Veränderte
Fronten in der Al-Aksa-Intifada
DIE PALÄSTINENSISCHE GESELLSCHAFT
ZWISCHEN NATIONALER BEFREIUNG UND AUFBAU DES STAATES
Von NADINE PICAUDOU
Die Autorin ist Dozentin am Staatlichen Institut für Sprachen und Kulturen
des
Orients (Inalco), Paris. Von ihr ist erschienen "Les Palestiniens, un siècle
dhistoire"
Brüssel (Complexe) 1997.
Nach seinem Amtsantritt hat
sich der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon zu einem
Treffen mit Jassir Arafat bereit erklärt und die Hoffnung auf
"persönliche Kontakte schon in naher Zukunft" geäußert. Allerdings
müssten erst wieder Ruhe und Sicherheit in der Region einkehren.
Doch die Signale, die
Scharon mit der Zusammensetzung seines Kabinetts gegeben hat, und
die jüngsten Anschläge und Bombendrohungen vonseiten radikaler
palästinensischer Organisationen deuten eher auf ein Einfrieren des
Friedensprozesses hin. Unterdessen geht die Repression im
Westjordanland und im Gasastreifen weiter, und die palästinensische
Gesellschaft ist dabei, neue Formen des Widerstands zu entwickeln,
die sich von denen der ersten Intifada (1987-1993) stark
unterscheiden.
Der Volksaufstand, der seit
Ende September 2000 die Palästinensergebiete erfasst hat, machte der
Welt von Anfang an seine symbolischen Bezüge deutlich: In den
Medien, in der Öffentlichkeit, firmierte er bald unter dem Namen
"Al-Aksa-Intifada". Die Bezeichnung taugt jedoch nicht als Schlüssel
zum Verständnis der Ereignisse: Sie mag einen trügerischen
Déjà-vu-Effekt hervorrufen, aber zwischen dem aktuellen Aufstand und
der ersten Intifada von 1987 bis 1993 gibt es keine eindeutige
Kontinuität.
Schon die geografischen
Voraussetzungen der Auseinandersetzung sind völlig andere. Bei der
ersten Volkserhebung traten in den Städten unbewaffnete Zivilisten
gegen die israelische Besatzungsmacht an, diesmal kommt es zu
begrenzten gewaltsamen Zusammenstößen in den Randzonen der
palästinensischen Autonomiegebiete, in der Nähe der jüdischen
Siedlungen und an den Kontrollpunkten der israelischen Armee - also
an den Fronten zwischen zwei feindlichen Territorien. Die
Beschränkung des Kampfes auf quasi sakrosankte Gebiete erklärt auch
die unerhört harten Repressionsmaßnahmen der israelischen Seite, den
systematischen Einsatz von Scharfschützen und Kampfhubschraubern,
die Raketen auf genau ausgewählte Ziele abschießen.(1)
Letztlich passt diese
geografische Struktur der Auseinandersetzungen zur Logik des
Oslo-Friedensprozesses, bei dem es ja weniger um Sicherheitsfragen
als um politische Ziele ging. Auch die Autonomieregelung, die den
Palästinensern 1993 angeboten wurde, war eine Folge der ersten
Intifada: Man hoffte, die aufständische Bevölkerung auf Abstand zu
halten, indem man sie unter die Aufsicht einer palästinensischen
Verwaltung stellte, die damit zum verlängerten Arm der israelischen
Sicherheitsinteressen werden sollte. Israel glaubte, auf diese Weise
eine Radikalisierung des Aufstands verhindern zu können, ohne sich
durch Rückgriffe auf unzeitgemäße Formen kolonialer Unterdrückung zu
kompromittieren. Die Trennung erschien als das beste Mittel gegen
die Gewalt. Im Übrigen gab es in den vergangenen Monaten nicht
wenige Stimmen in Israel, die eine Verstärkung dieser Abschottung
forderten. Sogar im Westen fanden sich einige wohlmeinende
Verfechter einer solchen Lösung, die sie selbst um den Preis von
Umsiedlungen für die gebotene Maßnahme zur Beendigung des Konflikts
hielten.
