi, Professor
für jüdische Geschichte und Kulturwissenschaften an der Columbia University,
bezeichnet. Juden, die sich über typisch jüdische Eigenschaften definieren,
wie unter anderem Intellektualität und geistige Unabhängigkeit, höchste
ethische und moralische Normen, Sinn für soziale Gerechtigkeit und
Unbeirrbarkeit angesichts Verfolgung.
Genau dazu, genau für diese Mitglieder unserer
Gemeinde - und ich denke, es ist vielleicht sogar eine Mehrheit, die sich,
für manche vielleicht ein wenig diffus, so als Juden definieren - wäre ein
offenes, kontroverses, intellektuell anregendes Programm im Gemeindezentrum
nötig. Es wäre eine Jugendarbeit nötig, die viel mehr bietet als die
bestehende religiöszionistische B'nai Akiva, der sozialistisch-zionistische
Schomer oder die Sicherheitsgruppe für die Älteren. Es wäre eine Zeitung
nötig, die Forum für spannende Diskurse und Diskussionen ist. Und es wäre
zumindest eine gewisse Bewegung in religiösen Fragen nötig, die die durch
die Shoah verursachte Erstarrung löst.
Nur wenn es die I.K.G. schafft, diese Vielfalt
vielmehr zu fördern statt wie bisher zu unterdrücken, dieser Entwicklung des
Geistes in bester jüdischer Tradition Eintritt in ihre Institutionen und
Einrichtungen zu gewähren, lässt sich vielleicht auch in der Zukunft der
Bogen einer Einheitsgemeinde spannen.