Schöne deutsche Schuldgefühle
Kein deutscher Lehrer, der auf sich hält, wird es bei seinen Schülern
an einfühlenden Belehrungen zum Thema Holocaust missen lassen. Ist das
gut oder nur gut gemeint? Eine Auseinandersetzung mit schlechten
Gefühlen
von DAVID WAGNER
Die schönen Schuldgefühle, das große schlechte Gewissen,
das ich lange hatte, verdankte ich Frau Klingmann. Frau Klingmann war
die Religionslehrerin, die oft abgezogene Blätter, die nach
Lösungsmittel rochen, verteilte. Die Matrize beschrieb sie immer mit der
Hand, in ihrer Handschrift, die auf den Blättern in Blasslila
wiedergegeben war, las ich zum ersten Mal das Wort
Reichskristallnacht.
Das muss am 8. oder 9. November 1978 gewesen sein, auf
dem Blatt war vom vierzigsten Jahrestag die Rede, ich war sieben Jahre
alt. Und ging in die zweite Klasse. Frau Klingmann verteilte im Laufe
der nächsten Grundschuljahre noch viele nach Lösungsmittel riechende
Blätter, auf denen Wörter wie
Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg oder
Erschießungskommando standen. Irgendeine Untat oder Katastrophe jährte
sich in den nächsten Jahren immer zum vierzigsten Mal, später kamen die
fünfzigsten Jahrestage hinzu.
Nach und nach füllte sich das Rheintal, das vor dem
Klassenfenster lag, mit Leichen. Je mehr ich erfuhr, je mehr Bilder ich
sah, je mehr Grausamkeiten ich mir, von Frau Klingmann angestoßen,
erblätterte, je mehr ich über Hitler, den Krieg und die Ermordung der
europäischen Juden erfuhr, desto höher türmten sich die Leichenberge,
sie ragten über die Weinberge hinaus, schoben sich vor die Loreley und
über die Burgen. Und wie vom Himmel gefallen bedeckten Leichen mein
oberösterreichisches Großmutterparadies, die Bilderbuchlandschaft, den
Obstgarten und das Haus, in der meine Bilderbuchgroßmutter gelebt hatte.
Eines Tages fragte Frau Klingmann, ob wir wüssten, was
unsere Großeltern während des Dritten Reiches, was sie zum Beispiel am
9. November 1938 gemacht hatten. Ich konnte meinen Großvater nicht
fragen, ich wusste nur, dass meine Großmutter und er sich 1938 auf dem
Reichsparteitag in Nürnberg kennen gelernt hatten. Mich, sagte mein
Vater, und also auch dich gibt es überhaupt nur, weil deine Großmutter
im Jahre 1938 von Linz nach Nürnberg fuhr.
Ich wusste, dass ich Frau Klingmann, wollte ich ihre
Wertschätzung behalten, davon nichts erzählen durfte. Und dass ich
besser nicht erzählte, dass meine Großmutter, wie ich von meiner Tante
wusste, nach dem Anschluss Österreichs in Linz an der Straße stand und
jubelte, "Heil" schrie und winkte, als Hitler im offenen Wagen einfuhr
in die Stadt, in der er vor soundsoviel Jahren den "Lohengrin" gesehen
hatte, wie ich von meiner Tante wusste.
Und selbstverständlich, sagte meine Tante, habe auch sie
selbst an der Straße gestanden, und am nächsten Tag mit meiner
Großmutter zusammen sogar in Wien auf dem Heldenplatz. Meine Großmutter
sei später im Jahr auf den Reichsparteitag gefahren, sagte meine Tante,
auf dem sie deinen Großvater sah und sich sofort in ihn verliebte, sagte
mein Vater, der davon eigentlich überhaupt nichts wissen konnte. Meine
Tante sagte, Großmutter habe halt gefunden, fesch schaut er aus, so
fesch in seiner Uniform. Und außerdem habe ihr gefallen, dass neben ihm
der Führer ging.
