Durch Israels Gesellschaft ziehen sich Gräben und Mauern. Sie
besteht aus lauter Minderheiten, für die alle andern stets Feinde
sind. Religiöser Fanatismus, ethnische Konflikte, politischer
Extremismus und die historisch unterschiedlichen Einwanderungswellen
nähren die verschiedenen Lagermentalitäten.
Alteingesessene versus neue
Einwanderer
Die 15-jährige Schülerin Schirit Bar-Am,
deren Familie seit drei Generationen in Israel lebt, will mit den jüdischen
Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion nichts zu tun haben. Eine
Freundschaft mit einem "von denen" kann sie sich nicht vorstellen. Schirit ist
nicht die Einzige mit dieser Einstellung. Zwei Drittel der israelischen Teenager
verachten das Segment, das immerhin zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmacht.
Das hat eine repräsentative Meinungsumfrage festgestellt.
In den neunziger Jahren sind eine Million
Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in ihre neue Heimat Israel eingewandert.
Doch heimisch geworden sind sie nicht. Die Mehrheit hat sich ökonomisch zwar gut
integriert und wesentlich zum Hightech-Aufschwung Israels beigetragen. In der
israelischen Gesellschaft sind die Russen aber ein Fremdkörper geblieben.
Zahlreiche Vorurteile erschweren ihnen die Integration. Die Frauen seien Huren
und die Männer Mafiosi oder Alkoholiker, erzählt man sich über sie.
Die israelische Gesellschaft zeigt kein
Interesse für die Kultur der Neuen. Der Erfolg des russischen Gescher-Theaters
in Tel Aviv ist lediglich die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Nicht bloss der Volksmund, sondern auch
staatliche Institutionen grenzen die Russen als exotisch und minderwertig aus.
Obwohl die Immigration der Russen offiziell begrüsst, gefördert und unterstützt
wird, weil sie den zionistischen Traum von der Sammlung der Diaspora erfüllen
hilft, und obwohl die ehemaligen Sowjetbürger gleich bei ihrer Ankunft die
vollwertige Mitgliedschaft des Staates Israel erhalten, geraten viele in
absurde, ja entwürdigende Situationen. Zivilrechtlich werden sie nicht als Juden
anerkannt. Deshalb würde sich jeder Rabbiner weigern, diese neuen Einwanderer zu
trauen oder sie auf einem jüdischen Friedhof zu beerdigen, selbst wenn sie als
Soldat der israelischen Armee gefallen sind.
Die massive Immigration hat zu russischen
Gettos in Israel geführt. Zum Teil in neu erstellten Barackensiedlungen weitab
der Zentren. Dort schaffen die Russen die Welt neu, die sie hinter sich gelassen
haben. Sie haben ihre eigenen Zeitungen, Radio- und Fernsehsender sowie
Buchhandlungen, führen ein kulturell-linguistisches Eigenleben. Abseits (und
unbemerkt) vom Mainstream ist eine russische Subkultur entstanden. "Einige der
kreativsten russischen Talente leben heute in Israel", sagt Anna Isakowa,
Beraterin von Ehud Barak für Einwanderungsfragen, "und niemand in Israel hat je
von ihnen gehört." Das Inseldasein stört viele Russen nicht. Sie halten die
israelische Kultur im Vergleich zu ihrer eigenen für minderwertig.
Statt in der israelischen Gesellschaft
aufzugehen, profilieren sie sich in der nationalen Politik mit eigenen Parteien,
die sich um ihre spezifischen Bedürfnisse kümmern. Erstaunlich rasch haben sie
in der Knesset Einzug gehalten und einflussreiche Ministerposten erlangt.
Die russischen Neu-Israelis können
inzwischen den Ausgang von Wahlen entscheiden. Deshalb lassen sowohl Ehud Barak
als auch Ariel Scharon ihre Kampagne auf Russisch übersetzen. Scharon hat
gegenüber Barak einen Vorteil: Er kann Russisch sprechen.
Die meisten Russen unterstützen das
nationalistische Lager. "Für uns Einwanderer sind drei Dinge wichtig", sagt
Schimon Katznelson, der aus Kiew stammt. "Man soll sein Haus nicht aufgeben, man
darf die Heimat nicht teilen und sein Gewissen nicht verraten." Aufgrund ihrer
Erziehung in der ehemaligen Sowjetunion begreifen die Neu-Israelis nicht, dass
Frieden Verzicht voraussetzt. Sie teilen die imperialistische Schule, die
Kompromisse ablehnt. Die vielen Nicht-Juden unter den russischen Einwanderern
wollen zudem durch ein besonders patriotisches und auch nationalistisches
Verhalten beweisen, "vollwertige" Israelis zu sein, vermutet der Soziologe Oz
Almog. Die alteingesessenen Israelis, behaupten die Russen, seien des Konflikts
mit den Palästinensern müde. Aber sie hätten noch Energie und würden nicht
nachgeben.
