22 Jahre alt, schlaksig, dunkle
Locken – offenbar zu dunkel:
Ein Gefühl tiefer Verlassenheit
In
Dessau wurden drei junge Deutsche von
Rechtsradikalen schwer verletzt, doch in der Stadt scheinen die Opfer nur zu
stören
Von Annette Ramelsberger
Dessau,
im März – Es ist dieser Stiefel, der immer wieder vor seinen Augen erscheint.
Schwarz, schwer, mit vertrocknetem Kaugummi im Profil und einem eingetretenen
Zigarettenstummel. Der Stiefel kommt aus dem Dunkel auf ihn zu, auf sein Auge,
seine Stirn, seine Schläfe. Und er kommt immer wieder.
Tags, ganz plötzlich, wenn
Martin Bauer im Auto sitzt. Nachts, wenn er nicht schlafen kann. Auf der Straße,
wenn er ein Geräusch hinter sich hört. In der Wohnung, wenn er die Augen
schließt. Der Stiefel ist da. Seit jenem Tag.
Ulrich Geier hat die
Jalousien geschlossen – selbst bei Sonnenschein. Es könnte ja jemand über den
Balkon kommen. Abends geht er nicht mehr aus. Und tagsüber nur wie ein Gejagter.
Wie einer, der sich unsichtbar machen will, der sich an den Hauswänden entlang
schlängelt, in einer Art „Duck-Dich“-Haltung. Ulrich Geier hat zwei
Metallplatten im Kopf, sein Jochbein ist zertrümmert, sein Kieferbein gebrochen,
sein rechtes Auge hat nur noch 25 Prozent Sehkraft. Seit jenem Tag.
Ingo Dorn ist ganz blass.
Die Hände hat er wie zum Schutz in den Hosentaschen vergraben. Seine Stimme
kommt stockend, die Wörter kämpfen sich aus seiner Brust heraus. „Ich dachte,
die wollten uns umbringen“, sagt er. Es ist ein Flüstern. Ingo Dorn wurde von
einem Pitbull angefallen, von dem Hund über die Straße gezerrt, von
Springerstiefeln ins Gesicht getreten. Sein Nasenbein ist gebrochen. Seit jenem
Tag.
An jenem Tag, dem 30.Oktober
2000, vor gerade fünf Monaten, haben drei Rechtsradikale mitten in
Dessau (Sachsen-Anhalt), aus heiterem Himmel eine Gruppe Spaziergänger
überfallen, die nachts nach der Disco nach Hause gehen wollten. Sie hielten sie
mit einem Pitbull in Schach, traten und prügelten sie zu Boden – bis ein Auto
kam. Da flüchteten sie. „Hätte der Schlag den Geschädigten zwei Zentimeter höher
getroffen, wäre er tödlich gewesen“, sagt der medizinische Sachverständige über
den 38 Jahre alten Ulrich Geier. „Erheblichste Verletzungen“ hätten die
Überfallenen davongetragen. „Der Tod wäre möglich gewesen.“ Er habe schon Fälle
erlebt, wo bei geringerer Gewalt der Tod eingetreten sei, berichtet der
Gerichtsmediziner.
Ein Fax ins Krankenhaus
Das Eigenartige an dem
Überfall von Dessau ist, dass die Stadt ihn nicht
wahrhaben will – obwohl er bis aufs Haar einem Mord gleicht, der vor zehn
Monaten sogar den Generalbundesanwalt auf den Plan rief. Im Juni 2000 hatten
zwei Rechtsradikale mitten in der Stadt einen schwarzen Familienvater zu Tode
geprügelt – weil er des Weges kam. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass
so etwas in der freundlichen Stadt Dessau
passieren kann.