Ich wollte Frau Klingmann nicht sagen, was meine
Großeltern während des Dritten Reiches gemacht hatten, ich dachte, ich
stecke viel zu tief mit drin. Und was sie getan oder nicht getan haben,
dachte ich, liegt auch auf mir, die Schuld, dachte ich, habe ich, wie
ihr Geld, geerbt. Mein schlechtes Gewissen lag wie eine schwere
Bettdecke auf und über mir, ich musste sie den ganzen Tag über tragen.
Sie hing wie eine lange, gesteppte Schleppe, bald wie ein Tauchgewicht
an mir, sie war wie ein Stofftier immer bei mir. Und ich hatte eine
Aufgabe an ihr.
Gelegentlich dachte ich daran, für meine Schuld zu
sterben, zu sterben schien mir die einzig mögliche Antwort, der Tod das
einzig mögliche Zeichen für all die zu sein, die aus den Verbrechen und
ihrer Schuld keine Konsequenzen zogen. Und zum Beispiel einfach laut und
öffentlich über irgendetwas lachten. Oder viel zu oft fröhlich waren.
Was nach all dem Unaussprechlichen, nach Auschwitz doch eigentlich nicht
mehr möglich sein konnte, nicht möglich sein durfte, dachte ich, da
hatte ich, auch wenn Frau Klingmann mir, weil ich längst eine andere
Schule besuchte, keine Zettel mehr austeilte, noch immer den
Lösungsmittelduft, die große Schuld in meinem Kopf und in der Nase.
Vielleicht betäubte der Alkoholduft, der aus den frisch
abgezogenen Blättern stieg, die Sinneszellen meiner Nasenschleimhäute,
mit der Zeit verlor ich den Geschmack an den Süß-, Mehl- und Nachspeisen
meiner Großmutter. Seit ich wusste, dass ihr Obstgarten, in dem ihre
Äpfel, Birnen und Marillen wuchsen, die Pflaumen für die Knödel und die
Him-, Brom- und Erdbeeren, aus denen Kuchen oder Marmeladen wurden, seit
ich wusste, dass dieser, ihr eigener Obstgarten, in dem sie gegen Ende
des Krieges noch Panzergräben ausheben musste - gegen Panzer, die dann
doch von der anderen Seite in den Ort einfuhren -, seit ich wusste, dass
dieser Garten nur einen Fahrradausflug vom Konzentrationslager
Mauthausen entfernt lag, dem Lager, in dessen Steinbruch über der Donau
mehr als hunderttausend Häftlinge zu Tode gefoltert worden waren, seit
ich von dieser Nähe wusste, nach der ich meine tote Großmutter nicht
mehr fragen konnte, schmeckten mir ihre überkommenen Süßigkeiten, all
das, was ich durch sie kannte, die Marmeladen, Marillenknödel und
Mehlspeisen nicht mehr. Zumindest dachte ich, und hatte Frau Klingmanns
Stimme im Ohr, sie dürften mir nicht mehr schmecken. Bei allen
Süßigkeiten überfiel mich das schlechte Gewissen. Eigentlich, dachte
ich, dürfte es mir nicht so gut gehen.
Und Frau Klingmann, war ich mir sicher, hätte es nicht
gefallen, Sommerfrische, blauen Himmel, Sonne und frische Himbeeren dort
zu genießen, wo das Vernichtungslager Mauthausen nur eine
Nachmittagsfahrradtour entfernt lag.
Ging ich ins Bett, dachte ich, mein Plumeau, das unten,
zwischen den Knöpfen, weinrot aus den weißen Bezügen heraushing, sei
nicht mit Daunenfedern, sondern mit Schuld gefüllt, und an all den
Dingen meiner Großeltern, an den Möbeln, dem Haus und ihrem Geld, klebe
Blut, und überhaupt, woher hatten sie all die Dinge? Ein so weiches Bett
wie das, in dem ich jede Nacht schlafe, verdiene ich gar nicht, dachte
ich, und eine von Frau Klingmanns Bemerkungen ging mir nicht aus dem
Kopf, die nämlich, dass die Häftlinge selbstverständlich, wie Frau
Klingmann sagte, ohne Winterdaunendecken hätten schlafen müssen.
