Die
Frankfurter Rundschau
brachte vor kurzem eine gekürzte Fassung eines Plädoyers für aufklärende
Bildungsarbeit und mehr demokratisches Selbstbewusstsein, gehalten bei
der Veranstaltung "Lyrik gegen das Vergessen" in der Bibliothek Solvay,
Brüssel.
Über Fremdenfeindlichkeit und
politische Versäumnisse:
"Was geht uns Juden der
Antisemitismus an?"
Eine Rede von Paul Spiegel,
Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Es scheint in Deutschland,
aber auch im deutschsprachigen Raum insgesamt eine merkwürdige
Selbstverständlichkeit geworden zu sein, ausgerechnet Juden zum
Thema Antisemitismus zu befragen. Immer wieder werden wir Juden von
den Medien, von Institutionen und Privatpersonen zu diesem Thema
interviewt oder zu Rate gezogen. Und jeder erwartet, dass
ausgerechnet wir Juden Fachleute in Sachen Antisemitismus sind, dass
ausgerechnet wir die psychologischen und psychosozialen Hintergründe
dieser Pest begreifen und erklären können und dass wir es sind, die
genau wissen, wie sich die Gesellschaft von dieser Seuche befreien
kann.
Dieser Reflex der deutschen
Gesellschaft wird von der Mehrheit nicht mehr hinterfragt, im
Gegenteil, er wird sogar als Political Correctness angesehen, und
eine Abwehr von jüdischer Seite gegenüber dieser Haltung würde mit
Sicherheit Befremden und Irritation auslösen.
Die in Israel lebende
Schriftstellerin Cordelia Edvardson, die in ihrer Biographie
"Gebranntes Kind scheut das Feuer" ihre fürchterlichen Erfahrungen
in Auschwitz beschreibt, wurde bei ihrer Lesereise durch Deutschland
immer wieder von ihrem Publikum zum Antisemitismus befragt.
Lakonisch und sehr distanziert antwortete sie immer dasselbe: "Was
geht mich der Antisemitismus an? Das ist kein jüdisches Problem, das
ist euer Problem." Wie Recht sie hat. Was geht uns Juden der
Antisemitismus an? Wir sind ganz gewiss keine Antisemiten, wenn wir
den jüdischen Selbsthass eines Otto Weininger oder eines Theodor
Lessing mal beiseite lassen.
Der Antisemitismus betrifft
uns, aber unser Problem ist er nicht. Er ist das Problem der
nichtjüdischen Gesellschaft, für deren demokratische und ethische
Verfassung er eine Katastrophe ist.
I.
Über viele Jahrhunderte
versuchten Juden auf den Antisemitismus mit einer Ghetto-Mentalität
zu reagieren: Man benahm sich "anständig", versuchte nicht
aufzufallen und verhielt sich auf alle Fälle so, wie man glaubte,
dass die nichtjüdische Gesellschaft es von den Juden erwartete. Man
tat dies in der Hoffnung, auf diese Weise der Feindschaft zu
entgehen, keine Angriffsfläche zu bieten und somit einem Pogrom, der
Verfolgung und der Vernichtung zu entgehen. Spätestens seit
Auschwitz wissen wir, dass dieses Verhalten unsinnig ist. Nirgendwo
auf der Welt waren die Juden so angepasst, so "deutsch" wie in
Deutschland. Genutzt hat es ihnen nichts. Und dennoch gibt es noch
heute Juden, die der Meinung sind, "ein Jude repräsentiert alle, im
Guten wie im Schlechten".
Für einen Antisemiten spielt
unser Verhalten überhaupt keine Rolle. Je nach Bedarf sind wir für
Antisemiten die Bolschewiken oder Kapitalisten, Imperialisten oder
Blutsauger, Gottesmörder oder das "eingebildete" auserwählte Volk.
Und auch die Funktion des "Alibijuden" ist uns nicht unbekannt: Man
hasst die Juden, doch Herrn Cohn von nebenan, den meint man
natürlich nicht, der ist ein ganz anständiger Kerl.
Und inzwischen kennen wir
auch den Antisemitismus ohne Juden, besonders in Deutschland. Dieses
Phänomen hat es bereits vor der Shoah gegeben, umso mehr jetzt,
nachdem sechs Millionen Juden in Europa ermordet wurden.
Eine weitere Variante des
heutigen Antisemitismus ist der so genannte "Anti-Zionismus", der
Hass auf Israel und - noch grotesker - auf die Juden, die gar nicht
in Israel leben; die Juden werden gehasst wegen der Lage im Nahen
Osten.
II.