Das zeigt deutlich genug,
dass ein binationaler Staat für die Israelis eine beängstigende
Vorstellung ist, eine Angst, die vor allem durch die demografischen
Prognosen genährt wird: Geht man von den unterschiedlichen
Geburtenraten aus (durchschnittlich 2,7 Kinder bei israelischen
Müttern, 5,64 bei den Palästinenserinnen), dann ist im Jahr 2010 im
Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan mit einer arabischen
Bevölkerungsmehrheit zu rechnen.(2) Die demografische Entwicklung,
die jeden Traum von einem Großisrael ad absurdum führt, spielte eine
wichtige Rolle bei den Entwürfen von Oslo. Danach ist vorgesehen,
die Menschen voneinander zu trennen, aber die Oberhoheit über das
gesamte Territorium bei Israel zu belassen, das die Grenzen, den
Luftraum und die unterirdischen Ressourcen (vor allem das Wasser)
kontrollieren soll. Israel soll freilich auch einen Teil des Bodens
behalten und durch die jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im
Gasastreifen seine territoriale Präsenz auch nach dem Ende der
Übergangsperiode behaupten können. Der Preis dafür ist ein
beispielloser Einsatz der Armee, um die Sicherheit der Siedler zu
gewährleisten, die inzwischen offen bedroht werden.
Aus Sicht der Palästinenser
stellt die Auflösung der Siedlungen die wichtigste Vorbedingung dar,
um echte Souveränität über ein zusammenhängendes und einheitliches
Gebiet zu erlangen. Darüber hinaus sind diese Siedlungen auf den
Hügelketten, die das Leben in den palästinensischen Dörfern und
Städten jeden Tag etwas mehr einengen, das eigentliche Sinnbild der
Enteignung, um die kein Siedlungskolonialismus herumkommt. Die
Palästinenser sind bereit, für al-Aksa zu sterben, doch sie finden
den Tod auf der Straßenkreuzung vor Netzarim.
Es besteht ein enger
Zusammenhang zwischen der neuen Topografie der Auseinandersetzungen
und den soziologischen Aspekten des Aufstands, die deutliche
Unterschiede zur ersten Intifada erkennen lassen. Die zivile
Volkserhebung gegen die Besatzung ist abgelöst worden von
Widerstandsformen, die zwar die Unterstützung der Mehrheit haben,
aber von einer Minderheit in die Tat umgesetzt werden. Denn die
Masse der Bevölkerung in den palästinensischen Autonomiegebieten ist
offensichtlich erschöpft und nicht mehr zu mobilisieren.
Der wichtigste Grund dafür
liegt in der dramatischen Verschlechterung der alltäglichen
Lebensbedingungen. Für die Mehrheit der Palästinenser ist die
Autonomie gleichbedeutend mit wachsender Arbeitslosigkeit und
zunehmender Einschränkung der Bewegungsfreiheit, eine Entwicklung,
die nicht nur den Lebensstandard senkt, sondern weitreichenden
Einfluss auf die sozialen Beziehungen hat. Die sinkenden Einkommen
und begrenzten Reisemöglichkeiten führen zur Rückbesinnung auf die
Solidarität im Familienverbund, und das bedroht nicht nur die
individuelle Unabhängigkeit, sondern lässt auch die Verwandschafts-
und Nachbarschaftsbeziehungen wieder wichtiger werden als den
nationalen Zusammenhalt.(3)
Das System der
Sondergenehmigungen, ohne die niemand die Sicherheitszonen rund um
die palästinensischen Enklaven passieren darf, erzeugt neue
Statusunterschiede innerhalb der Gesellschaft: Der Vertreter der
Autonomiebehörde (PNA), der einen permanenten Passierschein besitzt,
steht über dem Kaufmann oder Arbeiter, der seine Erlaubnis immer
wieder erneuern lassen muss, und beide sind wiederum privilegiert
gegenüber der Masse der Bevölkerung, die überhaupt keine Möglichkeit
hat, die Autonomiegebiete zu verlassen.