Als ich nun, weil meine Großeltern und all diese
Geschichten mir im Kopf herumgingen, wieder einmal nicht einschlafen
konnte, und weil ich daran dachte, dass die Häftlinge, wenn sie Glück
hatten, vielleicht einen Strohsack hatten, auf dem sie schlafen konnten,
legte ich mich auf den Fußboden neben mein Bett und versuchte mit aller
Kraft an den Augenblick zu denken, den ich eingefroren auf einer
Fotografie gesehen hatte, ich versuchte an den Augenblick zu denken, in
dem Hitler neben meinem Großvater steht, und versuchte ihm über jede
Zeit und Kausalität hinweg einzuflüstern, stürz dich doch auf ihn, bring
ihn um. Leider waren diese Beschwörungsversuche, wie ich bald merkte,
völlig vergeblich. Immerhin aber gelang es mir, ohne Decke auf dem Boden
einzuschlafen.
Ich gewöhnte mich an meine Schuld, ich war allein mit
ihr, ich spürte, was mich nicht störte, keine deutsche
Schuldgemeinschaft. Ich wollte meine Schuld mit gar niemand teilen. Oft
fand ich die Schuld so schön, dass ich für sie sterben wollte, ich
dachte auch, es könne kein Leben außerhalb meiner, unserer großen Schuld
geben. So wie ich mir in Fällen schwerer Liebeskrankheit kein Leben ohne
die Geliebte vorstellen konnte. Zumindest die ersten Tage lang.
Vielleicht war ich längst nicht mehr in Frau Klingmann
verliebt, wie ich es mir lange eingebildet und ausgemalt hatte, sondern
nur in das große Gefühl, das sie erzeugen konnte. Die Schuld war ein
weiches Kissen. Ich lag recht gut auf ihr. Und so, gut schuldgepolstert,
dachte ich, es sei nur gerecht, dass Deutschland bombardiert worden war,
ich dachte, auf höhere, ausgleichende Art sei es auch gerecht, dass
meiner Tante von ihrem Vorkriegsleben, von all ihren Sachen nur die
Decke geblieben war, die sie mit in den Bunker genommen hatte. Und ich
dachte, wir haben es verdient, in hässlichen Neubauten in hässlich
wiederaufgebauten Städten zu wohnen. Und keine richtige Hauptstadt zu
haben. Und die zementierte deutsche Teilung fühlte sich wie ein
verdientes Ergebnis des Zweiten Weltkriegs an. Nichts, wie es schien,
würde daran, wieso auch, etwas ändern.
Gegen Ende der Achtzigerjahre, gegen Ende meiner
Schulzeit, wurden kaum noch abgezogene, nach Lösungsmittel riechende
Blätter, sondern fast nur noch Fotokopien verteilt. Es unterrichteten
viele junge, engagierte Lehrer - der Nationalsozialismus war in mehreren
Projektwochen und jedem Fach ungefähr vier Mal behandelt worden. Mit dem
Religionskurs, zuletzt hatte der Lehrer den Widerstand der Bekennenden
Kirche durchgenommen, ergab sich die Möglichkeit, ein paar Schultage zu
verpassen und zum Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Berlin zu
reisen. Für das eine nahm ich das andere gern in Kauf.
Mit all seinen Lücken, Ruinen, Fassaden, die ihre
Einschusslöcher zeigten, und der Mauer samt Todesstreifen und Wachtürmen
erschien Berlin mir wie ein großes Mahnmal. Eine Stadt, wie von einem
Erdbeben bestraft, eine Stadt, die überall an den Krieg erinnert. Und
wieder, dachte ich, gerechterweise, denn wahrscheinlich haben überall in
diesen großen alten Häusern vor dem Krieg Juden gewohnt.
Aus der Vorbereitung zum Kirchentag wußte ich, daß
55.696 Juden aus dieser Stadt abtransportiert und umgebracht worden
waren. Und trotz all der Menschen, die mit den lila Tüchern des letzten
Kirchentags herumliefen, kam mir die Stadt sonderbar ausgedünnt, beinah
leer vor. Berlin, so war mein Gefühl, liegt nur wenige Bahnkilometer von
der polnischen Grenze, nah an all den Konzentrationslagern, deren Namen
Frau Klingmann immer wieder aufgesagt hatte.