Ich frage Sie also, meine
Damen und Herren, was geht uns dieses Krebsgeschwür, der
Antisemitismus, an? Warum müssen ausgerechnet wir Juden uns jedes
Mal zu diesem Thema äußern, wenn es auf der Agenda des öffentlichen
Interesses steht? Warum - und ich spreche da durchaus aus
einschlägiger Erfahrung - stürzen sich bei entsprechenden Attentaten
die Medien auf mich und nicht etwa auf Kardinal Lehmann oder Bischof
Kock, den Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands?
Dennoch habe ich Ihre
Einladung gern angenommen, um mit Ihnen über dieses Thema zu
sprechen. Denn es gibt einen Aspekt, der mir unerlässlich zu sein
scheint, über dieses Thema öffentlich zu sprechen: Es ist die
Verantwortung des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber dem
Wohl der Gesellschaft, in der er lebt. Ich spreche also hier zu
Ihnen als Bürger der Bundesrepublik Deutschland, als Bürger Europas,
der sich seiner individuellen politischen Verantwortung bewusst ist,
der alles tun will für den Erhalt und das Wohl der Demokratie. Dass
ich Jude bin, mag für Sie eine Rolle spielen, die Sie mich zu diesem
Thema eingeladen haben, für mich steht jedoch im Vordergrund meine
Pflicht als Bürger.
An dieser Stelle vor Ihnen
ist es mir ganz wichtig zu betonen, wie bedeutend für uns Juden in
aller Welt das Wohlergehen des Staates Israel ist. Auch wenn wir
nicht immer mit den politischen Entscheidungen der jeweiligen
israelischen Regierungen einverstanden sind, auch wenn wir manchmal
Bedenken, Kritik oder Zweifel haben, eines muss unmissverständlich
klar sein: Die Sicherheit des jüdischen Staates ist ein Muss und
steht nicht zur Diskussion. Und zwar nicht nur, weil Israel nach wie
vor ein Hafen für verfolgte Juden in aller Welt sein muss, sondern
weil dieser Staat Israel in dem neuen Selbstverständnis, das die
jüdische Welt nach Auschwitz mühsam finden musste, eine wichtige und
herausragende Rolle spielt.
III.
Doch zurück nach Deutschland.
Nicht erst seit der Wiedervereinigung - aber insbesondere seitdem -
erleben wir im Lande des Holocaust einen Antisemitismus von
ungeahntem Ausmaß. Mein Vater, der die schlimmsten Lager der Nazis
überlebt und dennoch nach Hause, nach Warendorf zurückkam, meine
Mutter und mich aus Belgien zurückholte und unser Leben ganz
selbstverständlich in Deutschland wieder einrichtete, pflegte
angesichts des Nachkriegselends in Deutschland zu sagen: "Die
Deutschen werden nie wieder Antisemiten werden. Sie spüren am
eigenen Leib, wie verderblich sich das ausgewirkt hat."
Er und seine Generation, aber
auch ich, nach dem Ende der Schoah ein kleiner Junge - wir haben es
uns nicht vorstellen können, dass jemals wieder in Deutschland
Synagogen brennen, Juden beleidigt und auf offener Straße geschlagen
werden, dass selbst Politiker demokratischer Parteien antisemitische
Äußerungen ohne jede Konsequenz machen dürften.
Was tut man in dieser
Situation? Meine Überlegungen zum Antisemitismus beziehen sich nie
allein auf ihn, sondern auch immer auf die Fremdenfeindlichkeit ganz
allgemein, denn die Fremdenfeindlichkeit ist die große Schwester des
Antisemitismus und vielleicht in Deutschland ein noch größeres
Problem. Elie Wiesel hat einmal gesagt: "Nicht jeder Antisemit ist
fremdenfeindlich, aber jeder Fremdenfeind ist ganz sicher auch ein
Antisemit."
Das wohl entscheidende und
primäre Problem beim Umgang mit dem Antisemitismus ist seine
Wahrnehmung. Es gehört beinahe zum guten Ton politischer Rhetorik,
bei entsprechenden Anlässen immer wieder darauf hinzuweisen,
Deutschland sei nicht antisemitisch. Der unmittelbar darauf folgende
Hinweis auf die funktionierende Demokratie ist so wahr wie banal und
dient meiner Meinung nach der Selbstberuhigung einer irritierten
deutschen Nachkriegsgesellschaft, die genau weiß, dass Angriffe auf
Ausländer im Ausland bis heute anders wahrgenommen werden als
Angriffe auf Juden. Die Belastung der Geschichte wirkt bis heute
nach.
