antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

  

Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 

 

22 Jahre alt, schlaksig, dunkle Locken – offenbar zu dunkel:
Ein Gefühl tiefer Verlassenheit

In Dessau wurden drei junge Deutsche von Rechtsradikalen schwer verletzt, doch in der Stadt scheinen die Opfer nur zu stören

Von Annette Ramelsberger

Dessau, im März – Es ist dieser Stiefel, der immer wieder vor seinen Augen erscheint. Schwarz, schwer, mit vertrocknetem Kaugummi im Profil und einem eingetretenen Zigarettenstummel. Der Stiefel kommt aus dem Dunkel auf ihn zu, auf sein Auge, seine Stirn, seine Schläfe. Und er kommt immer wieder. 

Tags, ganz plötzlich, wenn Martin Bauer im Auto sitzt. Nachts, wenn er nicht schlafen kann. Auf der Straße, wenn er ein Geräusch hinter sich hört. In der Wohnung, wenn er die Augen schließt. Der Stiefel ist da. Seit jenem Tag.

Ulrich Geier hat die Jalousien geschlossen – selbst bei Sonnenschein. Es könnte ja jemand über den Balkon kommen. Abends geht er nicht mehr aus. Und tagsüber nur wie ein Gejagter. Wie einer, der sich unsichtbar machen will, der sich an den Hauswänden entlang schlängelt, in einer Art „Duck-Dich“-Haltung. Ulrich Geier hat zwei Metallplatten im Kopf, sein Jochbein ist zertrümmert, sein Kieferbein gebrochen, sein rechtes Auge hat nur noch 25 Prozent Sehkraft. Seit jenem Tag.

Ingo Dorn ist ganz blass. Die Hände hat er wie zum Schutz in den Hosentaschen vergraben. Seine Stimme kommt stockend, die Wörter kämpfen sich aus seiner Brust heraus. „Ich dachte, die wollten uns umbringen“, sagt er. Es ist ein Flüstern. Ingo Dorn wurde von einem Pitbull angefallen, von dem Hund über die Straße gezerrt, von Springerstiefeln ins Gesicht getreten. Sein Nasenbein ist gebrochen. Seit jenem Tag.

An jenem Tag, dem 30.Oktober 2000, vor gerade fünf Monaten, haben drei Rechtsradikale mitten in Dessau (Sachsen-Anhalt), aus heiterem Himmel eine Gruppe Spaziergänger überfallen, die nachts nach der Disco nach Hause gehen wollten. Sie hielten sie mit einem Pitbull in Schach, traten und prügelten sie zu Boden – bis ein Auto kam. Da flüchteten sie. „Hätte der Schlag den Geschädigten zwei Zentimeter höher getroffen, wäre er tödlich gewesen“, sagt der medizinische Sachverständige über den 38 Jahre alten Ulrich Geier. „Erheblichste Verletzungen“ hätten die Überfallenen davongetragen. „Der Tod wäre möglich gewesen.“ Er habe schon Fälle erlebt, wo bei geringerer Gewalt der Tod eingetreten sei, berichtet der Gerichtsmediziner.

Ein Fax ins Krankenhaus 

Das Eigenartige an dem Überfall von Dessau ist, dass die Stadt ihn nicht wahrhaben will – obwohl er bis aufs Haar einem Mord gleicht, der vor zehn Monaten sogar den Generalbundesanwalt auf den Plan rief. Im Juni 2000 hatten zwei Rechtsradikale mitten in der Stadt einen schwarzen Familienvater zu Tode geprügelt – weil er des Weges kam. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass so etwas in der freundlichen Stadt Dessau passieren kann.