Am vorletzten Nachmittag, nachdem ich auf der Suche nach
noch mehr Einschusslöchern an der Mauer entlang durch die Stadt
gewandert war und daran dachte, wie oft mein Großvater hier oder nicht
weit von hier seinerzeit über Straßen gefahren oder spaziert war, die es
im Niemandsland der Ministergärten hinter dem leeren, unsichtbaren
Potsdamer Platz nicht mehr gab, wurde ich in einem Charlottenburger
Café, in dem ich mich verabredet hatte, von einem älteren Mann
angesprochen.
Er trug ein weißes Hemd, Anzugsweste und Halstuch,
fragte mich, was ich so mache, warum ich hier sei, wie mir Berlin
gefalle und wofür ich mich interessiere. Und so weiter. Ich war jung und
dumm und kam aus einer kleinen Stadt. Und hörte nun, dass der Mann, der
sich an meinen Tisch gesetzt hatte, aus mehreren Lagern geflohen sei,
Berlin noch während des Krieges verlassen habe und nach Israel geflohen
sei - nach Israel?
Wurde Israel nicht erst nach dem Krieg gegründet, dachte
ich, sagte aber nichts und wunderte mich, warum ich diesem Mann, der
viel Rasierwasser aufgetragen hatte, so an den Lippen klebte. Ich hörte
mir seine wirre, wahrscheinlich erfundenen Flucht- und Lebensgeschichten
an und dachte dabei, ich schulde ihm etwas. Ich erinnerte mich an Frau
Klingmann, die alles für die Aussöhnung getan hatte, die im Kibbuz
gearbeitet, einen israelisch-deutschen Erwachsenenaustausch organisiert
und ihren Kindern jüdische Namen gegeben hatte, ich fragte mich, was sie
in diesem Augenblick von mir erwartet hätte, und kam mir vor wie in der
entscheidenden Gewissensprüfung meiner damit dann abgeschlossenen
Erziehung. Nun das Richtige tun, dachte ich und war schon fast dabei,
nachzugeben und das Angebot des Mannes, der mir auf einmal sehr alt
vorkam, anzunehmen, ich wollte ihn schon in seine Neubauwohnung nach
Charlottenburg-Nord begleiten - in der ich, wie er sagte, doch viel
bequemer wohnen könnte als in der Schule, in der wir Kirchentagsbesucher
untergebracht waren -, ich hatte mich fast schon, nicht weil ich
unbedingt wollte, mehr aus einem mir eigentlich unerklärlichen Schuld-
und Pflichtgefühl heraus, entschlossen, mit ihm zu gehen, da erschien
doch noch das Mädchen, die Kindergottesdiensthelferin aus
Traben-Trarbach, die ich am Tag zuvor in der Oberschule nahe am
Corbusier-Haus, in der wir übernachteten, kennen gelernt hatte.
Wir wollten beide Geschichte studieren. Und hatten uns
schon am Vortag sehr lange unterhalten. Und uns nun in diesem Café am
Savignyplatz verabredet. Nachdem wir uns auch an diesem Tag - den Mann
an meinem Tisch hatten wir verlassen und waren weiter durch die Stadt
und den Frühsommerabend gewandert - ungefähr sieben oder acht Stunden
über die deutsche Schuld, Schuldgefühle und Aufarbeitung der
Kollektivschuld unterhalten hatten, schliefen wir im Klassenzimmer
unserer Oberschule zusammen in einem Schlafsack. Viel später erst las
ich, dass die Reichsparteitage in Nürnberg auch deshalb so beliebt
gewesen sein sollen, weil es dort sexuell eher freizügig zugegangen sei.
Heute, zwölf Jahre später, bin ich etwas weniger
empfindlich, das ganz große, ganz und gar aus- und erfüllende, das
erhabene Schuldgefühl, unter dem ich immer verschwinden konnte, spüre
ich nicht mehr. Es riecht nicht mehr nach Lösungsmittel. Natürlich
beherrsche ich die deutsche Betroffenheitsmaske, wenn die Umstände es
erfordern, setze ich auch den Ausdruck der Scham und die Spiegelung der
Unverständnis auf. Oder ziehe die Züge des Entsetzens an.
