Israels letzte Ölung
HERMANN L. GREMLIZA
Ein Mann und ein Kind in
Deckung hinter einem Mauervorsprung. Schüsse, Schreie. Der Mann zieht
den Jungen an sich, schreit, winkt um sein und seines Sohnes Leben.
Augenblicke später ist er, aus den Gewehren israelischer Soldaten
mehrfach getroffen, schwer verletzt, das Kind durch einen Schuß ins Herz
getötet. Ein Freund, der es im Fernsehen sah, hat geheult.
Zwei Tage danach zieren Graffiti vom Gesicht des
zwölfjährigen Mohammed al-Durra und von der Szene mit dem Vater die
Mauern der Palästinensergebiete. In al-Bureidsch flattern Transparente:
"Ein Sohn unseres Flüchtlingslagers starb als Märtyrer für Jerusalem und
die Aksa-Moschee!" Der Onkel des Jungen führt Kamerateams durchs Haus:
Hier, bitte, das Bett, in dem der kleine Held schlief, da, bitte, das
Vogelbauer, das der Lehrer dem früh Begabten geschenkt hatte. Ohne jede
Absicht sind Vater und Sohn auf dem Weg zum Kauf eines Gebrauchtwagens
in den Kampf geraten. Und mit Absicht von israelischen Soldaten ermordet
worden. Fatima, die Großmutter, aber spricht: "Er hat uns Stolz und Ehre
gebracht. Er ist für Palästina gestorben."
Es ist zum Heulen. Es ist auch zum Kotzen. Die
Geschichte, wie einen Zwölfjährigen auf dem Weg zum
Gebrauchtwagenhändler die ehrenvolle Berufung zum Märtyrer für Jerusalem
und die Aksa-Moschee ereilt, ist die Geschichte des jüngsten
Palästinenseraufstands und der Berichte von ihm. In ihr spiegelt sich
jenes Amalgam aus wahrer Verzweiflung und überzeugter Verlogenheit, das
nur die Idealkonkurrenz von religiösem Wahn und Journalismus
hervorzubringen vermag, tagtäglich:
Man sieht Horden von Männern, Frauen und Kindern
israelische Polizisten und Soldaten mit schweren Steinen bewerfen, in
ihren Gesichtern und Gebärden blanker Haß. Manchmal sieht und hört man
die Angegriffenen sich mit ihren Waffen verteidigen, Schüsse abgeben -
erst, warnend, in die Luft, dann, gezielt, auf die Angreifer. Wird einer
getroffen, tragen die andern den verletzten oder schon toten Körper wie
ein heiß ersehntes Corpus delicti herum, das die ganze Bösartigkeit der
Israeli beweist. Dahinter Frauen jeden Alters, kreischend mit viel
System. Sie haben die gerade noch aufgehobenen Steine fallen gelassen,
um die Hände zum wehklagenden Ringen freizuhaben.
Achtzig, neunzig, hundert Palästinenser starben in den
ersten Tagen. Eine sehr hohe Zahl, wo doch im Kampf von "Raketen gegen
Steinewerfer" (so die Überschrift des "Spiegel") der Steinewerfer als
der hoffnungslos Unterlegene äußerste Schonung verdiente. Warum es
diesmal mehr Tote gab als noch zu Zeiten der Intifada, erfährt man
irgendwo am Rande, und einmal sogar in der "Tageszeitung": "Die
Aktivisten der Tansim", einer militanten Organisation der Fatah, die von
Arafat vertragswidrig bewaffnet worden ist, "werfen nicht mehr nur
Steine, sondern sie schießen mit scharfer Munition." Der Kugelhagel, in
dem der zwölfjährige Märtyrer kauerte, kam aus einer Stellung der Armee
und aus den Gewehren von sieben im Umkreis verteilten Schützen der
Tansim.
Die einzige ihrer früheren Vorlieben, welche die "Taz"
auf ihrem Weg zur allgemeinen Beliebtheit nicht zu verraten brauchte,
ist die zu den Palästinensern, zu deren Vandalismus in Nablus das Blatt
im Extrakästchen mitzuteilen weiß: "Zerstörtes Josefsgrab - Fragwürdiges
Pilgerziel - Zahlreiche Historiker bestreiten jedoch, daß sich an dieser
Stelle die letzte Ruhestätte Josefs befindet." Ach, diese Aufklärer!
Ginge es nach wissenschaftlicher Erkenntnis, wären 99 Prozent aller
heiligen Stätten aller Religionen zu schließen und 100 Prozent der
Religionen, die doch nichts sind als Aberglaubensgemeinschaften, zu
verbieten.