Die deutsche Öffentlichkeit
müsste endlich zur Kenntnis nehmen, dass ein viel zu großer Teil der
Gesellschaft tatsächlich antisemitisch ist; den Beweis hierzu
lieferte auch eine vor etwa zwei Jahren gemachte wissenschaftliche
Untersuchung, der zufolge 15 Prozent der deutschen Bevölkerung
zumindest latent antisemitisch ist. Das Herunterspielen von
Ereignissen, Äußerungen, Slogans und Taten wird nicht zum
Verschwinden des Antisemitismus führen. Im Gegenteil. Es macht ihn
salonfähig.
Es sind einige Politiker des
durchaus demokratischen Spektrums, die - vor allem in
Wahlkampfzeiten - mit populistischen Slogans im äußersten rechten
Lager zu punkten suchen und somit nicht unerheblich dazu beitragen,
dass reaktionäres, fremdenfeindliches und antisemitisches
Gedankengut seinen Weg in die gesellschaftliche Mitte findet. Wenn
demokratische Politiker von "nützlichen" und "ausnützenden"
Ausländern sprechen dürfen, von der Grenze der Kapazität zur
Aufnahme weiterer Ausländer und Flüchtlinge, dann ist das geradezu
ein Freibrief für Rechtsextremisten. Hier wäre es dringend
angezeigt, dass sich demokratische Politiker ihrer besonderen
Verantwortung für das Gemeinwohl bewusst werden, dass es hier
keineswegs um Sympathie oder Antipathie gegenüber Juden oder
Ausländern geht, sondern um eine demokratische Kultur und einen
ethischen Standard des öffentlichen Diskurses, der den Artikel I des
Grundgesetzes immer von neuem respektiert und bewahrt: Die Würde des
Menschen ist unantastbar. (...)
IV.
Der Antisemitismus, ich
wiederhole mich, betrifft uns Juden. Aber er ist nicht unser
Problem. Nach meiner Beobachtung folgt die neue Entwicklung in
Deutschland einem ganz alten Muster: In Zeiten gesellschaftlicher
und wirtschaftlicher Umwälzungen und Verunsicherungen suchte man
schon immer gern nach Sündenböcken für eigene Ängste und
Bedrohungen. Wir Juden kennen dieses Verhalten unserer christlichen
Umwelt seit 2000 Jahren.
Was nun ist zu tun? Die
Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten bereits erste
Initiativen gestartet, die wichtige Signale in die richtige Richtung
sind. Das Aussteigerprogramm von Innenminister Schily und das
Aktionsprogramm von Familienministerin Bergmann sind erste Schritte
der Bundesregierung hin zu einer Solidargemeinschaft, die zumindest
versucht, denjenigen zu helfen, die eine Zukunft, eine demokratische
Zukunft haben möchten. Wir sind es uns selbst schuldig, zumindest
alles zu versuchen, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft die
Chance auf ein besseres Leben hat - natürlich unter der
Voraussetzung, dass er die Grundregeln für ein friedliches
Miteinander einhält. Und die ist nun einmal Respekt vor der
Integrität eines anderen Menschen, ganz gleich, wo er herkommt, wie
er lebt, ob er Deutscher oder Ausländer ist.
Neben dieser Akut-Behandlung
eines Problems müssen jedoch langfristige Initiativen und
Therapieformen entwickelt werden. Sehr viel mehr als bisher muss im
Bereich der Bildungspolitik geschehen.
Das politische Vakuum, das
sich durch den Untergang des SED-Regimes gebildet hat, ist eine
nahezu ideale Möglichkeit für den Rechtsextremismus, sich "häuslich"
niederzulassen. Man stelle sich Folgendes vor: Eine Gesellschaft,
die sozialistisch-totalitaristisch erzogen wurde, der also der
Zugang zur freien Information, zu einer pluralistischen Weltsicht,
zum demokratischen Diskurs und Dialog über Jahrzehnte vorenthalten
wurde, soll nun, von einem Tag auf den anderen, mit einer neuen
Gesellschaftsform, mit neuen politischen Strukturen klarkommen.
Hand aufs Herz: Wer von uns
westlichen Bürgern begreift denn wirklich, wie Demokratie in ihren
Feinverästelungen funktioniert? (...) Selbst wir im demokratischen
Westen der Bundesrepublik haben unsere liebe Mühe, unser politisches
System zu begreifen. Und angesichts der Schlammschlachten, die sich
gegnerische Politiker in Bundestagsdebatten öffentlich liefern,
haben wir manchmal Mühe, die Demokratie ernst zu nehmen und
verantwortlich mit ihr umzugehen. Um wie viel schwerer haben es die
Menschen in der ehemaligen DDR. Wer hat sich wirklich die Mühe
gemacht, diesen Menschen demokratische Strukturen zu vermitteln,
ihnen das Primat des Konsens und die Vorzüge demokratischer
Streitkultur und Willensbildung zu erläutern?