Heute jedoch, manchmal tut mir das Leid, heult es nicht
mehr in mir. Es plätschert nur noch. Und ich schlafe nicht mehr neben
meinem Bett auf dem Boden, ich liege auf meiner Latexmatratze - im
Sommer unter meinem Sommerinlett, im Winter unter meiner
Winterdaunendecke. Oft kommt es mir vor, als hätte ich eine große
Aufgabe verloren, manchmal habe ich fast Sehnsucht nach dem großen,
ehrlichen Schuldgefühl, das für mich seit dem 8. oder 9. November 1978
nach Lösungsmittel roch.
Ich denke, danke, ich hab ja schon, wenn ich in der
Zeitung lese, dass Schwester Pista von der "Evangelischen
Marienschwesterschaft" auf einer "Bußkonferenz" fordert, "man müsse
persönliche Verantwortung übernehmen, weil nationale Schuld eine
Wirklichkeit sei". Mein Schuldeifer hat, ich weiß nicht wieso,
nachgelassen, es gibt mittlerweile Tage, an denen ich nicht bei jedem
freien Schritt, jedem Bissen, jedem Atemzug ein schlechtes Gewissen
haben möchte. Und es gibt Tage, an denen ich kein schlechtes Gewissen
mehr dafür haben möchte, dass ich geboren worden bin, weil meine
Großeltern auf der Seite waren, die ihnen und ihren Kindern das
Überleben sicherte. Und dies - bis auf die Umstände, dass meine
Großmutter zuletzt in ihrem eigenen Garten Panzergräben ausheben musste
und mein Großvater nach dem Krieg in Nürnberg im Gefängnis saß - auf so
angenehme Weise, dass meine Tanten davon schwärmten, solange sie lebten.
Ich höre Frau Klingmann nicht mehr ganz so oft, und
manchmal wünsche ich mir sogar, ich hätte damals, als sie ihre
Unterrichtsmaterialien verteilte, im katholischen Religionsunterricht
gesessen. Dann hätte ich nie eines ihrer lösungsmittelgetränkten, ihre
Handschrift wiedergebenden Blätter erhalten, auf denen lange Wörter wie
Reichskristallnacht, Konzentrationslager und
Judenvernichtung blasslila zu lesen waren. Der Duft der Blätter sitzt
fest in meinem Kopf, so wie ihre Stimme, die das Wort
Konzentrationslager, das ich von ihr lernte, auf eine eigentümliche,
von da ab für immer behaltene Art und Weise sagte.
Die glückliche Schuld, das ganz große Schuldgefühl, das
schlechte Gewissen jeden Augenblicks erinnere ich wie eine weit
zurückliegende Lebensphase in einer anderen Tonart. Manchmal bedauere
ich es richtig, dass ich kaum mehr schlechtes Gewissen habe, manchmal
habe ich schlechtes Gewissen zweiten Grades, weil mir das erste, ganz
große fehlt. Vielleicht vermisse ich auch das erhabene Schuldgefühl, das
alles überragt und bestimmt und in den Schatten stellt. Matrizen
abzuziehen ist als Methode der Vervielfältigung ausgestorben.
Damals, als ich noch, wie es mir vorkam, alles auf mir
trug, fiel mir nichts Besseres ein, als mich neben mein Bett auf den
Boden zu legen. Kalt war mir nicht, die Schuld deckte mich zu. Und ich
lag weich. Das Haus meiner Eltern, ein Nachkriegsneubau, war ja überall
mit Teppichboden ausgelegt.
DAVID WAGNER, Jahrgang 1971, ist in Andernach am
Rhein aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Sein Text erschien
ungekürzt im Merkur (Nr. 627, Juli 2001). Voriges Jahr ist
Wagners Roman "Meine nachtblaue Hose" (A. Fest Verlag, 183 Seiten, 34
Mark) veröffentlicht worden
taz muss
sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe
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haGalil onLine 07-08-2001 |