Aufgrund des Rückkehrgesetzes hat jeder,
der jüdische Grosseltern hat, Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft.
Nach jüdischem Religionsgesetz (Halacha) gilt hingegen nur derjenige als Jude,
der eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist.
Palästinensische versus jüdische Israelis
Die palästinensische Journalistin Amal
Schihada lebt eine paradoxe Situation. Sie besitzt einen israelischen Pass,
wohnt und arbeitet in ihrer Geburtsstadt Nazareth und spricht perfekt Hebräisch.
Doch als Israelin fühlt sie sich nicht. Sie sei Palästinenserin, sagt sie. Mit
der israelischen Nationalhymne, die vom "freien (jüdischen) Volk im eigenen
Land" schwärmt, kann sie sich als Araberin nicht identifizieren. Und dennoch
denkt sie nicht im Traum ans Auswandern.
Fast jeder fünfte Bürger Israels ist ein
Palästinenser. Formal ist die Minderheit den jüdischen Mitbürgern
gleichgestellt; sie besitzt die israelische Staatsbürgerschaft, ist im Parlament
vertreten und geniesst alle politischen Rechte. Doch von einer Koexistenz
gleichrangiger Bürger kann keine Rede sein. Juden und Araber leben nicht
miteinander, sondern nebeneinander, gleichsam in zwei Welten. Neunzig Prozent
der israelischen Araber wohnen in Dörfern oder in kleinen Städten, abgetrennt
von der jüdischen Bevölkerung. Nur acht Städte sind ethnisch durchmischt. Viele
palästinen-sische Israelis fristen ein Dasein wie in einem Drittweltland.
Dreissig Pro-zent der palästinensischen Bevölkerung leben in Armut, die
Säuglingssterblichkeit ist zweimal höher als im jüdischen Sektor, und die
Arbeits-losigkeit liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt. Die
palästinensischen Israelis werden an die Peripherie der israelischen
Gesellschaft gedrängt. Das zwingt sie, ihre palästinensische Identität zu
betonen.
Trotz der systematischen Benachteiligung
haben sich die palästinensischen Israelis stets loyal zum Staat verhalten - auch
vor zehn Jahren, als die Palästinenser in den besetzten Gebieten das israelische
Joch abschütteln wollten. Belohnt wurden sie für die Treue freilich nicht.
Israel versteht sich als jüdischer Staat und benachteiligt andersartige Ethnien.
Bis 1966 unterstanden die palästinensischen Dörfer und Städte der
Militärverwaltung, und die jüdischen Institutionen schlossen arabische Bürger
vom Aufbau des Staates aus.
Arabisch ist zwar eine offizielle
Landessprache, aber sie symbolisiert die Kultur des Feindes. Die jüdischen
Israelis begegnen ihren arabischen Mitbürgern mit Misstrauen, weil sie sich mit
dem palästinensischen Unabhängigkeitskampf in den besetzten Gebieten
identifizieren. Eine Mehrheit der jüdischen Israelis möchte ihre
palästinensischen Mitbürger loswerden. Jeder dritte Jude in Israel befürwortet
die Forderung, den israelischen Palästinensern das Stimmrecht zu entziehen.
Auch die Gerichte würden Araber
diskriminieren, behauptet der Poet und Chefredaktor der populären
palästinensischen Wochenzeitung "Kul al-Arab", Samih Al-Kasim. "Niemand gibt uns
das Gefühl, dass das auch unser Staat ist", doppel Nazir Mjalli nach, der für
die arabischsprachige Wochenzeitung "Al-Shark al Awsat" (Im Mittleren Osten)
über Probleme der palästinensischen Minderheit in Israel schreibt. Die
israelische Gesellschaft und der Staat bewegten sich rasch auf ein
Apartheidsystem zu, warnt der palästinensische Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara,
der seit Jahren von einem Staat aller Bürger träumt, in dem nicht zwischen Juden
und Nicht-Juden unterschieden wird.
