Michel Friedman ist Vizepräsident des Zentralrats der Juden,
Fernsehmoderator, CDU-Mitglied und Querdenker. Im Gespräch mit unserer
Berliner Redaktion kritisiert er die Politik der Beliebigkeit, die unter
Kohl begonnen habe und von Schröder nahtlos fortgesetzt werde.
Herr Friedman, vor noch nicht einmal einem Jahr fand in Berlin mit
viel Prominenz der "Aufstand der Anständigen'' statt. Jetzt urteilt ein
deutsches Landgericht, dass man sie ungestraft einen "Zigeunerjuden''
nennen darf. War denn der ganze "Aufstand'' für die Katz?
Dem so genannten Aufstand der Anständigen müsste ein Aufstand der
Zuständigen folgen. Der hat bisher nicht stattgefunden. Die Zuständigen
sind beispielsweise die Gerichte, die dafür da sind, die Opfer zu
schützen. Das Kemptener Urteil schützt den Täter und nicht das Opfer -
es setzt das falsche Signal in die rechtsradikale Szene und ermutigt
sie. Es verschiebt zudem grundsätzlich das Koordinatensystem: Wenn
"Zigeunerjude'' in Deutschland nicht Beleidigung ist, was dann?
Der Sinn des "Aufstands der Anständigen'' war es doch gerade,
Bewusstsein zu wecken, Gewissen zu schärfen.
Ich muss zugeben, dass dieser Prozess bisher nicht erfolgreich war. Die
Zahl der menschenverachtenden Gewalt - ich benutze bewusst nicht den
Begriff Rechtsradikalismus, weil er verharmlost - ist in den vergangenen
Monaten weiter gestiegen. Aber noch etwas anderes müssen wir bestürzt
sehen: Die Art und Weise, wie in so genannten gut bürgerlichen Kreisen
Vorurteile und geschlossene Denkmodelle formuliert werden, ist
erschreckend. Aus den Hinterzimmern der Kneipen ist die Denkweise der
Stammtische in den vergangenen Jahren mehr und mehr in die Mitte, in die
bürgerlichen Wohnzimmer hineingeschwappt.
Wie wollen Sie dem Einhalt gebieten?
Wir müssen uns in einer Grundfrage entscheiden: Wie viel Grundrecht auf
Abweichen lässt die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland zu? Je weniger
sie das tut, desto gefährdeter sind die Minderheiten. Je mehr sie das
tut, desto mehr Sauerstoff haben sie. Unsere Gesellschaft bewegt sich
derzeit auf eine dubiose, nicht greifbare Mitte zu. Was ist eigentlich
mit denen, die nicht zu dieser Mitte gehören wollen? Sind sie ein Teil
der Gesellschaft oder nicht? Die Entpolitisierung und die gleichzeitige
Normierung unserer Gesellschaft führt dazu, dass sichtbare oder
unsichtbare Abweichungen immer weniger toleriert, immer mehr diffamiert
werden. Dazu kommt dann noch eine politische Verantwortungslosigkeit,
mit verantwortlichen politischen Themen umzugehen, eine Untätigkeit der
Politiker, die früher oder später dazu führen wird, dass die Bevölkerung
sich wieder die Sündenböcke sucht, die immer herhalten mussten.
Spielen Sie dabei auf die Zuwanderungsdebatte an?
Ich spiele auf verschiedene Dinge an. Ich finde es zum Beispiel
bemerkenswert, dass der hessische Ministerpräsident Roland Koch die
Schwerpunkte für seine politische Arbeit in den kommenden Monaten nicht
über die Steuerreform, nicht über die Gesundheitspolitik, nicht über die
Rentenreform, nicht über die Arbeitslosigkeit definiert, sondern über
den dubiosen Begriff der nationalen Identität. Zu einem Zeitpunkt, zu
dem wir den Euro eingeführt haben und ich eine europäische Identität
haben möchte. Ich finde es ebenso bemerkenswert, wenn ein Bundeskanzler
im Zusammenhang mit Arbeitslosen von Faulenzern spricht - und damit ein
typisches Klischee und Stereotyp der bürgerlichen Gesellschaft bedient.
Ihre Kritik gilt allen Parteien?
Ja, denn es gibt aus allen Parteien bestürzende Signale für eine
wachsende Bereitschaft, die, die sich dem allgemeinen Konsens nicht
anschließen wollen oder können, auch verbal auszugrenzen - durch die
Verwendung von Bildern, die am Stammtisch auch so gezeichnet werden.
Deshalb ziehe ich das Thema auch weg von den klassischen Rassismen
Ausländer, Asylanten, Juden. Es geht wirklich um die Frage, wie geht
diese Gesellschaft mit Leuten um, die nicht diesen Mittebegriff
repräsentieren. Die Frage der Toleranz immer wieder auf sichtbare
Minderheiten zu reduzieren bringt nicht weiter. Es darf nicht um Frauen
gehen, um Juden, um Schwule, um Ausländer. Wenn das Selbstverständnis in
einer Gesellschaft stimmt, brauche ich keine besonderen Regelungen mehr
für Schwule. Stimmt es nicht, helfen solche Regelungen nur
oberflächlich.
Ist diese Entwicklung, die Sie konstatieren, auch eine
Generationsfrage?
Auch wenn es so wäre, wäre dies keine Entschuldigung. Nein, in den
letzten Jahren der Regierung Kohl hat eine Politik-Beliebigkeit
eingesetzt, die sich bei Gerhard Schröder fortgesetzt hat. Das ist
gefährlich. Wir brauchen eine inhaltliche Streitkultur in der Politik.
Wir brauchen Profil, Inhalte, die über Personen transportiert werden.
Wenn die beiden großen Volksparteien austauschbar sind, dann ist dies
ein Problem für die politische Kultur. Es kann in der Zeit des größten
Umbruchs in dieser Gesellschaft seit 1945 nicht sein, dass diese beiden
politischen Strömungen so identisch sind.
Haben Sie eine Erklärung?
Es kommt der Politikträgheit der Bevölkerung entgegen, der Faulheit,
sich mit Politik wirklich auseinander zu setzen. Aber ich warne: Eine
Gesellschaft, die in der Konsenssoße so erstickt wie wir, entpolitisiert
sich in einer Zeit, in der eine hochpolitisierte Gesellschaft eigentlich
notwendig wäre. Wir müssen uns streiten. Ich leiste meinen Beitrag dazu.
Haben Sie Hoffnung?
Wie soll man mit der Erfahrung der Geschichte des Judentums jemals die
Hoffnung aufgeben?