"Plötzlich
war alles fort, nichts war übrig, ich war allein,
verlassen. Jeder Tag war wie ein Jahr.
Wo habe ich gesündigt? Wo?
Bis heute verstehe ich nicht, was geschah, wie ich
übrigblieb, gerade ich?
Wie bin ich dem Schrecken entronnen?
Das einzige Gebot, das uns die Opfer hinterlassen haben, heißt
Rache, Rache, Rache!"
So wie Miriam Jahav, die diese Zeilen schrieb, dachten viele
Überlebende der Shoah.
Rache als Mittel, das den Schmerz zwar nicht aufheben, wohl aber
dämpfen und lindern kann. Viele dachten, daß sie nur deshalb die
Konzentrationslager überlebt hatten, um Rache für die ermordeten
Verwandten zu nehmen. Das Buch von Jim G. Tobias und Peter Zinke
berichtet von Juden und Jüdinnen, die diese Gedanken in die Tat
umgesetzt haben. Damit
erhellen die Autoren ein brisantes und bisher kaum erforschtes
Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Im Vorwort schreiben Tobias und
Zinke, daß ihnen während ihrer Arbeit vorgeworfen wurde, sie würden
mit diesem Thema dem Antisemitismus Vorschub leisten. Das Gegenteil
halten sie jedoch für richtig: "So zu tun, als hätten Juden und
Jüdinnen sich überhaupt nicht gegen ihre Vernichtung zur Wehr
gesetzt und an Nazis Vergeltung geübt, stützt das Vorurteil des
feigen und hilflosen Opfers." (S. 8 f.)
Tatsächlich gab es verschiedenste Rachepläne von
Holocaust-Überlebenden, von gezielten Aktionen gegen einzelne
NS-Täter bis zur Ausrottung ganzer Großstädte. Neben der Rache
spielte dabei auch die Furcht mit, daß die Judenvernichtung
Wiederholung finden könnte. Die zur Vergeltung entschlossenen Juden
sahen die Gefahr keineswegs gebannt, denn auch andere Völker waren
schließlich am Holocaust beteiligt.
Jim G. Tobias und Peter Zinke werteten für ihr Buch bislang
unbeachtete Dokumente aus und sprachen mit ehemaligen "Rächern". Sie
alle stehen heute ihren Aktionen kritisch gegenüber und sind vor
allem froh, daß geplante Aktionen gegen die Zivilbevölkerung nicht
durchgeführt wurden. Andererseits sind sie alle von der
Rechtmäßigkeit der Rache gegen einzelne Täter überzeugt.
Als Beispiel greifen die Autoren die Geschichte der Gruppe Nakam
(hebräisch für Rache) heraus. Deren Anführer war Abba Kovner, ein
Dichter und Partisanenführer. Kovner war wie viele andere bereits
vor dem Krieg zionistisch und wollte nach dem Krieg nach Palästina
gehen, aber nicht ohne zuvor Rache zu üben.
Kovner gehörte dem haSchomer haZair an, einer linken zionistischen
Jugendbewegung, und kämpfte während des Krieges in der
Widerstandsgruppe des Wilnaer Ghettos. Aus seinem berühmten Aufruf
von 1942 stammt der Ausspruch: "Lasst uns nicht wie Schafe zur
Schlachtbank gehen!" Diese Devise verfolgte er auch nach dem Krieg.
Um ihn formte sich aus ehemaligen Widerstandskämpfern die Gruppe
Nakam. Für die meisten Juden und Jüdinnen war zwar die Auswanderung
das wichtigste Ziel, aber kein anderes Gefühl der Überlebenden war
so stark wie die Rachegedanken.
Abba Kovner gab der Gruppe ihre Form und Richtung, er wollte
Racheaktionen im großen Stil und keine einzelnen Vergeltungsschläge
durchführen. Nakam operierte zunächst von Bukarest aus, wo Kovner
eine flammende Rede hielt, die die Vergiftung von Trinkwasser als
praktikabelste Möglichkeit betonte.
Die Gruppe nahm dann Kontakt zur Jüdischen Brigade auf, um sie für
die Aktionen zu gewinnen. Wenn sie auch auf die Unterstützung und
Sympathie einzelner Brigademitglieder bauen konnte, eine offizielle
Unterstützung von Seiten der Jüdischen Brigade gab es nicht. Schon
alleine in Hinblick auf die Gründung eines jüdischen Staates hielt
man es für wenig angebracht, derartige Rachefeldzüge zu
unterstützen. Die Jüdische Brigade folgte damit der offiziellen
Politik des Jischuws unter Führung von David Ben Gurion.