Diesmal kann es sich wieder
niemand vorstellen. Oberbürgermeister Hans- Georg Otto erklärte umgehend, er
habe sich doch erst mit rechten Jugendlichen getroffen, und die hätten beteuert,
keiner von ihnen würde mit dem Vorsatz losziehen, jemandem Gewalt anzutun. Als
Alberto Adriano erschlagen wurde, war es der Oberbürgermeister, der sagte,
immerhin kämen die Täter nicht aus Dessau. Die Stadt tut
auch diesmal etwas: Sie schickt den Opfern ein Fax ins Krankenhaus, der Überfall
tue ihr leid. Sonst nichts. Auch die Staatsanwaltschaft betrachtet den Überfall
offenbar als Lappalie. Die Polizei ermittelt wegen versuchten Mordes, die
Staatsanwaltschaft aber spricht wenige Tage danach nur noch von gefährlicher
Körperverletzung.
Inzwischen wird Ulrich Geier
zum zweiten Mal operiert, ihm wird ein Ballon in die Wange implantiert, um den
die Knochen angeordnet werden, die wieder zusammenwachsen sollen. Seinem Auge
kann keiner helfen. Es bleibt fast blind. Martin Bauer war bewusstlos getreten
worden. Während der Ohnmacht, so der Gerichtsmediziner, bestand Lebensgefahr für
ihn. Seit der Tat traut er sich nicht mehr unter Menschen. Selbst für kurze Wege
nimmt er das Auto. Und er drückt von innen die Verriegelung herunter. Martin
Bauer ist 22, ein großer, schlaksiger junger Mann mit dunklen Locken. Zu dunkel
für Dessau. Mit so etwas wirkt man fremd. Und Fremde sind
potentielle Opfer. Deswegen rasiert er sich nun täglich. „Ich will nicht zu
südländisch aussehen“, sagt er.
Die Opfer haben nach der Tat
eine Stadt erlebt, die ihnen ein Gefühl tiefer Verlassenheit vermittelt. Als die
Rechtsradikalen über die Spaziergänger herfielen, öffnete sich kein Fenster –
obwohl Dutzende von Nachbarn in unmittelbarer Nähe ihre Schlafzimmer haben und
die Schreie der Überfallenen hören mussten. Als die Polizei kam und die
Schwerverletzten am Boden liegen sah, verlangte sie ihre Ausweise. Erst dann
rief sie den Notarzt. Zwei Krankenwagen kamen, die Sanitäter packten die
Ohnmächtigen auf die Bahren – den verletzten Dorn, vom Pitbull angefallen, mit
gebrochenem Nasenbein, ließen sie auf der Straße stehen. Die Opfer wurden
behandelt wie Raufbolde. „Der hat sich geprügelt“, hieß es im Krankenhaus,
erzählt der schmale Ulrich Geier.
Die Staatsanwaltschaft sagte
den Opfern zu, sie zu informieren, wenn die Schläger frei kämen – denn die
wohnen in ihrer Nachbarschaft. Doch die Opfer erfahren es erst aus der Zeitung.
Nach Aktenlage gab es nicht einmal einen Haftprüfungstermin – sonst eine
Selbstverständlichkeit. Aber nichts scheint selbstverständlich in
Dessau: Nicht einmal der schwer verletzte Geier wurde ausführlich
untersucht. Erst einen Tag vor der Gerichtsverhandlung am Dienstag kümmerte sich
ein Sachverständiger um ihn – der sah sich dann angesichts der kurzen Zeit
außerstande, ein ausführliches Gutachten abzugeben. Und die Staatsanwältin
findet das Amtsgericht angemessen für den Prozess, das als Höchststrafe nicht
mehr als vier Jahre vergeben kann.
Drei Opfer leben da in
Dessau, die offenbar als peinlich empfunden werden, deren Leiden am
besten tot geschwiegen werden. Keine Notiz in der Lokalzeitung über den
bevorstehenden Prozess. Kein Wort der Stadt, wie es den Opfern geht. Weil es ja
doch eigentlich überhaupt keine rechte Gewalt in Dessau
gibt. Da stören Opfer nur. Da redet man nicht drüber. „Irgendwie“, sagt Martin
Bauer, „erwartet man doch was von der Stadt. Ich weiß nicht, was, aber irgendwas
schon.“ Er zieht die Schultern hoch und seine Augen sehen noch dunkler aus.
„Wenn ich tot gewesen wäre, hätten sie mir sicher einen Kranz aufs Grab
geschmissen.“ Er hat überlebt – und keiner will es wissen.