In besonders kritischen
Situationen kommen dann noch die berüchtigten "Abriegelungen" (wie
es in der Sprache der westlichen Medien banalisierend heißt) der
palästinensischen Gebiete hinzu. Sie verstärken das Gefühl, immer
mehr von Israel abhängig zu sein. Es scheint, als habe die Autonomie
nicht nur keinen Abbau des Besatzungsregimes gebracht, sondern die
Bevölkerung mehr denn je den israelischen Behörden ausgeliefert.
Doch die Bevölkerung ist nicht mehr kampfbereit, die sozialen und
politischen Strukturen von denen die erste Intifada getragen war,
sind nach und nach zerfallen.
Im Rahmen der arabischen
Gesellschaften des Nahen Ostens zeichneten sich die Palästinenser
lange Zeit durch ein funktionierendes Netz moderner Vereinigungen
aus, das neben den traditionellen Organisationsformen, wie Familie,
Dorfgemeinschaft, Moschee oder Kirche, eine wichtige Grundlage für
den Kampf gegen die Besatzung bildete. Vor allem in den Bereichen
von Gesundheit und Bildung, die von den israelischen Behörden oft
vernachlässigt wurden, gewährleistete dieses Netzwerk eine
Grundversorgung für die Bevölkerung, trieb dabei aber zugleich die
soziale und politische Mobilisierung voran und trug dazu bei, in den
besetzten Gebieten die nationale Identität zu bewahren.
Viele solcher Vereinigungen
waren mit politischen Fraktionen der PLO verbunden, die versuchten,
in den Gewerkschaften, den Frauenorganisationen oder den
Studentenräten führenden Einfluss zu gewinnen. Es entwickelte sich
ein regelrechter "Krieg der Institutionen", in dem sich Ende der
Siebzigerjahre die Fatah und linke Widerstandsgruppen
gegenüberstanden, während in den Achtzigerjahren die entscheidende
Konfrontation zwischen PLO und Islamisten stattfand.(4) Beteiligte
wie Beobachter waren sich damals einig, dass aus diesen
zivilgesellschaftlichen Organen die Infrastruktur eines künftigen
Staates hervorgehen würde.
Ein aufgezwungener Staat
Als die israelischen
Repressionsmaßnahmen vom Frühjahr 1982 die Hoffnungen auf eine
baldige Staatsgründung schwinden ließen, verlagerten sich die
Aktivitäten aus dem Bereich des im engeren Sinne politischen in den
des sozialen Engagements. Überall wurden Volkskomitees für
freiwillige Tätigkeiten gegründet, die sich um den Erhalt der Städte
kümmerten, den Armen medizinische Hilfe und juristischen Beistand
boten, Haushaltskooperativen und Familienplanungszentren schufen.
Das bedeutete auch eine Veränderung und Erweiterung des nationalen
Kampfes, denn das Netzwerk der Volkskomitees diente den politischen
Gruppierungen als Rekrutierungsfeld und zugleich als Möglichkeit,
jene Massenmobilisierung vorzubereiten, deren Stärke sich dann
während der Intifada zeigte.
Beim Aufstand von 1988/89
spielten diese Organisationsstrukturen tatsächlich eine tragende
Rolle, sie setzten völlig neue Strategien des zivilen Ungehorsams
und alternative Formen der sozioökonomischen Entwicklung durch. In
den Neunzigerjahren begannen sich die Nichtregierungsorganisationen
(NGOs) mehr und mehr zu professionalisieren und zu entpolitisieren.
Sie widmeten sich nun besonders der so genannten Entwicklung der
menschlichen Ressourcen, schrieben sich aber zugleich die
Verteidigung der Zivilgesellschaft auf die Fahne, um sich damit
ihren Anteil an den internationalen Hilfsgeldern zu sichern, die
nach den Oslo-Verträgen in die Einrichtungen der Autonomiebehörde
flossen.(5 )Als Katalysatoren der sozialen Mobilisierung spielen die
NGOs inzwischen kaum noch eine Rolle.