Diesmal kann es sich wieder niemand vorstellen. Oberbürgermeister Hans- Georg Otto erklärte umgehend, er habe sich doch erst mit rechten Jugendlichen getroffen, und die hätten beteuert, keiner von ihnen würde mit dem Vorsatz losziehen, jemandem Gewalt anzutun. Als Alberto Adriano erschlagen wurde, war es der Oberbürgermeister, der sagte, immerhin kämen die Täter nicht aus Dessau. Die Stadt tut auch diesmal etwas: Sie schickt den Opfern ein Fax ins Krankenhaus, der Überfall tue ihr leid. Sonst nichts. Auch die Staatsanwaltschaft betrachtet den Überfall offenbar als Lappalie. Die Polizei ermittelt wegen versuchten Mordes, die Staatsanwaltschaft aber spricht wenige Tage danach nur noch von gefährlicher Körperverletzung.

Inzwischen wird Ulrich Geier zum zweiten Mal operiert, ihm wird ein Ballon in die Wange implantiert, um den die Knochen angeordnet werden, die wieder zusammenwachsen sollen. Seinem Auge kann keiner helfen. Es bleibt fast blind. Martin Bauer war bewusstlos getreten worden. Während der Ohnmacht, so der Gerichtsmediziner, bestand Lebensgefahr für ihn. Seit der Tat traut er sich nicht mehr unter Menschen. Selbst für kurze Wege nimmt er das Auto. Und er drückt von innen die Verriegelung herunter. Martin Bauer ist 22, ein großer, schlaksiger junger Mann mit dunklen Locken. Zu dunkel für Dessau. Mit so etwas wirkt man fremd. Und Fremde sind potentielle Opfer. Deswegen rasiert er sich nun täglich. „Ich will nicht zu südländisch aussehen“, sagt er.

Die Opfer haben nach der Tat eine Stadt erlebt, die ihnen ein Gefühl tiefer Verlassenheit vermittelt. Als die Rechtsradikalen über die Spaziergänger herfielen, öffnete sich kein Fenster – obwohl Dutzende von Nachbarn in unmittelbarer Nähe ihre Schlafzimmer haben und die Schreie der Überfallenen hören mussten. Als die Polizei kam und die Schwerverletzten am Boden liegen sah, verlangte sie ihre Ausweise. Erst dann rief sie den Notarzt. Zwei Krankenwagen kamen, die Sanitäter packten die Ohnmächtigen auf die Bahren – den verletzten Dorn, vom Pitbull angefallen, mit gebrochenem Nasenbein, ließen sie auf der Straße stehen. Die Opfer wurden behandelt wie Raufbolde. „Der hat sich geprügelt“, hieß es im Krankenhaus, erzählt der schmale Ulrich Geier.

Die Staatsanwaltschaft sagte den Opfern zu, sie zu informieren, wenn die Schläger frei kämen – denn die wohnen in ihrer Nachbarschaft. Doch die Opfer erfahren es erst aus der Zeitung. Nach Aktenlage gab es nicht einmal einen Haftprüfungstermin – sonst eine Selbstverständlichkeit. Aber nichts scheint selbstverständlich in Dessau: Nicht einmal der schwer verletzte Geier wurde ausführlich untersucht. Erst einen Tag vor der Gerichtsverhandlung am Dienstag kümmerte sich ein Sachverständiger um ihn – der sah sich dann angesichts der kurzen Zeit außerstande, ein ausführliches Gutachten abzugeben. Und die Staatsanwältin findet das Amtsgericht angemessen für den Prozess, das als Höchststrafe nicht mehr als vier Jahre vergeben kann.

Drei Opfer leben da in Dessau, die offenbar als peinlich empfunden werden, deren Leiden am besten tot geschwiegen werden. Keine Notiz in der Lokalzeitung über den bevorstehenden Prozess. Kein Wort der Stadt, wie es den Opfern geht. Weil es ja doch eigentlich überhaupt keine rechte Gewalt in Dessau gibt. Da stören Opfer nur. Da redet man nicht drüber. „Irgendwie“, sagt Martin Bauer, „erwartet man doch was von der Stadt. Ich weiß nicht, was, aber irgendwas schon.“ Er zieht die Schultern hoch und seine Augen sehen noch dunkler aus. „Wenn ich tot gewesen wäre, hätten sie mir sicher einen Kranz aufs Grab geschmissen.“ Er hat überlebt – und keiner will es wissen.

