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Purim ist eines der
wenigen Feste im jüdischen Kalender, an dem Freude vorherrscht und
nicht die Trauer. Denn an Purim wird gefeiert, dass vor etwa 2500
Jahren die Juden im Persischen Exil auf wunderbare Weise gerettet
worden sind. König Ahasveros, so steht es im Buch Esther, war mit
einer Jüdin verheiratet, mit Esther, und wusste nicht, dass sie
Jüdin war.
Der mächtigste Mann an
seinem Hof, ein gewisser Haman, redete dem König ein, man müsse alle
Juden im Reich vernichten, weil sie nicht ihm, sondern nur ihrem
Gott wirklich ergeben seien. Ahasveros gab Haman freie Hand zum
Massenmord. Und in dieser bedrohlichen Situation gab sich Esther
ihrem Mann als Jüdin zu erkennen und flehte für ihr Volk – mit
Erfolg. Haman und seine gesamte Familie wurden aufgehängt, die Juden
im persischen Reich waren gerettet. Grund genug, sich auch
zweieinhalb Jahrtausende später noch zu freuen.
Das Wunder
Das Freudenfest Purim, das an
diesem Freitag gefeiert wurde, hat sich zu einer Art jüdischem
Karneval entwickelt: Früher verkleideten sich die Kinder als König
Ahasveros oder als Esther, sogar als Haman. Mittlerweile nutzen in
Israel auch die Erwachsenen die Gelegenheit, einmal so richtig auf
den Putz zu hauen und die Sau rauszulassen: Auf den Straßen sieht
man dunkelhäutige, behaarte Israelis, die als Frauen im Minirock und
mit Rouge auf den Wangen durch die Straßen und Bars laufen; die
Frauen in Tel Aviv sind an diesem Tag (und in der Nacht) mit noch
weniger Stoff auf ihrer Haut bekleidet als sonst schon und haben
sich grelle Farben ins Gesicht geschmiert. Lustig, schrill und
exzessiv geht es an Purim in Israel zu.
Das Wunder wiederholte sich
im Frühjahr 1991: Da endete der Golfkrieg ausgerechnet an Purim; und
die Scud-Angriffe auf Tel Aviv waren endlich wieder vorbei. Doch
inzwischen ist Purim nur noch ein Tag des Schreckens. Purim 1994:
Der jüdische Siedler Baruch Goldstein dringt in Hebron in eine
Moschee ein und erschießt 27 muslimische Gläubige. Purim 1996: Im
Herzen von Tel Aviv, im Dizengoff Center, jagt sich ein muslimischer
Terrorist mit einer Bombe selbst in die Luft und reißt 14 Israelis,
zum Teil maskierte Kinder, mit in den Tod. Seitdem ist Purim ein
Schreckenstag.
Purim 2001: Soeben hat Ariel
Sharon das Amt des Ministerpräsidenten übernommen. In Netanya
starben bei einem Anschlag kurz zuvor vier Menschen; mehr als 90
wurden verwundet. Die fundamentalistische „Hamas“ erklärt, dass sie
zehn weitere Selbstmord-Attentäter im Kernland Israels habe, die nur
auf ihre Marschbefehle warten. Die israelische Armee in den
besetzten Gebieten geht mit größter Härte vor, der Friedensprozess
ist am Ende, die Menschen haben Angst.
Die Zeichen
Auf den Straßen von Tel Aviv
jedoch: Verkleidete Jugendliche, die noch wilder als sonst
herumtollen – als könnten sie die Bedrohung durch wilde Feste, durch
Sex, Drogen und Alkohol bannen. Ein Tanz auf dem Vulkan. Alle
wissen: Purim ist auch so ein Tag, an dem jederzeit eine Bombe
irgendwo im Lande explodieren kann. Oder am nächsten Tag, oder am
übernächsten.
Die Menschen in Israel sind
von einem eigenartigen Fatalismus gepackt. Natürlich haben alle
Angst, natürlich halten alle die politische Situation für
unerträglich. Irgendetwas muss geschehen. Nur was? Das Land hat in
den Wahlen vor einem Monat eine klare Antwort gegeben. Keiner
zweifelt daran, dass Ariel Sharon genau der Mann ist, als den man
ihn seit Jahrzehnten kennt. Keiner zweifelt allerdings auch daran,
dass Arafat der Mann ist, als den man ihn ebenfalls seit Jahrzehnten
kennt.
Was das bedeutet, ist allen
klar: Es wird Krieg geben in Nahost. Jeder sieht die Schrift an der
Wand, jeder spricht darüber, jeder hat seine eigene Vorstellung
davon, was in den nächsten Wochen und Monaten dahin führen wird.
Einige wagen sogar zu prophezeien, wann der Tag X kommen wird: im
Sommer. Wahrscheinlich im Juni.
Es wird Krieg geben in
Israel. Alle wissen das, alle sehen, wie das Boot, in dem sie
sitzen, langsam dem Abgrund entgegenschwimmt. Doch niemanden scheint
dies zu stören. Den Taxifahrer ebensowenig wie den Arzt, den linken
Friedensaktivisten ebensowenig wie den rechten Hardliner. Als ob der
Krieg unausweichlich sei, ein gottgegebenes Schicksal, dem man nicht
entrinnen könne.
Müdigkeit hat die Menschen in
Israel erfasst und damit einhergehend diese gespenstische
Passivität, die manchmal fast wie eine Sehnsucht nach dem großen
Knall wirkt. Die Enttäuschung darüber, dass der Friedensprozess nur
als gescheitert betrachtet werden kann, ist so groß, dass jede
Hoffnung gestorben ist. Keiner weiß, wie das Palästinenserproblem zu
lösen wäre. Man hat alles versucht, man hat alles gegeben, so heißt
es im Land. Und was hat man dafür bekommen: noch mehr Terror.
Der große Knall
Die israelische Gesellschaft
ist am Ende. Der Fatalismus, mit dem die allernächste Zukunft
erwartet wird, ist aber nichts als die Sehnsucht danach, dass ein
Krieg endgültige Antworten geben könne auf die nun mehr als 100
Jahre existierenden Probleme mit den Arabern. Und so schlittert man
allmählich in das angeblich Unvermeidliche hinein. Jeder hat Angst
davor, doch alle zucken nur mit den Schultern. Man vertraut der
Stärke der eigenen Armee, aber irgendwie ist da doch der Gedanke,
die Explosion könne so heftig werden, für Araber und Israelis in
gleichem Maße, dass sie reinigende Kraft entfalten werde. Diese
Sehnsucht nach völliger Zerstörung, um das Neue im hellen Glanz
einer besseren Zukunft zu erschaffen, kennen Europäer bereits aus
dem 19. Jahrhundert. Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ist das
bekannteste künstlerische Zeugnis dieser „Apokatastasis ton panton“.
Wir kennen auch die Konsequenzen. Im 20. Jahrhundert hat Europa viel
gelernt.
Nun also Nahost? Keine
Programmatik ist diesem Drama hier eingeschrieben, insofern gibt es
keine politische Ideologie, die auf den Untergang abzielte. Doch die
Untergangsstimmung ist ähnlich, ist dem europäischen Beobachter
allzu vertraut.
Purim 2001 – es ist wahrlich
kein Freudenfest. An Purim 2002 mag hier keiner denken. Darum wird
hier und heute erst Recht gefeiert. Auf den Straßen in Strapsen, mit
Perücken und greller Schminke. Vielleicht ein letztes Mal. Wer weiß
das schon. RICHARD CHAIM SCHNEIDER
haGalil onLine
14-04-2001
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