Am Vorabend der neuen
Intifada wurden in allen Analysen der palästinensischen Gesellschaft
Anzeichen einer gewissen politischen Apathie konstatiert. Umfragen
zeigen, dass zwischen 1994 und 1999 vor allem das parteipolitische
Engagement drastisch zurückgegangen ist. Der Anteil derer, die sich
keiner politischen Richtung zugehörig erklären, hat sich in diesem
Zeitraum mehr als verdoppelt, ein vor allem in den gebildeten
Schichten signifikanter Trend. Zugleich findet sich bei der jüngeren
Generation ein merklich schwindendes Interesse an Information, und
der Wunsch auszuwandern wächst.(6)
Darin tritt zweifellos das
deutlichste Zeichen der Krise zutage, in die die palästinensische
Nationalbewegung im Verlauf der von den Oslo-Verträgen vorgesehenen
Übergangsperiode geraten ist. Es herrscht das allgemeine Gefühl, die
Dynamik des Friedensprozesses sei so sehr von außen bestimmt, dass
die Gesellschaft darauf keinen Einfluss mehr nehmen könne. Seit
sieben Jahren wird die palästinensische Führung mit dem Argument,
der Frieden sei dringend geboten, regelrecht erpresst. Der Druck,
ein ungünstiges Kräfteverhältnis hinzunehmen und damit letztlich
jede Entscheidungsfreiheit aufzugeben, ist enorm.
So besteht die Gefahr, dass
der künftige Staat, von dessen baldiger Gründung ein ums andere Mal
die Rede ist, nicht als Durchsetzung des legitimen Rechts auf
Selbstbestimmung erscheint, sondern als das Ergebnis eines
politischen Handels - ein Staat, der den Palästinensern nach
anhaltendem internationalem Druck vom Gegner aufgezwungen wurde. Der
triumphale Empfang, der Jassir Arafat nach dem Scheitern des
Camp-David-Gipfels im Juli 2000 bereitet wurde, drückte vor allem
die Erleichterung darüber aus, dass endlich der Mut da war, vor
aller Welt nein zu sagen.
Stärker ist die Krise im
politischen Bewusstsein der Palästinenser jedoch bestimmt durch das
ambivalente Verhältnis der Gesellschaft zu einer nationalen Führung,
die zwar aus der Befreiungsbewegung hervorgegangen ist, sich aber
eng mit dem Staat Israel verbunden hat. Besonders deutlich wird
diese praktische Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, von den
gemeinsamen Patrouillen, die Israelis und Palästinenser in der Zone
B durchführen(7), bis zur Kooperation der Geheimdienste im Kampf
gegen die islamistische Opposition.
Tatsächlich dürfte die
vorübergehende Aufkündigung der Sicherheitszusammenarbeit das
einzige Druckmittel gewesen sein, über das die Autonomiebehörde in
den vergangenen Monaten verfügt hat. Dass kürzlich einige
palästinensische Kollaborateure hingerichtet wurden (nach
Schnellverfahren vor Militärgerichten), kann als Zugeständnis an die
öffentliche Meinung und als der Versuch gelten, einen untadeligen
Nationalstolz zu dokumentieren.
Die wirtschaftliche
Abhängigkeit der palästinensischen Gebiete von Israel hat neben den
formalen Beziehungen, wie sie in den Autonomieverträgen geregelt
sind, Interessenverflechtungen zwischen dem
"militärisch-kaufmännischen Komplex" im Umkreis der PNA-Führung und
jenen verantwortlichen Stellen in Israel entstehen lassen, die den
palästinensischen Staatsfirmen die Importmonopole für
Grundversorgungsgüter verschaffen können.(8) So stellt die
grundsätzliche Unsicherheit des Autonomiestatus die PNA vor eine
letztlich paradoxe Aufgabe: sie soll den nationalen Kampf führen -
und arbeitet gleichzeitig mit dem Feind zusammen.