Aus Protest gegen das brutale Vorgehen
der Polizei wollen die arabischen Israelis am 6. Februar die Wahlen
boykottieren. Es sei ihnen gleichgültig, ob Ehud Barak oder Ariel Scharon
gewählt wird - beide seien gleich schlimm. Doch die Stimmenthaltung falle ihnen
nicht leicht, meint Al-Kasim: "Mit dem Rückzug aus dem politischen System geben
wir den Kampf für den Frieden und für Gleichberechtigung auf." Und diese Freude,
sagt er, dürften sie der Rechten eigentlich nicht machen. Anderseits nimmt er
die Existenz des israelischen Regimes gelassen: "Die Wurzeln meiner Familie in
Paläs-tina sind 900 Jahre alt. Ob das Land von Israelis, Briten oder Eseln
regiert wird, ändert nichts an der Tatsache, dass es mein Land ist."
Linke versus Rechte
Die 31-jährige Moria Schlomot überlegt
kurz und sagt entschlossen: "Nein, mit einem Mann, der nationalistisch denkt,
möchte ich nicht befreundet sein, geschweige denn zusammenleben." Für die
Generalsekretärin der Friedensbewegung Peace Now offenbart sich in der
Einstellung zum Friedensprozess die Weltanschauung des Menschen. Wer die
Besatzung unterstützt und die Unterdrückung eines anderen Volkes gutheisst,
beweise rassistisches Denken, sagt die ehemalige Schauspielerin. Das habe über
die Politik hinaus Konsequenzen.
Schlomot plädiert für Gleichberechtigung
und versucht, den Nachbarn zu verstehen. Diese Denkweise kann in Israel Familien
spalten und Freundschaften auseinander bringen. So besucht zum Beispiel ein
überzeugter Anhänger des Friedens niemanden, der im besetzten Gebiet lebt, weil
er der widerrechtlichen Aneignung des palästinensischen Bodens keine Legitimität
geben will. Der Friedensbewegung ist ein kleines Israel, dasmit den Arabern in
einem harmonischen Verhältnis steht, lieber als ein "Gross-Israel", das sich
ständig im Kriegszustand befindet.
Bei den politischen Gegnern hat der
jüngste Palästinenseraufstand freilich genau das Gegenteil bewirkt. Die Rechte
fürchtet jetzt erst recht um Israels Existenz und will die besetzten Gebiete
nicht aufgeben. Die Nachbarn sollen mit Gewalt beherrscht werden. "Lasst die
Armee siegen", lautet einer der Likud-Slogans, mit denen Ariel Scharon seine
Politik beschreibt.
Die Gegensätze zwischen links und rechts
beschränken sich nicht auf die Diskussionen von Feldzugstrategien. Sie wirken
sich auch auf das Verständnis für Israels Identität aus. Dem Friedenslager
schwebt ein "normales" Land mit international anerkannten Grenzen vor. Das
Inseldenken soll durch regionale Überlegungen abgelöst werden. Die Ideologen der
Friedensbewegung werden von säkularen Pragmatikern unterstützt. Sie haben
begriffen, dass sich eine Konsumgesellschaft keine andauernde Besatzung leisten
kann. Nachdem die Israelis seit dem Beginn des Friedensprozesses relativ ruhige
und sichere Jahre erlebt haben, sind sie nicht mehr bereit, den Preis für eine
Neuauflage des Konflikts zu zahlen. Die Rechte hingegen glaubt nicht an
Normalität, und sie will auch keinen "normalen" Staat. Sie wird dabei von
national-religiösen Kreisen unterstützt. Fortschritte im Friedensprozess würden
zu einer zunehmenden Säkularisierung der israelischen Gesellschaft führen,
befürchten sie. Eine auf Konsum gedrillte Hightech-Gesellschaft kümmere sich
nicht um die Anliegen der Religiösen und der Siedler.
Nicht nur ideologische Mauern erschweren
die innerisraelische Verständigung über die Aussenpolitik. Der bereits fünf
Jahrzehnte dauernde Ausnahmezustand des Landes hat bei vielen ein
posttraumatisches Symptom ausgelöst, sagt der Tel Aviver Theaterautor Motti
Lerner. Die Rechte hat die damit einhergehenden emotionalen Reaktionen so weit
verinnerlicht, dass sie sich förmlich daran klammert. Die Linke hingegen will
diesen kollektiven Schock überwinden. Dabei ist sie jedoch in der Minderheit,
wenn man einer repräsentativen Meinungsumfrage der Universität Tel Aviv glauben
darf, die im vergangenen Monat publiziert worden ist. Die Al-Aksa-Intifada habe
die Chancen für einen Frieden reduziert, heisst es dort. Das Friedenslager wird
künftig noch mehr Mühe haben als bisher, eine Mehrheit von der Richtigkeit
seiner Politik zu überzeugen.
Pierre Heumann
Weltwoche, Ausgabe Nr. 5/01 vom 1.2.2001
Zu Teil
1, Zu Teil 2
haGalil onLine
16-03-2001
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