Eine ZDF-Dokumentation:
Ein Trauma, ein Zuhause
Am 04.09.2001 - 22:45 Uhr
Fast verdreifacht hat sich die
Zahl der Juden in Deutschland während der letzten zehn Jahre. Heute sind
es 100.000 Menschen, 70 000 sind nach dem Ende der Sowjetunion aus den
Ostblockstaaten zugewandert. Viele jüdische Gemeinden mussten sich
völlig neu orientieren.
Wie die Zuwanderer integrieren?
Wie das religiöse Erbe vermitteln und leben? Besonders jedoch die Frage,
wie die spezifische jüdische Kultur in einem Land zu erinnern und zu
gestalten sei, das Jahrhunderte lang selbstverständliches Zuhause war
und dann zum Ort des Holocaust wurde.
Zum Beispiel Rachel Salamander:
Kind von Holocaust-Überlebenden, im Lager aufgewachsen, Besitzerin der
jüdischen Literaturhandlung in München. Das aktuelle Ziel Rachel
Salamanders ist die Einrichtung eines jüdischen Gemeindezentrums. In
dieser Hinsicht ist München bundesweit das Schlusslicht. Daniel
Kaminski, der 23-jährige Medizinstudent hat München bereits verlassen,
um in Berlin zu leben. Dort gibt es mit 12.000 Mitgliedern die größte
jüdische Gemeinde und ein multikulturelles Umfeld, in dem der junge Mann
seine jüdische Identität leben kann. In seiner Heimatstadt sieht er für
sich keine Zukunft.
So auch Annie Grünberg, die
25-jährige Kunsthistorikerin, die derzeit, wie viele andere ihrer
Generation, versucht, in London Fuß zu fassen. Sie kommt aus einem
liberalen Elternhaus, befürchtet, in Deutschland, wo es nur noch wenige
Juden gibt, ihre Herkunft und Identität zu verlieren bzw. aufgeben zu
müssen.
Ganz anders Eugen und seine
Mutter Viktoria Buchbinder, die vor vier Jahren aus Charkow in der
Ukraine nach Potsdam gezogen sind. In der ehemaligen Sowjetunion mussten
sie ihre jüdische Herkunft aus Angst vor antisemitischen Übergriffen
verleugnen. Nie zuvor haben sie eine jüdische Tradition gelebt oder auch
nur kennen gelernt. Beides haben sie sich in der neuen Heimat
versprochen. Doch Viktoria Buchbinder sieht angesichts der
ausländerfeindlichen Stimmung im Land Brandenburg sorgenvoll in die
Zukunft.
Shimon Nebrat aus St.
Petersburg, heute Vorsitzender der Gemeinde Gesetzestreuer Juden in
Potsdam, betreut die Emigranten und will die Hoffnung nicht aufgeben.
Auch Alexander Lewit, der Theaterregisseur, ist wegen des virulenten
Antisemitismus in der Ukraine mit Frau und Kindern nach Deutschland
gekommen. Er, der seinerzeit Intendant an einem Staatstheater in Kiew
war, hatte große Pläne. Er wollte in Berlin das russisch-jiddische
Theater aufbauen. Nach fünf Jahren Kampf und Engagement hat er die Pläne
aufgegeben. Denn, so die Frage Lewits, wer soll sich jiddische Stücke
ansehen.
Juden in Deutschland: Die
Karten werden neu gemischt. Alles konzentriert sich heute auf die große
Zuwanderung aus dem Osten. Die junge Generation weiß offensichtlich
nicht mehr, wo sie hingehört. Israel, London, New York, München? Die
deutschen Gemeinden sind für die junge Generation zu klein, um jüdische
Vielfalt zu finden und zu leben und zu groß, um wirklich
zusammenzurücken, wie in der Nachkriegszeit.
haGalil onLine 22-08-2001 |