Außerdem fällt der PNA die
Aufgabe zu, zwei ganz verschiedene geschichtliche Etappen zur
gleichen Zeit erfolgreich zu beenden: die nationale Befreiung, die
noch immer nicht gelungen ist, und den Aufbau des Staates, der
gleichwohl bereits begonnen hat. Eben weil die nationale Frage
ungelöst bleibt, spielt die Festlegung, wer zur politischen
Gemeinschaft gehört und wer nicht, eine entscheidende Rolle für das
Verhältnis zur Besatzungsmacht ebenso wie für die Beziehungen
innerhalb des eigenen Lagers. So hat die Umsetzung der
Autonomieregelungen im Westjordanland zu einer neuen Kluft zwischen
Inlandsflüchtlingen und ansässiger Bevölkerung geführt.(9)
In der Zeit von 1996 bis
1997, während des Streits um die palästinensischen Kommunalwahlen,
die am Ende nicht stattfanden, gründete sich im Flüchtlingslager
Deheische bei Bethlehem eine "Bewegung zur Verteidigung der Rechte
der Flüchtlinge", die zum Boykott der Wahlen aufrief. Die
Flüchtlinge wollten an die Kommune keine Steuern zahlen und von ihr
keine Leistungen erhalten, und sie waren auch bereit, auf die
Unterstützung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina
(UNRWA) zu verzichten. Mit anderen Worten: Es gab unter den
Bewohnern der Lager eine Tendenz, ihre politische Vertretung vor Ort
zugunsten der Bekräftigung ihres Rechts auf Rückkehr zu opfern.
Doch das Beharren auf dem
Flüchtlingsstatus hatte zur Folge, dass sie ihre staatsbürgerlichen
Rechte nicht wahrnahmen. Die Flüchtlinge in den Städten dagegen
machten sich zur gleichen Zeit für eine bessere Vertretung in den
kommunalen Gremien stark, weil sie sich gegenüber den Ortsansässigen
benachteiligt fühlten. Dass es zu einer solchen Spaltung kommen
konnte, zeigt deutlich, welche Widersprüche sich aus jener unklaren
Überschneidung zweier geschichtlicher Entwicklungsphasen ergeben:
Die Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen in den
Autonomiegebieten gestalten sich neu, und jede dieser Gruppen muss
ihr Verhältnis zu den neuen politischen Machthabern bestimmen.
In ähnlicher Weise sehen sich
auch die NGOs gehalten, angesichts der Herausbildung staatlicher
Strukturen - die nach wie vor stark von der PLO und ihrer
politischen Kultur geprägt sind - allmählich ihren
gesellschaftlichen Ort und ihre neue Rolle zu finden. Die nationale
Befreiungsbewegung hatte sich während des Exils auf weit versprengte
Gemeinschaften gestützt (und zu deren Wiedervereinigung
beigetragen), jedoch im Innenverhältnis keine Grenzen zwischen
Politik und Zivilgesellschaft gezogen. In den Widerstandsgremien
waren militärische Gruppierungen, politische Bewegungen und
Gewerkschaften ebenso vertreten wie Basisorganisationen und
Forschungszentren.
Als der militärische
Führungsapparat der PLO, der auch jetzt noch die PNA beherrscht, in
die Autonomiegebiete einzog, traf er auf eine Zivilgesellschaft, die
wenig Bereitschaft zeigte, im Namen des Staatsaufbaus alle möglichen
Zumutungen hinzunehmen. So konnten die wichtigsten Vereinigungen,
zusammengeschlossen in einem Dachverband, den Versuch, ihre
Auslandsfinanzierung staatlicher Kontrolle zu unterstellen,
zumindest teilweise zum Scheitern bringen. Und von
Menschenrechtsorganisationen kam immer wieder scharfe Kritik an den
autoritären Übergriffen der Führung, ihren Angriffen auf die
Meinungsfreiheit und ihrer Beeinflussung der Justiz.
Doch bei diesem Kräftemessen
innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geht es letztlich um
eine grundsätzliche Frage: Ist das Recht auf einen Staat und die
Forderung nach einem Rechtsstaat zugleich durchsetzbar?(10) Kann das
eine Bestand haben, solange das andere nicht gesichert ist? Und ist
nicht die staatliche Souveränität eine unabdingbare Voraussetzung
der Demokratie? Tatsächlich steht in den Autonomiegebieten
revolutionäre Legitimität gegen politische und verfassungsmäßige
Legalität.