Kaum jemand hat diesen
Menschen beizubringen versucht, dass das "deutsche Wesen" ganz
gewiss nicht das einzige ist, an dem man gemessen werden kann. Und
niemand hat ihnen klarzumachen versucht, dass es in der komplexen
Realität von heute ein Plus ist, mit unterschiedlichen Gedanken und
Konzepten, unterschiedlichen Weltbildern und Kulturen in Berührung
zu kommen, um optimale Lösungen für komplizierte gesellschaftliche
Notwendigkeiten zu finden.
V.
Bildungspolitik müsste genau
an diesem Punkt ansetzen, um somit die Angst vor dem Fremden, das
Vorurteil gegenüber dem Unbekannten zumindest zu minimieren.
Ähnliches gilt natürlich nach
wie vor auch für den Westen der Republik; denn wir dürfen uns nicht
einbilden, dass wir die Toleranz und den Respekt vor dem anderen
dadurch für uns gepachtet haben, dass wir in einer Demokratie groß
geworden sind. Die Realität zeigt, dass auch wir in den alten
Bundesländern massive Defizite in der Bildungspolitik erleben, dass
auch hier Vorurteile, Ressentiments und Hass gegenüber Juden und
anderen existieren.
Im gleichen Maße müssten
Bildungsprogramme auch für eine Stärkung der Zivilcourage bei jedem
Einzelnen eintreten. Wir kennen das: Bei jedem neuen Attentat kommt
der lautstarke Ruf nach mehr Zivilcourage. Doch anders als in
anderen westlichen Demokratien ist man in Deutschland weit
verbreitet immer noch von einer gewissen Obrigkeitshörigkeit erfüllt
(...).
Hier wäre es angebracht, im
Rahmen politischer Bildungsarbeit vor allem jüngeren Menschen
persönliches politisches Engagement wieder schmackhaft zu machen,
ihnen zu zeigen, dass sich Enthusiasmus und Idealismus lohnen, dass
Querdenken und Vordenken in der Gesellschaft gefragt ist und nicht -
wie so häufig auch innerhalb der etablierten Parteien - als (...)
störend empfunden wird, als eine Form von Renitenz, die man sofort
zerschlagen und vernichten muss, um den geregelten Gang der Dinge
nicht zu gefährden.
Wie soll Eigenverantwortung
bei jungen Bürgern - übrigens auch bei älteren - entstehen, wenn
diese Eigenverantwortung abgemahnt und abgestraft wird? Eines der
wesentlichen Merkmale der amerikanischen und auch der französischen
Demokratie ist, dass sich der Bürger als Teil des Staates versteht
und die Politiker nicht als allmächtige Herrscher ansieht, sondern
als eine Art seinesgleichen, denen man für kurze Zeit ein Mandat
gibt und es ihnen durchaus auch wieder schnell entziehen kann.
Dieses Gefühl, dieses Wissen um die eigene Verantwortung, um die
eigene Macht muss in Deutschland, vor allem im Osten, weiter
gefördert werden. Dazu werden Millionen von Euro gebraucht; doch es
liegt im ureigenen Interesse der Republik, dass die Bundesregierung
solche Gelder bereitstellt. Dieses Geld ist eine entscheidende und
unverzichtbare Investition in die Zukunft.
Eine weitere entscheidende
Frage spielt die gesellschaftliche und öffentliche Ächtung
antisemitischer und fremdenfeindlicher Äußerungen und Aktivitäten
sowie deren Überprüfung durch Polizei und Justiz und in den Reihen
der Bundeswehr. Hier gehören rechtsextremistische Vorfälle
mittlerweile zum Alltag, ähnlich sieht es bei der Polizei aus. Ich
spreche hier nicht von einigen schwarzen Schafen, die es überall
gibt und die man nie ganz loswerden kann. Ich meine eine
strukturelle Problematik, die nicht mit dem nötigen Ernst
wahrgenommen und nur widerwillig bekämpft wird.
VI.
