Selbsthistorisierung
VON GÜNTHER JACOB
Im öffentlichen Streit der
letzten Monate über die linksradikale, gar marxistisch-leninistische
Vergangenheit etlicher rotgrüner Politiker gefiel es besonders den
konservativen Medien, Parallelen zwischen dem schlechten
Erinnerungsvermögen der 68er und dem angeblichen Schweigen der
NS-Tätergeneration zu ziehen.
Als Christian Ströbele mehrfach
versuchte, Außenminister Fischers Aktivitäten in der Frankfurter
Spontigruppe »Revolutionärer Kampf« mit den Umständen der Zeit zu
erklären, fragte zum Beispiel die »FAZ« im ironisch mit »Spätheimkehrer«
überschriebenen Titelkommentar: »Merkt Ströbele gar nicht, daß seine
Argumente aufs Haar denen gleichen, die viele Söhne noch 1968 von ihren
Vätern zu hören bekamen?« Ein paar Tage später folgte ein Kommentar zu
einer Talkrunde, deren Thema jene Fotos waren, die den auf einen
Polizisten einschlagenden Fischer zeigen: »So wie Kraushaar in dieser
Sendung stritten zuletzt aufgebrachte ältere Herren über die Fotos der
Wehrmachtsausstellung: Die Fotos zeigten doch nur die Hälfte der
Wahrheit.«
Das Motiv dieses skandalösen
Vergleichs zwischen dem großen Morden der Wehrmacht und der politisch
erfolglosen 68er-Bewegung durch jene, die alles getan haben, um die
Ausstellung über den Vernichtungskrieg zu Fall zu bringen, erschöpft
sich jedoch nicht in der Relativierungsabsicht und in der billigen
Retourkutsche. Die denunziatorischen Gleichheitszeichen zwischen den
»älteren Herren« und ihren »Söhnen« verdecken vielmehr das wirkliche
Thema: Die historisierende Entschuldigung mit den »Umständen« in den
Reden der Ströbeles und Kraushaars zeugen von direkten Bezugnahmen auf
die Erlebnisspuren der Alten. Diese Bezugnahmen mehren sich, seit das
vereinte Deutschland seine volle Souveränität durchsetzen konnte und
seit das Bekenntnis zum »natürlichen Gewicht einer europäischen
Großmacht« ganz selbstverständlich zum Bürgerstolz gehört. Sie
unterscheiden sich daher von früheren Formen der Tradierung durch ihr
größeres Maß an Bewußtheit.
Von Gerd Koenen, einem ehemaliger
Funktionär des 1984 aufgelösten Kommunistischen Bundes Westdeutschland
(KBW), der sich später als Polenexperte und Totalitarismusforscher einen
gewissen Namen machte, ist in diesen Tagen bei Kiepenheuer & Witsch Das
Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977
erschienen. Einmal mehr geht es hier um die Studentenbewegung, vor allem
aber um »die Welt der DKP, Trotzkisten, K-Gruppen und MG« sowie um die
Frankfurter Sponti-Szene.
Interessant an diesem Text ist
vor allem das, was der Autor darin ungewollt mitteilt. Koenen möchte dem
über die »Jugendsünden von 1968« debattierenden Publikum plausibel
machen, warum manche, bevor sie ihr ganz persönliches »Ich habe
verstanden« schwören konnten, zuvor mehr als ein Jahrzehnt lang dem
Kommunismus zum Durchbruch verhelfen wollten. Schon bald nach der
Auflösung des KBW war dem Autor das eigene Ethos der Revolution, das ihm
dereinst Halt und Wichtigkeit verliehen hatte, zum Rätsel geworden. Nach
weiteren 15 Jahren einer rundum erfolgreichen, inzwischen um die DDR und
ein Balkanprotektorat erweiterten deutschen Demokratie wollte er dieser
seinen Respekt erst recht nicht mehr versagen.