Vor diesem Hintergrund ist
die Weigerung der PNA zu sehen, ein vom Legislativrat
verabschiedetes Grundgesetz in Kraft zu setzen, ebenso die
Anwesenheit von PLO-Vertretern bei den Zusammenkünften der
"Führung", die kaum wie Kabinettssitzungen aussehen, sondern eher
wie interne Diskussionen einer Nationalbewegung. Solche Phänomene
verdanken sich unmittelbar der Überschneidung zweier geschichtlicher
Phasen, und sie tragen dazu bei, die Unstimmigkeiten zwischen der
Führung und einer Bevölkerung zu vertiefen, die seit Inkrafttreten
des Autonomiestatuts immer weniger politisches Engagement zeigt.
Was bei der Analyse der
gegenwärtigen Intifada zweifellos zu wenig beachtet wird, ist die
relativ unbedeutende Rolle der Opposition. Der Aufstand wird nicht
von den Gegnern der Oslo-Verträge geführt, das heißt weder von
linken Widerstandsgruppen noch von den Islamisten - womit auch die
alte These widerlegt wäre, dass hier die Feinde des Friedens gegen
dessen Verfechter anträten.
Die nationalistisch gesinnte
Linke (insbesondere die Volksfront und die Demokratische Front)
scheint nicht in der Lage, eine glaubwürdige Alternative zur
Autonomie zu formulieren. Die ihr nahe stehenden Intellektuellen
versuchen einstweilen nur, diese Lücke mit wohl meinenden
Bekenntnissen zur Zivilgesellschaft zu schließen, vermögen damit
jedoch nicht über das fehlende politische Konzept hinwegzutäuschen.
Doch auch die Islamisten, die während der ersten Intifada eine
politische Alternative zur PLO-Führung darstellten und zur
Eigenständigkeit der "Inlandsbewegung" gegenüber der Zentrale in
Tunis beitrugen, bilden heute keineswegs mehr die Speerspitze des
Aufstands. Umfragen aus den letzten Monaten haben ergeben, dass nur
13 Prozent der Bevölkerung mit ihnen sympathisieren - Anfang der
Neunzigerjahre hatten sie noch etwa ein Drittel der Befragten hinter
sich.
Schon lange liegen innerhalb
der Hamas-Bewegung Pragmatiker und Radikale im Zwist. Die einen
nehmen die veränderte und in gewisser Weise irreversible politische
Situation zur Kenntnis, die durch die Autonomieverträge geschaffen
wurde, die anderen versteifen sich auf eine Verweigerungshaltung und
rufen weiterhin zur Befreiung von ganz Palästina auf.
Durch die wechselnden
Strategien der PNA - mal werden die Islamisten verfolgt, mal werden
sie eingebunden - hat sich diese Spaltung weiter vertieft und
letztlich beide Fraktionen geschwächt. Aber dass das islamistische
Lager bei der Lenkung des Aufstands keine bedeutende politische
Kraft darstellt, heißt nur, dass seine zum bewaffneten Kampf
entschlossenen Fraktionen erst recht auf das Mittel des Terrorismus
zurückgreifen werden. Eine Zunahme der Anschläge in Israel steht
daher zu befürchten.
Auch die Islamisierung der
politischen Rhetorik der Intifada, über die in den palästinensischen
und arabischen Medien ausführlich berichtet wird, kann nicht über
die politischen Kräfteverhältnisse hinwegtäuschen: Die führende
Rolle spielt die Fatah. Unter ihrer Führung hat sich ein oberstes
nationales und islamisches Komitee zur Fortführung der Intifada
gebildet, in dem alle politischen Richtungen vertreten sind. Als
politische Bewegung hat die Fatah seit 1994 eine Vormachtstellung in
fast allen Institutionen der Autonomiebehörde inne, in der
Zivilverwaltung wie innerhalb der Sicherheitskräfte, aber auch im
seit Januar 1996 bestehenden Legislativrat, in dem die Anhänger
Arafats über eine Zweidrittelmehrheit verfügen. Das konnte die
Bewegung nutzen, um ihre Klientel zu vergrößern und sich neue Felder
für die Rekrutierung von Aktivisten zu erschließen. Ihre Fähigkeit,
mit populistischem Geschick den Nationalismus für sich zu
reklamieren, hat die Fatah dabei offenkundig nicht verloren.