Es ist wahr: Polizei und
Bundeswehr repräsentieren einen Querschnitt durch die Gesellschaft,
warum also glaubt man, dass ausgerechnet sie gegen die Pest des
Antisemitismus immun sein können? Ich beklage allerdings die oft
beobachtete Neigung von verantwortlichen Politikern und der
entsprechenden Bürokratie, Geschehnisse zu verharmlosen. So werden
zwar bei besonders krassen Fällen Untersuchungskommissionen
gebildet, es kommt sogar hier und da zu Berufsverboten, Ausschlüssen
aus der Armee und so weiter. Doch mehr noch herrscht ein Geist der
Vertuschung und Vernebelung, immer aus Angst, dass eine als
antisemitisch angesehene deutsche Polizei oder Bundeswehr eine
extrem schlechte Publicity für den Export-Weltmeister Deutschland
bedeuten würde. Ich hingegen halte es gerade für ein Zeichen
demokratischer Stabilität und Stärke, antidemokratische Strukturen
mit aller Macht zu bekämpfen, sie öffentlich zu brandmarken und so
zu verhindern.
Auch hier erwarte ich von der
Politik ein massives Umdenken und Umschwenken. Eine neue Form
demokratischen Selbstbewusstseins muss her, eine neue Form von
Transparenz bei Vorfällen, die wir alle nicht tolerieren können.
Ebenso entscheidend ist die
Rolle, die die Justiz hier spielt. Wir wissen, dass die
bundesdeutschen Gerichte in den fünfziger Jahren zahlreiche
Nazi-Richter in ihren Reihen hatten, die schlagartig mit dem Ende
des Krieges von Faschisten zu Demokraten wurden. (...)
Wenngleich die heutigen
Richter und Staatsanwälte lange nach der Nazizeit ausgebildet
wurden, ist doch bei etlichen eine mir unverständliche Nachsicht mit
rechtsextremistischen Tätern und ihren Taten zu beobachten. Ein
versuchter Mord (wenn ein Brandsatz in ein bewohntes Haus geworfen
wird) mutiert dann schnell zur Brandstiftung, ein versuchter Mord
(wenn eine Gruppe von Skinheads sich über einen wehrlosen Menschen
hermacht) wird dann schnell zur Körperverletzung. Aus einem Mord
wird eben ein Totschlag, der sehr viel geringer bestraft wird. Nach
meiner Beobachtung steckt in allzu vielen Richter- und
Staatsanwaltsköpfen die Vorstellung von "Dummen-Jungen-Streichen"
und von "jugend-typischen Straftaten". (...)
VII.
Schließlich und endlich
möchte ich auf den so genannten "deutsch-jüdischen Dialog" eingehen.
Einmal abgesehen davon, dass mich die Bezeichnung "deutsch-jüdisch"
gewaltig stört, denn auch Juden sind Deutsche, ist der Dialog
zwischen Juden und Nichtjuden eine Notwendigkeit für beide Seiten.
Für Juden in Deutschland, weil sie sich erst in den letzten beiden
Jahrzehnten nach der Shoa zur deutschen Gesellschaft bekennen wollen
und sollen. Bis in die sechziger, ja, siebziger Jahre hinein spielte
bei den meisten die Frage eine große Rolle: "Gehen oder bleiben?".
Viele von uns lernen erst jetzt, sich dem deutschen Umfeld zu öffnen
und ihre Bedürfnisse, ihre emotionalen Befindlichkeiten und ihre
Ängste zu formulieren.
Nichtjuden hingegen haben oft
eine große Befangenheit gegenüber Juden, sie wissen nicht so recht,
wie sie uns ansprechen sollen, um nichts verkehrt zu machen. Wir
wünschen uns, dass sie diese Hemmungen abbauen und begreifen, dass
wir weder exotisch noch besser oder schlechter sind als andere
Menschen.
Allerdings - die
Mehrheitsgesellschaft sollte lernen, auf die Minderheiten zu hören.
Es kann nicht angehen, dass Nichtjuden uns Juden immer wieder
erklären wollen, was antisemitisch ist und was nicht. Es kann nicht
angehen, dass wir in unserer häufig negativen Wahrnehmung von
Ereignissen als "übersensibel" oder "übertrieben" abgekanzelt
werden. Das ist eine arrogante und dumme Bevormundung. (...)
Die nichtjüdische Mehrheit
sollte begreifen, dass wir wirklich übersensibel sind, und das
wahrlich nicht ohne Grund. Wir haben für viele Entwicklungen
sensiblere Antennen als andere, weil wir diese Fähigkeit entwickeln
mussten, um zu überleben. Daher sollten unsere Reaktionen ernst
genommen werden, sie sollten zumindest als Warnsignal dienen, als
Chance, eigene Einschätzungen und Beurteilungen von Ereignissen
zumindest in Frage zu stellen. Da können Nichtjuden von uns Juden
vielleicht mehr lernen als umgekehrt. (...)
haGalil onLine 10-09-2001 |