So weit, so normal. Ein Mensch
hat den Eindruck, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben, und korrigiert
eine Entscheidung. Koenen könnte es dabei belassen. Aber in dem Moment,
da diese Konstellation im Rahmen einer vermeintlich autobiographischen
Vergangenheitsfiktion nachträglich schlüssig gemacht werden soll,
geraten die familiären Bindungen verstärkt ins Spiel. Aus der Korrektur
einer Entscheidung wird eine Geschichte über den heimkehrenden Sohn:
»Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern - meinem Vater, der starb,
als unsere Entfremdung am größten war, an der er seinen und ich meinen
Anteil hatte; und meiner Mutter, die aus allen guten und schlechten
Zeiten mit Menschlichkeit und Humor das Beste gemacht hat.«
Nicht zufällig deckt sich diese
»Erinnerung« Koenens mit der seines früheren Chefs, dem »Zeitzeugen«
Joscha Schmierer, der im Januar in der »FAZ« ebenfalls eine rührende
Familiengeschichte zu erzählen wußte: »Mich hat meine Mutter,
Kriegerwitwe auch sie, freundlich im Gefängnis besucht, als ich 1975
einsaß wegen schwerem Landfriedensbruch.«
Kriegerwitwen, Naziväter und
ML-Maoisten - vor dem Gesetz der Familie gibt es nur gute und schlechte
Zeiten. Gab es am Anfang hier vor allem versteckte Botschaften, wozu
nicht zuletzt der befreiungsnationalistisch begründete aggressive linke
Antizionismus zu zählen ist, so geht man heute ganz direkt auf die Alten
zu und bekennt sich zu den eigenen emotionalen und materiellen
Verpflichtungen gegenüber der Tätergeneration. Dabei blendet Koenen, der
die aktuellen erinnerungskulturellen Diskurse natürlich mitgelesen hat,
das Thema der »subtilen Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen«
keineswegs aus - »die Jungen konnten die Radikalität ihrer Kritiken kaum
bis ins Persönliche durchhalten« -, sondern gibt dem Thema, darin
vergleichbar mit Hannes Heer, eine Wendung gegen eine von den Jungen
angeblich beanspruchte »moralische Überlegenheit«. Auch das Stichwort
»linker Antizionismus« taucht bei Koenen auf, allerdings ohne die
eigenen Annäherungen an antisemitische Verschwörungstheorien (die
Fernsehserie »Holocaust« wurde in der »Kommunistischen Volkszeitung« des
KBW vom 29.1.1979 als »zionistische Propaganda« abgetan) und die eigene
Gleichsetzung von Israel und Nazideutschland (»Von Provokation zu
Provokation - der Zionismus wird genauso enden wie der Faschismus«,
»KVZ«, 23.5.1977) zu erwähnen.
Sich auf Hermann Lübbe berufend,
erkennt Koenen im Rückblick, daß es zu Adenauers
»katholisch-pragmatischer« Integrationspolitik gegenüber den »alten
Nazis« keine Alternative gab. Überraschender als dieses längst zum
Konsens gehörende Urteil ist allerdings die daran anknüpfende Forderung,
die Nation solle auch ehemaligen Maoisten gegenüber Pragmatismus walten
lassen. Man habe sich zwar »schuldig gemacht« durch die Unterstützung
des »Steinzeitkommunismus« in Kambodscha, aber dieser Irrtum sei später
ausgeglichen worden durch Hilfslieferungen an die polnische Solidarnosc
und gutes Einvernehmen »mit den sowjetischen Dissidenten«.
Koenens legitimatorische
Selbstzeugnisse über »gebrochene Biographien« und »vergeudete
Lebensenergien«, über die 20jährige Nichtkommunizierbarkeit des eigenen
»Totalitarismus« nach dessen blamablem Scheitern sowie über die eigenen
Opfer und die wenig zimperlichen Gegner enthalten eine ganze Reihe von
Anspielungen auf die Erfahrungen der »Kriegsgeneration«. Besonders
deutlich wird das, wo sich bei Koenen zwischen beflissener Selbstkritik
und seinen alten »Jugendidealen« ein Riß auftut und wo deshalb seine
selbstauferlegte demokratische Reeducation auf Grenzen stößt. Denn allen
wohlfeilen Schuldbekenntnissen zum Trotz kann oder will der Autor die
emotionale Qualität der damaligen Erlebnisse nicht völlig unter
Kontrolle bringen. Er muß es auch nicht, nachdem sein Buch den Eltern
gewidmet ist.
Es ist interessant zu sehen, wie
Koenen, sowie es direkt um den KBW geht, in den alten Stil verfällt und
wie dadurch der narrative Hauptplot an Stringenz verliert. Besonders
bezeichnend ist sein Stolz auf die damaligen Aufbauleistungen - auf die
»flächendeckende« Auflage der »KVZ«, auf den in dieser Zeit noch ganz
ungewöhnlichen Einsatz von Linotype-Lichtsatzgeräten und auf den hohen
Frauenanteil im KBW von »deutlich über 40 Prozent«. Gerade jene
Geschichten, die seine besondere Kompetenz als Erzähler beweisen sollen,
enthalten somit einen irreduziblen Rest nicht relativierbarer
emotionaler Begeisterung für seine »besten Jahre«. Der Vater hätte dafür
sicher Verständnis gehabt.
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