In Umfragen werden zwei
Hauptströmungen deutlich: Zum einen die Anhänger der Fatah (etwa 35
Prozent), zum anderen die Palästinenser ohne feste politische
Bindung - ihre Zahl hat sich seit der Einsetzung der PNA
verdreifacht, im Sommer 2000 waren es erstmals über 35 Prozent.(11)
Diese neue Polarisierung der politischen Haltungen ist von
unmittelbarer Bedeutung für die Intifada.
Gegen die zunehmende
Militarisierung der Auseinandersetzung vermochte die Mobilisierung
der Massen, die in den ersten Wochen der Erhebung gelungen war,
nicht lange anzukommen. Eine ähnliche Verschiebung war auch während
der ersten Intifada zu verzeichnen gewesen: Damals brauchte der
Übergang von der "stummen Konfrontation" zu den bewaffneten Aktionen
der "Kommandos" allerdings mehrere Jahre. Diesmal ging es wesentlich
schneller. Die gewaltsamen Proteste werden inzwischen nur noch von
einer militanten Minderheit geführt. Es sind nur wenig organisierte
Gruppen von Jugendlichen, oft fast noch Kinder, die dabei Steine und
Molotowcocktails werfen. Für manche von ihnen ist die
Auseinandersetzung mit den israelischen Soldaten eine Art
Lebensstil, ein Initiationsritus an der Schwelle zum
Erwachsenwerden. Die meisten kommen aus den Flüchtlingslagern, wo
Waffen leicht zu beschaffen sind.
Eine wichtige Rolle spielen
allerdings Mitglieder der Fatah-Miliz Tansim, die einst bei den
"Kommandos" der alten Intifada aktiv waren, vor allem bei den
"Falken der Fatah". Ein Teil dieser Kämpfer ist inzwischen bei der
PNA untergekommen, die eine Truppe von etwa 40.000 Bewaffneten
unterhält. Die meisten haben bei den Sicherheitskräften angeheuert,
insbesondere in der Abteilung "Präventive Sicherheit", die im
Westjordanland von Dschibril Radschub und im Gasastreifen von
Mohammed Dahlan geführt wird. Indem sie einige der Aktivisten der
ersten Intifada an sich zu binden versuchte, hoffte die PNA-Führung,
ihnen die unkontrollierte Militanz auszutreiben und zugleich etwas
politische Legitimität durch Teilnahme am Aufstand zu gewinnen.
Aus den übrigen, die nicht
direkt von der PNA in Dienst genommen wurden, bildeten sich die
Verbände der Tansim. Obwohl es inoffizielle Verbindungen zu
Mitgliedern der "Präventiven Sicherheit" gibt, halten sich die
Tansim nicht unbedingt an die Anweisungen der palästinensischen
Führung. Sie sind verantwortlich für die Angriffe auf jüdische
Siedler, die inzwischen als Teil einer Strategie der Einschüchterung
und Vertreibung erscheinen. Marwan Barghuti, Vorsitzender des Hohen
Komitees der Fatah für das Westjordanland, hat die jüngste
Entwicklung genutzt, um sich zum Sprecher dieser Bewegung zu machen.
Er wird nicht müde, zur Ausweitung des Aufstands aufzurufen.