Kovner reiste daraufhin im Juli 1945 nach Palästina und traf dort
mit einigen Führern der Haganah zusammen. Doch auch dort konnte er
keine eindeutige Zustimmung gewinnen, denn auch hier gab es andere
Prioritäten. Einzelne Haganah-Mitglieder waren aber durchaus bereit,
Kovner zu unterstützen, wenn auch nicht für seinen Plan A, nämlich
die Vergiftung der Zivilbevölkerung in deutschen Großstädten,
sondern für den Plan B, Angriffe auf SS-Internierungslagern. Das
Gift dazu konnte er sich angeblich mit Hilfe eines recht berühmten
Chemikers beschaffen, nämlich durch Chaim Weizmann, den späteren
ersten Staatspräsidenten Israels. Er soll auch Geldgeber vermittelt
haben. Von Plan A wußte Weizmann jedoch angeblich nichts.
Kovners Reise scheiterte schließlich. Im Dezember begab er sich
zurück nach Europa, in Uniform und mit gefälschten Papieren an Bord
eines Schiffs der Jüdischen Brigade. Im Rucksack das Gift in Form
von Milchdosen. Doch Kovner wurde noch während der Reise verhaftet
und seine Kameraden schütteten das Gift ins Meer. Die Umstände sind
bis heute nicht geklärt, Kovner glaubte fest an einen Verrat, der
die geplanten Racheaktionen verhindern sollte.
Die Mitglieder von Nakam wurden trotzdem aktiv. Sie reisten bereits
im September nach Deutschland. Hamburg und Nürnberg wurden
ausgewählt, um die kommunale Wasserversorgung zu vergiften, in
Dachau und Weimar sollten SS-Internierungslager angegriffen werden.
Plan A mußte jedoch aufgegeben werden.
Plan B konnte zumindest in Nürnberg durchgeführt werden. Dort konnte
Nakam in einem SS-Internierungslager ca. 3000 Brote mit Arsen
bestreichen, das an die Gefangenen ausgeliefert wurde. Die Autoren
lassen Leipke Distel, den Anführer der Aktion ausführlich zu Wort
kommen. 1900 Lagerinsassen erkrankten, 38 davon schwer. Die Dosis
war aber zu schwach, um die Internierten zu töten.
Die Nakam-Aktivisten flohen nach Prag und von dort nach Palästina.
Ihr Schiff wurde von den Briten abgefangen, nach einiger Zeit in
einem Internierungslager bei Haifa wurden die Einwanderer aber
schließlich frei gelassen. Die Nakam-Mitglieder siedelten im Kibbuz
En haChodesch. Was sie
nicht wußten, die Haganah, die seit dem Scheitern von Plan A mit
Nakam kooperierte, hatte einen Spion in die Münchner Zentrale der
Gruppe eingeschleust, der überwachen sollte, daß es keine Toten gab.
Man wollte unter keinen Umständen die Staatsgründung gefährden oder
die guten Beziehungen zur amerikanischen Besatzungsmacht stören, die
bei der Ausreise von Juden behilflich war.
Dieser Doppelspion war Dov Shenkal, ein ehemaliges Mitglied der
Jüdischen Brigade und Haganah-Kämpfer. Er stellte sich der Gruppe
als Kurier zur Verfügung und beschaffte das Gift, das er so
verdünnen konnte, damit es keine Toten gab. Gegenüber Tobias und
Zinke äußerte er sich sehr bedrückt. Noch heute fühle er sich so,
als hätte er seine Kameraden verraten. Doch er saß zwischen den
Stühlen, konnte einerseits die Aktionen gut verstehen, hätte aber
andererseits niemals Angriffe auf die Zivilbevölkerung gebilligt.
Neben der Nakam-Gruppe beleuchten die Autoren auch andere Rächer,
darunter Soldaten der Jüdischen Brigade, und die Jagd auf Adolf
Eichmann. Der breitere Kontext wird durch Einschübe über NS-Täter
und die deutsche Justiz und die Fluchtwege der Nazis gewährt.
Die Nürnberger Justiz eröffnete 1999 ein Strafverfahren gegen zwei
der Rächer. Die Autoren mußten daher während den Arbeiten am Buch
ständig mit der Beschlagnahmung ihres Materials rechnen. Das
Verfahren wurde aber schließlich eingestellt.
Ein Glück, denn so konnte ein Buch entstehen, das eine
eindrucksvolle Darstellung der jüdischen Vergeltungsaktionen bietet,
die vor allem von der Betonung des Individuums lebt. Den Abschluß
bilden daher auch die Kurzzusammenfassungen der Begegnungen zwischen
den Autoren und den ehemaligen Kämpfern. Sie alle brachen ihr
Schweigen erst vor kurzem, um die Fragen der Enkel zu beantworten:
"Warum habt ihr euch eigentlich nicht an den Nazi-Mördern gerächt?"
Andrea Übelhack
haGalil onLine
14-03-2001
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