Bauer und Geier machen eine
Psychotherapie, um ihr seelisches Gleichgewicht wieder zu finden. Doch das
finden sie nicht, solange die Tat als unpolitische Schlägerei zwischen Rechten
und Linken abgetan wird, als Klopperei unter Jugendlichen, sagt John Greene, der
Therapeut. Den Opfern werde unterstellt, sie seien irgendwie selber schuld
daran, dass die Rechten sie überfallen hätten, sagt er. Dabei sind die Täter
bekannte Rechtsradikale, die auf NPD-Demonstrationen mitlaufen. Der Haupttäter
hat eine lange Vorstrafenliste. Und die Opfer sind ruhige Leute, keine
politischen Spontis. „Die Stadt erkennt die Tat in ihrer Schwere nicht an“, sagt
der Therapeut Greene. „Die Leute haben nicht reagiert, als Alberto Adriano
ermordet wurde und sie reagieren wieder nicht. Damals sagten einige, sie wollten
sich kein Urteil über die Tat erlauben – kein Urteil über den Mord an einem
Menschen. Eigentlich hätten diesmal 30 Leute aus 20 Wohnungen stürmen müssen, um
den Überfallenen zu helfen. Aber es gab keinen Mucks.“
Es hat Greene eine Menge
Zeit und Einfühlungsvermögen gekostet, seine Patienten zu überzeugen, als Zeugen
vor Gericht aufzutreten. Und die Opfer eine Menge Kraft. Am Vorabend bringt es
Martin Bauer nicht über sich, am Tatort vorbeizugehen. Seine Hände sind feucht,
er ist fahrig. Geier weiß noch Minuten vor dem Gerichtstermin nicht, ob es sich
lohnt, die Mühe auf sich zu nehmen.
Die Angeklagten feixen
Dann beginnt der Prozess.
Und endlich fragt einer die Opfer. Nach ihren Gefühlen, nach ihren Verletzungen,
nach den Schäden, die sie davon getragen haben. Es ist der Richter. Patrick
Burow stellt die Fragen, die alle anderen nicht gestellt haben. „Haben Sie mal
nachgeguckt, wie die Verletzten aussahen danach“, fragt er die Täter. Schweigen.
„Hat Sie das interessiert?“ setzt er nach. Wieder Schweigen. Dafür lässt einer
der Täter einen Entschuldigungsbrief an die Opfer verlesen. Ihr Schmerz tue ihm
leid. Außerdem habe er sich beim Zusammenschlagen der Opfer den kleinen Finger
gebrochen, der sei auch noch falsch zusammengewachsen. Der Richter lässt die
Anwälte noch einmal die Fotos betrachten, die von den Opfern nach dem Überfall
gemacht wurden. Die Anwälte ziehen laut die Luft ein und kehren schnell an ihre
Plätze zurück. Die Angeklagten feixen.
Der Richter verkündet einen
Beschluss. Das, was hier in Dessau
passiert sei, sei nicht nur eine simple Schlägerei zwischen Linken und Rechten,
wie die ganze Stadt und offenbar auch die Staatsanwaltschaft glauben machen
wollen. „Die Tat geht weit darüber hinaus“, sagt Richter Burow und verweist die
Tat an das Landgericht. Das kann weit über die vier Jahre Strafmaß hinausgehen,
auf die Richter Burow beschränkt ist. Zumindest einer in Dessau
hat erkannt, was niemand erkennen wollte. Einer hat die Opfer ernst genommen.
Nach dem Beschluss rauscht die Staatsanwältin grußlos aus dem Gerichtssaal.
Nachtrag: Ulrich Geier und
seine Freundin haben sich entschlossen, Dessau
zu verlassen. An diesem Wochenende kommt der Möbelwagen. Auch Martin Bauer zieht
um – sicherheitshalber. Ingo Dorn hat sich völlig zurückgezogen. Die Namen der
Opfer wurden für diesen Bericht geändert, sie haben Angst.
© Süddeutsche Zeitung
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04-04-2001
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