Offiziell beschränkt sich die
Führung der Autonomiebehörde darauf, den wachsenden Volkszorn zur
Kenntnis zu nehmen. Sie könnte allerdings in Versuchung geraten,
sich auf diese Entwicklung zu berufen, wenn sie beschließen sollte,
aus den Gesprächen über den Endstatus gemäß den Oslo-Verträgen
auszusteigen und eine neue Verhandlungsrunde über diese Frage
einzuleiten - diesmal unter Berufung auf internationales Recht und
insbesondere auf die UN-Resolution 242 vom November 1967, die
besagt, dass das Westjordanland, der Gasastreifen und Ostjerusalem
besetzte Gebiete sind und geräumt werden müssen.
Insofern besteht eine Art
verdeckter Arbeitsteilung zwischen der Autonomiebehörde und den
militanten Gruppen, deren Aufgabe darin besteht, den Druck
aufrechtzuerhalten, der von der Intifada ausgeht. Für Jassir Arafat
ist diese Taktik nicht ungefährlich. Er könnte dabei die politische
Kontrolle verlieren, wenn es Marwan Barghuti gelingt, sich als
politische Alternative ins Spiel zu bringen und, getragen von der
Eskalation des Aufstands, die Nachfolge des alten Palästinenserchefs
anzustreben. Unterstützung fände Barghuti bei den neuen
Führungsschichten im Westjordanland, die nicht die geringsten
Sympathien für die arroganten und korrumpierten "Tunesier" haben,
aus denen Arafats Hofstaat in Gasa besteht. Vielleicht muss man mit
einer neuen Strategie rechnen, die langfristig Formen des
bewaffneten Widerstands, gewaltlose Massenmobilisierung und die
Fortführung der Verhandlungen vereint.
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Siehe Salim Tamari und Rema Hammami, "Beyond Oslo: The new
Uprising", Middle East Report (Washington), Nr. 217, Winter
2000/01.
(2) Siehe dazu die Beiträge von Sergio Della Pergola und Philippe
Fargues (während des INED-Seminars am 30. November 2000) zum Thema
"Der demographische Hintergrund des Ausbruchs der Gewalt in
Israel/Palästina". Siehe auch die Arbeit von Philippe Fargues,
"Générations arabes, lAlchimie du nombre", Paris (Fayard) 2000.
(3) Majdi al-Malki, "Le système de soutien informel et les relations
de néo-patrionialisme en Palestine". Dieser Beitrag erscheint
demnächst in einer Ausgabe von Les Annales de lAutre Islam
(Paris, Inalco, 2001), die sich mit dem "Aufbau der
palästinensischen Nation" beschäftigt.
(4) Siehe Mohamed Muslih, "Palestinian civil society", Middle
East Journal (Washington), Jg. 47, Nr. 2, Frühjahr 1993.
(5) Rema Hammami, "NGOs, the professionalisation of politics",
Race and Class (London), Bd. 37, Nr. 2, 1995.
(6) Mudar Kassis, "Reflections on the possibility of building a
Participatory Democracy in Palestine", erscheint in Les Annales
de lAutre Islam, s. o., Anm. 3.
(7) Der am 28. September 1995 in Washington unterzeichnete Vertrag
über die Ausweitung der Autonomie teilt Palästina in drei Zonen auf:
In der Zone A liegt die Sicherheit wie die zivile Verwaltung in der
Hand der Autonomiebehörde, in Zone B ist die PNA nur für die
Zivilverwaltung zuständig, und Zone C bleibt vollständig unter der
Kontrolle der israelischen Streitkräfte.
(8) Siehe dazu besonders Laetitia Bucaille, "Gaza, la violence de la
paix", Paris (Presses de Sciences Po) 1998.
(9) Diese Entwicklung hat Aude Signoles vorausgesagt: "Réfugiés des
camps, refugiés des villes et familles autochtones: vers une
reconfiguration des pouvoirs locaux en Cisjordanie", erscheint in
Kürze in Les Annales de lAutre Islam, s. Anm. 3.
(10) Die Formulierung stammt aus Assad Maalouf, "LÉtat souverain,
une construction en faillite", Revue dÉtudes palestiniennes
(Paris), Nr. 25, Herbst 2000.
(11) Siehe Jamil Hilal, "State Formation under Adversity", erscheint
in Kürze in Les Annales de lAutre Islam.
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
haGalil onLine
03-04-2001
|