Wie, beispielsweise, der Islam, zu dessen besonderen
Features es gehört, jedem seiner zur Keuschheit verpflichteten jungen
Gläubigen als Lohn für ein Attentat, bei dem er außer einer größeren
Menge Juden auch sich selber in die Luft sprengt, im Paradies ein
Dutzend Privatjungfrauen, ficks und fertig, bereitzulegen. Und so
mußten, heißt es, in wenigen Tagen hundert Palästinenser und zwanzig
Israeli sterben, weil ein israelischer Politiker auf dem Tempelberg in
Jerusalem einen Rundgang gemacht hat, wie ihn täglich ungezählte
Touristen machen. Weil der Politiker aber Jude ist und der Tempelberg
eine "heilige Stätte" der Muslime, war der Rundgang eine Provokation,
die nur mit Blut gesühnt werden konnte. Sogar der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen schloß sich dieser meschuggenen Sichtweise an und
verurteilte die "israelische Provokation vom 28. September" sowie die
ihr folgende "exzessive Gewaltanwendung".
Die USA haben diesmal, anders als zur Zeit der alten
Weltordnung, kein Veto eingelegt. Israel hat für die USA an Bedeutung
verloren. Im komplizierten Geflecht zwischen den nationalrevolutionären
Regimes Syriens, Libyens, des Iraks und schließlich des Irans, die mehr
oder weniger auf die Seite des weltpolitisch Bösen zu rechnen waren, den
feudalen Scheichtümern, der jordanischen Monarchie und der ägyptischen
Republik, war es einst wichtig gewesen, mit einer eigenen Dependance vor
Ort zu sein und sie politisch wie militärisch so auszustatten, daß von
ihr aus unerwünschte Entwicklungen in der Region unterbunden und
erwünschte in Gang gesetzt werden konnten.
Das hat sich 1990, mit dem Untergang der Sowjetunion,
gründlich geändert. Zum Golfkrieg im März 1991 war es an dieser Stelle
zu lesen: "Daß die USA tagtäglich die israelische Regierung anweisen,
die irakischen Angriffe nicht zu erwidern, ... läßt freilich auch bei
einem Betrachter, der Politik nicht in der Selbsterfahrungsgruppe
gelernt hat, Zweifel aufkommen, ob die USA und ihre europäischen
Alliierten ... schon heute mit dem Preis spekulieren, zu welchem sie
Israel morgen an ihre arabischen Alliierten verkaufen würden. Wie, wenn
sie es schon getan hätten? Für ein paar Barrel mehr könnten sich auch
die ärmeren amerikanischen, englischen und französischen Klassenbrüder
und ihr politisches Personal zu einigem bereit finden oder schon
gefunden haben."
Zehn Jahre später ist es endlich offenbar. Nun können
deutsche Antisemiten von ihnen so genannte "jüdische" US-Politiker als
Kronzeugen gegen Israel anführen und mit dem Judenstaat mal richtig
deutsch reden: "Mit jedem Toten kehrt das Bild vom häßlichen Israeli
zurück, der seinen Staat ohne jede Rücksicht verteidigt" ("Spiegel").
Auch die arabischen Regimes haben ihre weltpolitische Deckung verloren,
aber sie haben ihr Öl behalten. Hätten sie das nicht, würden sie einfach
in die ewige Armut abgeschoben und vergessen, wie Schwarzafrika, oder in
Kolonien neuen Typs verwandelt, wie die Staaten Lateinamerikas und
Südosteuropas. Weil sie einerseits einen raren Rohstoff haben, die
Kosten einer Kolonisierung der islamischen Staaten jedoch andererseits
von niemandem aufzubringen wären, müssen bei ihrer Ausplünderung neue
Wege gegangen werden.
Daß sie gegangen werden müssen, steht in der Zeitung,
hier in der "Berliner": "20 Milliarden Mark verursacht der hohe Ölpreis
nach Berechnungen der Bundesregierung allein in diesem Jahr der
deutschen Volkswirtschaft. Am Sonntag zieht Wirtschaftsminister Werner
Müller aus, um einen Teil des Geldes zurück ins Land zu holen." Und dazu
muß man erst mal vorgelassen werden. Beim Antichambrieren im Gottesstaat
Iran waren die Deutschen so tüchtig, daß die USA jüngst zu einer
Kehrtwende ihrer Boykott-Politik angesetzt haben. Und während die USA
ihre Flugzeuge noch auf dem nördlichen Irak herumbomben lassen, landen
die ihrer verbündeten Konkurrenten Frankreich und Großbritannien am
Embargo vorbei auf dem Flughafen von Bagdad.
Beim Tanz um die heiligen Quellen des Islam werden die
Israeli von den Weltmächten nicht gebraucht und sind die Palästinenser
ihren Glaubensbrüdern lästig. Es könnte das Schlimmste an der Sache
werden, daß beide zu der Meinung kommen, da helfe nur noch Beten.
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