Bauer und Geier machen eine Psychotherapie, um ihr seelisches Gleichgewicht wieder zu finden. Doch das finden sie nicht, solange die Tat als unpolitische Schlägerei zwischen Rechten und Linken abgetan wird, als Klopperei unter Jugendlichen, sagt John Greene, der Therapeut. Den Opfern werde unterstellt, sie seien irgendwie selber schuld daran, dass die Rechten sie überfallen hätten, sagt er. Dabei sind die Täter bekannte Rechtsradikale, die auf NPD-Demonstrationen mitlaufen. Der Haupttäter hat eine lange Vorstrafenliste. Und die Opfer sind ruhige Leute, keine politischen Spontis. „Die Stadt erkennt die Tat in ihrer Schwere nicht an“, sagt der Therapeut Greene. „Die Leute haben nicht reagiert, als Alberto Adriano ermordet wurde und sie reagieren wieder nicht. Damals sagten einige, sie wollten sich kein Urteil über die Tat erlauben – kein Urteil über den Mord an einem Menschen. Eigentlich hätten diesmal 30 Leute aus 20 Wohnungen stürmen müssen, um den Überfallenen zu helfen. Aber es gab keinen Mucks.“

Es hat Greene eine Menge Zeit und Einfühlungsvermögen gekostet, seine Patienten zu überzeugen, als Zeugen vor Gericht aufzutreten. Und die Opfer eine Menge Kraft. Am Vorabend bringt es Martin Bauer nicht über sich, am Tatort vorbeizugehen. Seine Hände sind feucht, er ist fahrig. Geier weiß noch Minuten vor dem Gerichtstermin nicht, ob es sich lohnt, die Mühe auf sich zu nehmen.

Die Angeklagten feixen 

Dann beginnt der Prozess. Und endlich fragt einer die Opfer. Nach ihren Gefühlen, nach ihren Verletzungen, nach den Schäden, die sie davon getragen haben. Es ist der Richter. Patrick Burow stellt die Fragen, die alle anderen nicht gestellt haben. „Haben Sie mal nachgeguckt, wie die Verletzten aussahen danach“, fragt er die Täter. Schweigen. „Hat Sie das interessiert?“ setzt er nach. Wieder Schweigen. Dafür lässt einer der Täter einen Entschuldigungsbrief an die Opfer verlesen. Ihr Schmerz tue ihm leid. Außerdem habe er sich beim Zusammenschlagen der Opfer den kleinen Finger gebrochen, der sei auch noch falsch zusammengewachsen. Der Richter lässt die Anwälte noch einmal die Fotos betrachten, die von den Opfern nach dem Überfall gemacht wurden. Die Anwälte ziehen laut die Luft ein und kehren schnell an ihre Plätze zurück. Die Angeklagten feixen.

Der Richter verkündet einen Beschluss. Das, was hier in Dessau passiert sei, sei nicht nur eine simple Schlägerei zwischen Linken und Rechten, wie die ganze Stadt und offenbar auch die Staatsanwaltschaft glauben machen wollen. „Die Tat geht weit darüber hinaus“, sagt Richter Burow und verweist die Tat an das Landgericht. Das kann weit über die vier Jahre Strafmaß hinausgehen, auf die Richter Burow beschränkt ist. Zumindest einer in Dessau hat erkannt, was niemand erkennen wollte. Einer hat die Opfer ernst genommen. Nach dem Beschluss rauscht die Staatsanwältin grußlos aus dem Gerichtssaal.

Nachtrag: Ulrich Geier und seine Freundin haben sich entschlossen, Dessau zu verlassen. An diesem Wochenende kommt der Möbelwagen. Auch Martin Bauer zieht um – sicherheitshalber. Ingo Dorn hat sich völlig zurückgezogen. Die Namen der Opfer wurden für diesen Bericht geändert, sie haben Angst.

© Süddeutsche Zeitung

haGalil onLine 04-04-2001

Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!

 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved